Armut darf nicht entpolitisiert werden
Als Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, im Herbst 2016 sein Buch "Armut in Deutschland" vorstellte, erhielt er überwiegend positive Kritik. Zu Recht: Cremer liefert mit seinem Buch eine kenntnisreiche, umfassende und differenzierte Analyse des deutschen Sozialstaats und der aktuellen sozialpolitischen Herausforderungen. Zugleich leistet er einen wichtigen Beitrag zur Qualifizierung der Armutsdiskussion, indem er einige Fehlannahmen korrigiert, die in der aktuellen Diskussion häufig als Fakten angeführt werden: So widerlegt er beispielsweise die Behauptung von der stetig steigenden Armuts(risiko)quote und vom Schrumpfen der gesellschaftlichen Mitte. Manche(n) Diskussionsteilnehmer(in) dürfte Cremer herausfordern, wenn er etwa die positiven Effekte der Grundsicherung für Arbeitssuchende beschreibt, wird doch Hartz IV in der Armutsdiskussion oft als Wurzel allen sozialstaatlichen Übels beschworen. Gegen derartige Vereinfachungen, vor allem aber gegen Skandalisierung und Empörung wendet sich Cremer mit seinem Buch. Hierfür kritisiert er nicht zuletzt die freie Wohlfahrtspflege - und damit auch die Caritas.
In der Caritas haben Cremers Positionen, die er bereits im Frühjahr 2015 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angerissen hat,1 mindestens zu Verunsicherung geführt. Manche warfen dem Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes gar vor, er verharmlose Armut. Diese Kritik geht zu weit: Bei all seiner Überzeugung von der Leistungsfähigkeit des deutschen Sozialstaats übt Cremer auch Kritik an diesem. Seine Positionen sind in ihrer Differenziertheit allerdings schwerer öffentlichkeitswirksam zu vermarkten als etwa die Behauptung, die Zahl der von Armut bedrohten und betroffenen Menschen steige stetig. Hieraus mag sich die Verunsicherung innerhalb der Caritas zu einem Teil erklären. Sie dürfte jedoch auch daher rühren, dass Cremer in grundlegenden Fragen der Armutsforschung zu Unschärfen neigt.
Die eine Unschärfe betrifft das Konzept relativer Armut. Nach dem relativen Armutskonzept sind Menschen von Armut bedroht oder betroffen, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Cremer kritisiert an einem "rigiden" Verständnis relativer Armut, "dass, solange die relative Verteilung der Einkommen unverändert bleibt, sich auch der Anteil der Armen nicht verändert - unabhängig vom Wohlstand einer Gesellschaft"2. Ein solches Verständnis laufe den "gängigen" Vorstellungen von einem Leben in Armut zuwider: "Die meisten Menschen dürften es für absurd halten, auf der Grundlage eines rigiden relativen Armutskonzepts zu behaupten, die Armut in Deutschland heute sei genauso hoch oder gar höher als in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg, als viele Menschen Hunger litten und in Notquartieren wohnten."3
Unschärfen in der Position
Cremer unterlaufen an dieser Stelle zwei Fehler: Zum einen lässt sich die heutige (relative) Armut nicht mit der (absoluten) Armut der Nachkriegsjahre vergleichen. Zum anderen ist die Wohlstandsentwicklung für das rela-tive Armutskonzept irrelevant: Demnach be- schreibt Armut einen Mangel an Mitteln, der die Sicherung eines Lebensstandards verwehrt, der in einer Gesellschaft als Minimum definiert wird. Konstitutiv für dieses Konzept ist der historische Kontext: Weil der Lebensstandard einer Gesellschaft dem Wandel unterliegt, kann die Frage nach Armut(srisiko) sinnvollerweise nur im jeweils geltenden historischen Kontext beantwortet werden.4 Dass der Lebensstandard in Deutschland und auch die Kaufkraft der Menschen in prekären Einkommenssituationen in den zurückliegenden Jahrzehnten gestiegen sind, ist erfreulich. Dennoch war 2015 jede(r) sechste Bürger(in) von Armut bedroht oder betroffen und damit an der Erreichung des Lebensstandards gehindert, der in unserer Gesellschaft als Minimum definiert wird.
Die andere Unschärfe betrifft Cremers Ausführungen zu Armut und Armutsrisiko. Zu Recht verweist Cremer darauf, dass die Einkommensschwelle von 60 Prozent des mittleren Einkommens, die dem relativen Armutskonzept zugrunde liegt, eine Schwelle des Armutsrisikos darstellt und folglich nicht die tatsächliche Armutsbetroffenheit abbildet. Wann aber ist ein Mensch als arm zu bezeichnen? Bis vor rund 15 Jahren war diese Frage einfach zu beantworten: Wer über weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens verfügte, galt als arm. Diese Armutsschwelle wurde dann - wissenschaftlich, politisch und infolgedessen auch in der medialen Aufbereitung - von der heutigen Armutsrisikoschwelle abgelöst, die bei 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt.5 Damit ist es schwieriger geworden, Armut zu thematisieren, weil nicht mehr die tatsächliche, sondern nur mehr die potenzielle Armutsbetroffenheit definiert und erhoben wird - eine Schwierigkeit, vor der auch die Caritas steht.
Welche Definition von Armut liegt zugrunde?
So richtig Cremers Kritik an der Gleichsetzung von Armutsrisiko und Armut ist, so problematisch sind die Schlüsse, die er daraus zieht: "Die Differenzierung zwischen Armutsrisiko und Armut ist notwendig, wenn man der Realität gerecht werden will. So gibt es Menschen, die einige Zeit lang von einem verfügbaren Einkommen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle leben und damit keine ernsthaften Probleme haben."6 Dem kann zunächst entgegengehalten werden, dass es ebenso Menschen gibt, die dauerhaft über ein Einkommen oberhalb der Armutsrisikoschwelle verfügen und trotzdem ernsthafte Probleme haben - zum Beispiel Familien mit durchschnittlichen Einkommen, die in München, Hamburg oder Düsseldorf keine bezahlbare Wohnung finden. Cremers Schlussfolgerungen zielen jedoch in die entgegengesetzte Richtung: Ob ein Mensch nicht nur von Armut bedroht, sondern tatsächlich betroffen sei, müsse erst geprüft werden.7 Diese Annahme aber läuft einer konzeptionellen Grundlegung der Armutsforschung zuwider: Die Definition von Armut ist - wie alle Definitionen sozialer Probleme - gesellschaftspolitischer Natur. Damit eine soziale Gegebenheit als soziales Problem definiert wird, braucht es einen mehrheitsfähigen gesellschaftlichen und politischen Konsens hierüber. In der Armutsforschung wird das Unterschreiten von 60 Prozent des mittleren Einkommens als problematisch definiert. Auch wenn hiermit "nur" eine potenzielle (und nicht zwingend tatsächliche) Armutsbetroffenheit beziffert wird, so ist es doch allein schon das Risiko, in Armut leben zu müssen, das als sozial problematisch definiert wird. Der Vorschlag, Armutsrisiken auf tatsächliche Betroffenheiten hin zu überprüfen, schwächt den gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Armut ein soziales Problem ist. Darüber hinaus birgt eine solche Prüfung die Gefahr, dass Armut nur noch als gruppenspezifisches (in aller Konsequenz gar individuelles) Problem reflektiert wird. Zwar ist es zweifelsohne richtig, spezifische Gruppen, die von Armut bedroht oder betroffen sind, in den Blick zu nehmen, um für diese zielgerichtet Sozialpolitik betreiben zu können. Und doch ist Armut weit mehr als ein Problem bestimmter gesellschaftlicher Gruppen: Armut ist zuallererst ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Die Frage nach der Gerechtigkeit
Cremers Warnung vor einer Skandalisierung von Armut durch nicht hinterlegte Annahmen ist richtig und wichtig, will sich die freie Wohlfahrtspflege nicht unglaubwürdig machen und den gesellschaftlichen Konsens über Armut als soziales Problem gefährden. Und auch wenn der Vorwurf, Cremer wolle Armut verharmlosen, nicht gerechtfertigt ist, neigt er doch zu einem problematisch entpolitisierten Armutsverständnis. Ein solches Verständnis birgt die Gefahr, Armut nur unscharf problematisieren zu können. Als gesellschaftspolitische Akteurin, Solidaritätsstifterin und Anwältin von Armut bedrohter und betroffener Menschen ist die Caritas jedoch gut beraten, die gesellschaftspolitische Dimension von Armut zu reflektieren und zu thematisieren. Als soziales Problem wirft Armut grundlegende Fragen auf: Was definieren wir als typischen Lebensstandard in unserer Gesellschaft, und wo setzen wir die Schwelle an, bei deren Unterschreiten wir Armut und soziale Ausgrenzung problematisieren müssen? Welches Maß an Ungleichheit in der Verteilung von Teilhaberechten und -chancen sind wir bereit hinzunehmen, und welches bewerten wir als inakzeptabel? Und wie stellen wir uns der Frage nach (Verteilungs-)Gerechtigkeit? Durch die vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann die Caritas ihr Profil als Anwältin und Solidaritätsstifterin schärfen, um die Teilhaberechte und -chancen der Menschen an den Rändern unserer Gesellschaft zu verbessern.
Anmerkungen
1. Vgl. Cremer, G.: Die tief zerklüftete Republik. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.4.2015, S. 6.
2. Cremer, G.: Armut in Deutschland. München, 2016, S. 16.
3. Ebd.
4. Vgl. Hauser, R.; Neumann, U.: Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Die sozialwissenschaftliche Thematisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 32, Opladen, 1992, S. 246.
5. Vgl. Hauser, R.: Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext - Der sozialstatistische Diskurs. In: Huster, E.-U.; Boeckh, J.; Mogge-Grotjahn, H. (Hrsg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. 2. Aufl., Wiesbaden, 2012, S. 136.
6. Cremer 2016, S. 47.
7. Vgl. Cremer 2016, S. 46.
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