Personenzentrierung: das Recht, selbst zu entscheiden
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist eng mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verbunden. Die Bundesregierung nimmt in der Gesetzesbegründung gleich zu Anfang ausführlich Bezug auf die Konvention und weist darauf hin, dass der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderung zum Ergebnis kam, dass Recht und Praxis der Eingliederungshilfe in Deutschland aus der menschenrechtlichen Perspektive der UN-BRK Defizite aufweisen. Der Ausschuss, dem die Begleitung und Überwachung der UN-BRK obliegt, hat Deutschland daher aufgefordert, "Menschen mit Behinderungen soziale Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die ihnen Inklusion, Selbstbestimmung und die Entscheidung, in der Gemeinschaft zu leben, ermöglichen."1
Im Zentrum der Konvention steht das Recht von Menschen mit Behinderung, gleichberechtigt mit anderen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der erste der in Art. 3 der Konvention aufgeführten Grundsätze des Übereinkommens ist "die Achtung der den Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit".
Das BTHG steht in besonders engem Zusammenhang zu Art. 26 (Habilitation und Rehabilitation) der Konvention. Art. 26 definiert Rehabilitation als "Teil der staatlichen Maßnahmen […], die behinderte Menschen in die Lage versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende Fähigkeiten, die volle Einbeziehung aller Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren."2 Auch hier haben Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zentrale Bedeutung.
Der Deutsche Bundestag hat mit der Verabschiedung des BTHG auch einem Entschließungsantrag stattgegeben, der das Verhältnis des BTHG zur UN-BRK zum Gegenstand hat. Der Deutsche Bundestag betont hier das Recht von Menschen mit Behinderung auf selbstbestimmte Lebensführung und macht klar, dass der Gesetzgeber erwartet, dass das mit dem BTHG geschaffene neue Recht in der konkreten Rechtsanwendung stets im Licht der UN-BRK umgesetzt wird.3
Der Bundestag bekräftigt damit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, das in den letzten Jahren herausgearbeitet hat, dass die UN-BRK bei der Auslegung von nationalen Gesetzen zu berücksichtigen ist.4 Wenn Interpretationsspielräume bestehen, ist danach immer der Auslegung der Vorzug zu geben, die die UN-BRK nahelegt.
Die Kernaussage der Behindertenrechtskonvention
Kein völkerrechtlicher Vertrag, der Menschenrechte zum Gegenstand hat, ist in Deutschland in so kurzer Zeit so bekannt geworden wie die UN-BRK.5 Dabei wird die Konvention in erster Linie mit dem Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf inklusive Bildung in Verbindung gebracht. Inklusion ist jedoch nur ein Aspekt gleichberechtigter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Im Zentrum der Konvention steht daher nicht das Prinzip der Inklusion, sondern der Anspruch von Menschen mit Behinderung auf gleichberechtigte Anerkennung als selbstbestimmte Gestalter(innen) ihrer Biografie. Das umfasst das Recht von Menschen mit Behinderung, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, wo und wie sie leben wollen. Dieses Recht ist nicht beschränkt auf Grundsatzentscheidungen wie zum Beispiel die Entscheidung, in welcher Einrichtung ich leben möchte. Es umfasst auch das Recht, die große Zahl der kleinen Entscheidungen selbstbestimmt zu treffen, die den Alltag bestimmen: Was tue ich heute Abend? Mit wem verbringe ich meinen Sonntag? Was esse ich zu Mittag? Wann gehe ich schlafen? Womit verbringe ich meinen Tag?
Von der Einrichtungs- zur Personenzentrierung
Der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderung hat in den oben genannten abschließenden Bemerkungen den "hohen Grad der Institutionalisierung [der Behindertenhilfe] und den Mangel an alternativen Wohnformen beziehungsweise einer geeigneten Infrastruktur"6 kritisiert. Diese Kritik reflektiert, dass teilstationäre und stationäre Einrichtungen mit einer starken Asymmetrie zwischen Klient(inn)en einerseits und Einrichtungsträgern andererseits einhergehen. Die Asymmetrie steht in einem ausgeprägten Spannungsverhältnis zum Recht auf selbstbestimmte Lebensführung, das im Zentrum der UN-BRK steht.
Der Gesetzgeber hat diese Kritik aufgenommen und mit dem BTHG "die Eingliederungshilfe von einer überwiegend einrichtungszentrierten zu einer personenzentrierten Leistung neu ausgerichtet".7 Die Bundesregierung weist in der Begründung des BTHG ausdrücklich darauf hin, dass die Personenzentrierung eine gemeinsame Aufgabe der Leistungsträger und der Leistungserbringer ist: Personenzentrierung verlangt, dass "die Leistungsberechtigten in allen Schritten der Leistungsgewährung und -erbringung ganzheitlich in den Blick genommen werden."8
Das BTHG hat das sozialleistungsrechtliche Dreiecksverhältnis, von dem die Eingliederungshilfe bislang geprägt ist, übernommen und modifiziert. Dabei wurde die Rechtsposition der Leistungserbringer durch die Schiedsstellenfähigkeit der Leistungsvereinbarungen nachhaltig gestärkt.9 Zugleich wurde das Prinzip der Personenzentrierung in das Leistungsvereinbarungsrecht integriert. Die Verantwortung für eine bedarfsdeckende und personenzentrierte Eingliederungshilfe liegt bei den Ländern10 und bei den Trägern der Eingliederungshilfe. Der Auftrag aus § 95 SGB IX neue Fassung (n.F.) verpflichtet die Träger der Eingliederungshilfe, "eine personenzentrierte Leistung […] sicherzustellen". Zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrages schließen sie Leistungsvereinbarungen mit Leistungserbringern ab. Dies ist die einzige Vorschrift der neuen Eingliederungshilfe, die den Begriff der Personenzentrierung ausdrücklich nennt. Das ist konsequent, denn die Verantwortung dafür, dass die gesetzlichen Aufgaben erfüllt werden, kann nur bei den Trägern der Eingliederungshilfe liegen.
Der Gesamtplan im Fokus
Die Träger können die Aufgabe allerdings nicht alleine erfüllen. Sie brauchen dazu die Leistungserbringer. Die Regelung des § 95 SGB IX n.F. betrifft das Rechtsverhältnis zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern. Die Berechtigten werden hier nur indirekt in den Blick genommen. Sie stehen jedoch im Zentrum des Gesamtplanverfahrens, das nicht als lediglich objektive Bedarfsermittlung missverstanden werden darf.
Der Gesamtplan hat nicht nur die Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, aus denen sich die Behinderung ergibt, sondern muss genauso die individuellen Vorstellungen und Perspektiven der Berechtigten aufgreifen. Er ist das Dokument, in dem die Kernbotschaft der UN-BRK - Menschen mit Behinderung sind Subjekte ihrer Biografie und ihres Alltags - im Einzelfall zu konkretisieren ist. Der Gesamtplan spielt also eine zentrale Rolle für die Umsetzung der UN-BRK in der Eingliederungshilfe. Um sicherzustellen, dass der Gesamtplan kein Papiertiger bleibt, hat der Gesetzgeber ihn mit einer verbindlichen Drittwirkung ausgestattet. Der Leistungserbringer ist künftig verpflichtet, seine Leistungen "unter Beachtung der Inhalte des Gesamtplans […] zu erbringen".11 Der Gesamtplan betrifft also nicht nur das Rechtsverhältnis zwischen den Leistungsträgern und den Berechtigten, sondern verpflichtet gleichzeitig die Leistungserbringer, nach Maßgabe seiner Inhalte zu handeln. Mit dem bisherigen System der pauschalen Leistungsvereinbarungen lässt sich das nicht in Einklang bringen. Denn der Auftrag, unter Beachtung des Gesamtplans zu handeln, kann eine nahezu unbegrenzte Leistungsverpflichtung bedeuten.12 Pauschale Leistungsvereinbarungen umfassen aber eine pauschale Vergütung, die den Möglichkeiten der Leistungserbringung ökonomische Grenzen setzt. Die Umsetzung der Personenzentrierung erfordert daher Leistungsvereinbarungen, die die Verpflichtung der Leistungserbringer begrenzen. Zugleich müssen jedoch alle Leistungen, die Berechtigte benötigen, zur Verfügung stehen. Das kann nur gelingen, wenn hinreichend klar definierte Leistungsmodule und Fachleistungsstunden vereinbart werden, auf deren Basis eine maßgeschneiderte Leistung, wie die Personenzentrierung sie erfordert, erst möglich wird. Daher ist es folgerichtig, dass der Gesetzgeber die Träger der Eingliederungshilfe durch den Sicherstellungsauftrag in § 95 SGB IX n.F. verpflichtet hat, die Personenzentrierung durch eine entsprechende Gestaltung von Leistungsvereinbarungen in die Praxis umzusetzen. Das neue Leistungsvereinbarungsrecht, das im achten Kapitel des zweiten Teils des SGB IX geregelt ist, tritt zum 1. Januar 2018 in Kraft. Die Umsetzung der UN-BRK in der Eingliederungshilfe kann jetzt beginnen.
Anmerkungen
1. Bundestagsdrucksache 18/9522, S. 1, Abschließende Bemerkungen des UN-Ausschusses zum ersten Staatenberichts Deutschlands in deutscher Übersetzung, 13. Mai 2015: Deutsches Institut für Menschenrechte, Kurzlink: http://bit.ly/2i44poG
2 .Welti, F. in: Welke, A. (Hrsg.): UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen. Berlin, 2012, Art. 25 und 26 Rn. 33.
3. Bundestagsdrucksache 18/10528, S. 1.
4. BVerfG, 14. Oktober 2004, 2 BvR 1481/04; BVerfG, 23. März 2011, 2 BvR 882/09; BVerfG, 24. März 2016, 1 BvR 2012/13, BVerfG, 26. Juli 2016, 1 BvL 8/15.
5. Institut für Demoskopie Allensbach: Gesellschaftliche Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V., 2014, Kurzlink: http://bit.ly/2hZVSTJ
6. UN-Ausschuss: Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, a.a.O., S. 10. Kurzlink: http://bit.ly/2i44poG
7. Bundestagsdrucksache 18/9522, S. 197.
8. Ebd.
9. Rosenow, R.: Änderungen im Leistungsvereinbarungsrecht der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz. RP-Reha 2016, S. 20.
10. § 94 Abs. 2 SGB IX n.F.
11. § 123 Abs. 4 SGB IX n.F.
12. Zur unbegrenzten Leistungsverpflichtung siehe Bundessozialgericht, Urteil vom 25. September 2014, B 8 SO 8/13 R.
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