Noch Luft nach oben
Um die Potenziale der Digitalisierung besser nutzen zu können, hat die Bundesregierung im Zeitraum von 2014 bis 2017 die sogenannte Digitale Agenda etabliert. Sie wollte damit notwendige Strukturen und Prozesse, wie etwa den Breitbandausbau, voranbringen. Ziele der Agenda liegen aber auch darin, die Zugänge und Teilhabe der Menschen im Hinblick auf neue Technologien zu fördern sowie die Modernisierung von Lebenswelten mitzugestalten. Im Bereich der Pflege wird erwartet, dass dabei insbesondere Potenziale bei der Unterstützung und Versorgung entstehen, Bürokratie abgebaut und die Effektivität von Dienstleistungen gesteigert wird. Auch Beiträge zur Milderung des Fachkräftemangels werden diskutiert. In Förderprogrammen wie "Mensch-Technik-Interaktion"1 des Bundesforschungsministeriums werden daher seit Jahren auch von der öffentlichen Hand viele Millionen Euro in die Erforschung von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien im Gesundheits- und Pflegewesen investiert. Die Erfolge indes sind bislang noch überschaubar. Lediglich einzelne Produkte und Dienstleistungen, wie zum Beispiel digitalisierte Dokumentationsprogramme oder die zielgruppenorientierte Kommunikation und Vernetzung ins Quartier über den Einsatz von Tablets und Smartphones, schaffen es bis in den Lebens- und Pflegealltag der Betroffenen. Eine flächendeckende und vor allen Dingen miteinander vernetzte Implementierung von digitalen Lösungen im Pflege- und Gesundheitsbereich ist aber noch nicht in Sicht.
Vor diesem Hintergrund verfolgte die jüngst vorgelegte Studie "ePflege - Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) für die Pflege" im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums das Ziel, sowohl die Potenziale als auch Umsetzungshemmnisse von digitalen Pflegelösungen und -dienstleistungen sowie von Versorgungsprozessen mit IT-Einsatz in der Pflege und in der sektorenübergreifenden Versorgung zu identifizieren.2 Unter IKT werden innovative Ansätze verstanden, bei denen digital miteinander vernetzte Informationsflüsse und -austausche sowie die optimierte Nutzung von relevanten Daten im Versorgungsprozess auch über Sektoren-, Institutions- und Professionsgrenzen hinweg funktionieren können.3
Experten-Befragung: Was halten Sie von IT in der Pflege?
In einem ersten Schritt von "ePflege" wurden der Status quo sowie Entwicklungsperspektiven für digitale Lösungen in der Pflege empirisch erhoben und analysiert. Dazu wurden rund 500 potenzielle Ansprechpartner(innen) aus dem Pflegebereich, so zum Beispiel aus der Pflegebildung, dem Management, der Berufspolitik, aus der Forschung und von Kostenträgern, bundesweit identifiziert. Aus diesem Feld beteiligten sich 63 Expert(inn)en an einer Onlinebefragung. Anschließend wurden einige der Teilnehmer(innen) telefonisch befragt, um - qualitativ vertieft - Informationen zu grundsätzlichen Einstellungen zum IKT-Einsatz in der Versorgung sowie zu Schnittstellenproblemen zwischen Sektoren und Disziplinen zu erhalten. Parallel dazu wurden 217 Projekte zur IKT analysiert, die in der Pflege im deutschsprachigen Raum erprobt wurden.
Darauf aufbauend schloss sich eine Anforderungsanalyse mittels einer Reihe von vier Workshops mit jeweils rund 20 Expert(inn)en aus Deutschland an. Dort ging es um Erfahrungen und Anforderungen bezüglich fördernder und hemmender Faktoren zum IKT-Einsatz aus Sicht von Leistungsempfänger(inne)n, pflegenden Angehörigen, professionellen Dienstleistern und Technikentwicklern. Schließlich wurden alle Ergebnisse und vorliegenden Anforderungen und erste Vorschläge mit Vertreter(inne)n aus Politik und Verbänden diskutiert.
Vernetzung steht kaum im Fokus
Die Ergebnisse der Studie belegen, dass bisherige Projekte ihr Hauptaugenmerk auf die Optimierung von Pflegedokumentationen sowie auf die Beratung und direkte Unterstützung von Leistungsempfänger(inne)n legen. Die Potenziale einer vernetzten Versorgung über Dienstleister-, Einrichtungs- oder Sektorengrenzen hinweg werden hingegen vernachlässigt. Es bestätigt sich, dass die Akteure durchaus positive Erwartungen an neue Technologien im Pflegealltag haben, zum Beispiel, dass die knappen Ressourcen damit effizienter eingesetzt werden können und vor allem, dass die Kooperation von Leistungsanbietern und Kostenträgern verbessert werden kann.
Zentrale Hemmnisse bei der Entwicklung und Verbreitung von IKT in der Pflege werden insbesondere in Vorbehalten und fehlenden Technikkompetenzen bei den professionellen Leistungserbringern sowie bei den Leistungsempfänger(inne)n gesehen. Auch Fragen der Datensicherheit tauchen immer wieder auf. Zudem gibt es eine Reihe von technischen und fachlichen Hürden bei der Entwicklung und Umsetzung eines digitalisierten Informationsaustausches einerseits zwischen Leistungsanbietern und andererseits zwischen ihnen und den Kostenträgern. So besteht die Herausforderung in der Vernetzung nicht nur in funktionierenden technischen Schnittstellen (Stichwort "Interoperabilität"), sondern auch in anschlussfähigen Fachsprachen und Haltungen (Stichwort "Interdisziplinarität").
Die mangelnde Akzeptanz bisheriger Entwicklungen beruht allerdings auch auf der Vernachlässigung von Alltagsbedingungen und Nutzerbedürfnissen in Projekten. Eine Ursache dafür ist, dass der größte Teil der Projekte bislang von Technikentwickler(inne)n geleitet wird, was die dominierende Technikperspektive erklärt. Ein weiteres Problem besteht darin, dass in der Regelversorgung bislang kaum Refinanzierungen von IKT-Lösungen vorgesehen sind. So werden beispielsweise Systeme mit Sensoren, die in Wohnungen von Senior(inn)en eingebaut werden und automatisch Hilflosigkeitssituationen erkennen können, heute noch nicht durch die Pflegeversicherung (§ 40 SGB XI "wohnumfeldverbessernde Maßnahmen") refinanziert. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass es kaum belastbare Erkenntnisse zur nachhaltigen Wirksamkeit solcher Technologien gibt. Letztlich ist dies auch eine Folge der Förderpolitik, die zu stark auf immer neuere Technologien und zu wenig auf die erfolgreiche Implementation beziehungsweise Evaluation bereits entwickelter Verfahren setzt. Als eine der Hauptursachen für die Hemmnisse gilt auch die fehlende Einbindung der Pflege in IKT-relevante Gremien und Organisationen der gesundheitlichen Selbstverwaltung.
Zusammenfassend weisen die Studienergebnisse auf verschiedene Handlungsbedarfe hin. So muss es zukünftig nicht nur um eine verbesserte Nutzer- und Alltagsorientierung gehen, sondern auch um die gelingende Vernetzung aller Akteure, die Verbreitung bereits funktionierender IKT-Lösungen, belastbare Wirksamkeitsnachweise neuer Technologien sowie um eine zukunftsorientierte Förderpolitik und Forschungsausrichtung. Als zukünftig wichtige miteinander verbundene Aufgabenfelder nennt "ePflege" daher die Aufwertung der Pflege-IKT im Gesundheitssystem, Strategien für die verbesserte Umsetzung von bereits entwickelten Lösungsansätzen sowie eine Optimierung der IKT-Infrastruktur für die Pflege.
Um Pflege-IKT im Gesundheitssystem zu stärken, empfehlen die Autor(inn)en der Studie, ein "Netzwerk IKT in der Pflege" und eine darin eingebettete "Initiative ePflege" zu etablieren. Damit sollen Organisationen und Akteure aus der Pflege mit IKT-Netzwerken im Gesundheitswesen systematisch verbunden werden. Eine "Geschäftsstelle ePflege" soll operativ dazu beitragen, die Mitgestaltung und Informationslagen im Pflege- und Gesundheitssystem zu verbessern.
Gezielte Strategien zur Verbreitung von IKT-Anwendungen im Kontext von Alter und Pflege sollen die Umsetzung bereits vorhandener IKT-Lösungen verbessern. Ziel ist beispielsweise, eine quartiersbezogene Vernetzung von Leistungsempfänger(inne)n, professionellen Dienstleistern und informellen Hilfestrukturen mittels Best-Practice-Beispielen aus dem IKT-Bereich aufzuzeigen, von denen es bereits einige gibt. Zur Förderung positiver Haltungen und grundlegender Kompetenzen wird zudem eine "Bildungsoffensive Digitalisierung in der Pflege" vorgeschlagen. Im Handlungsfeld "Technik- und Infrastrukturentwicklung" wird empfohlen, eine Ombudsperson etwa beim federführenden Ministerium einzusetzen.
Schlussendlich raten die Autor(inn)en einen Paradigmenwechsel an in der Entwicklung und Anwendung von digitalen Lösungen und neuen Technologien im Pflegealltag. Dabei geht es schlicht darum, dass sich nicht der Mensch an die neue Technologie anzupassen hat, sondern die Technologie an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen, die sie anwenden sollen. Das heißt, man muss auch in der Politik wegkommen von einseitig geförderten technikorientierten Ansätzen hin zu alltagsnahen, soziotechnologischen Entwicklungen für den Menschen. Dazu muss man auch bereit sein, bisherige Grenzen (etwa zwischen Professionen, Einrichtungen und Sektoren) gezielt und modellhaft zu überschreiten.
Anmerkungen
1. Vgl. www.technik-zum-menschen-bringen.de
2. Die Studie wurde von der Roland Berger GmbH, dem DIP (Professor Frank Weidner) sowie der PTHV (Professor Manfred Hülsken-Giesler) durchgeführt.
3. Der Begriff "Informations-und Kommunikationstechnologie" bezieht sich im Kontext der Studie auf IT-Systeme für die Pflegeplanung und -dokumentation, technische Assistenzsysteme, computergestützte Pflegehilfsmittel, Smart-Home-Systeme, Robotersysteme, E-Learning-Systeme und weitere Systeme, die die Informations- und Kommunikationsverarbeitung in der Pflege verbessern können.
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