Die Reha gehört ins sozialrechtliche Dreieck
Im April 2016 trat das neue Vergaberecht in Kraft; seitdem gilt für öffentliche Aufträge, deren Wert über 750.000 Euro liegt1, eine Sonderregelung (Sonderregime) für die Ausschreibung sozialer Dienstleistungen.2 Aber auch der Bereich unterhalb dieses Schwellenwerts, der in der Gesetzgebungskompetenz der Länder liegt, wird an die Regelungen im Oberschwellenbereich angepasst. Europäische Wettbewerbshüter sehen in der Vergabe ein Instrument, Fairness und Transparenz zwischen konkurrierenden Leistungsanbietern zu gewährleisten. Öffentliche Ausgaben für Waren und Dienstleistungen sollen so zudem stärker auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüft werden können. Leistungserbringer der Wohlfahrtsverbände sind verunsichert, inwieweit Leistungsträger nun berechtigt sind, bisherige Finanzierungsformen sozialer Dienstleistungen aufzugeben und eine Ausschreibungspraxis auch dort zu etablieren, wo sie nicht ausdrücklich im Sozialgesetzbuch vorgeschrieben ist.3 Für den Bereich der medizinischen Rehabilitationsleistungen hat der Deutsche Caritasverband (DCV) sich kürzlich positioniert.4
Ambulante und stationäre Leistungen der medizinischen Reha werden in der Praxis bisher nicht ausgeschrieben. Das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis wird hier überwiegend als die richtige Form der Leistungserbringung angesehen. Jedoch wird in Ansätzen in der Literatur diskutiert, ob das Vergaberecht angewendet werden könnte.5 Denn das Leistungserbringungsrecht der medizinischen Rehabilitation wird derzeit maßgeblich vom Vertragsrecht nach § 21 SGB IX (ab 1. Januar 2018: § 38 SGB IX)6 geprägt. Der Wortlaut ist nicht eindeutig und bietet Spielraum für Interpretationen. Die Neuregelungen im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) und in der Vergabeordnung (VgV) klären das Verhältnis zwischen Sozial- und Vergaberecht ebenfalls nicht.
Wann Vergaberecht angewendet wird
Soziale Dienstleistungen dürfen nur ausgeschrieben werden, wenn ein öffentlicher Auftrag vorliegt. Das ist der Fall, wenn zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Auftragnehmer ein gegenseitiger entgeltlicher Vertrag über die Leistungen geschlossen wird. Außerdem muss sich der Auftraggeber zwischen mehreren Wirtschaftsteilnehmern entscheiden.7 Wenn also der Auftraggeber ein Zulassungsverfahren ohne Selektivität durchführt, in dem alle interessierten und geeigneten Wirtschaftsteilnehmer einen Anspruch auf den Abschluss eines Vertrages haben, fehlt es an einem öffentlichen Auftrag.
Die Frage ist demnach, ob die Leistungserbringung in der medizinischen Rehabilitation als öffentlicher Auftrag zu charakterisieren ist. Das entscheidet sich nach den Vorgaben des Sozialrechts.
Das SGB IX enthält in den §§ 17 bis 21a SGB IX Vorschriften des Leistungserbringungsrechts, die für alle Rehabilitationsträger gelten, soweit sich aus den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichendes ergibt (§7 SGB IX).
Für die Rentenversicherungsträger wird die Gültigkeit des Leistungserbringungsrechts des SGB IX durch die Rückverweisung in § 15 Abs. 2 Satz 1 SGB VI explizit bestätigt.
Während im SGB VI kein eigenes Leistungserbringungsrecht für Leistungen der medizinischen Rehabilitation hinterlegt ist, hält das SGB V für die Krankenversicherungsträger eigene Regelungen vor (§ 111 SGB Vff.).
Die Rentenversicherungsträger sind verpflichtet, mit allen fachlich geeigneten und interessierten Kliniken und ambulanten Diensten, die nicht in ihrer Trägerschaft stehen, einen Vertrag nach § 21 SGB IX abzuschließen. Eine echte Bedarfsprüfung und die Ablehnung von Einrichtungen sind nicht zulässig. Das gilt ebenso für die Krankenversicherungsträger. Das Bundessozialgericht (BSG) nimmt hier, wenn die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, ebenfalls einen Abschlussanspruch an.8
Da folglich das Sozialgesetzbuch ein nicht selektives Verfahren vorschreibt, sind die Merkmale des öffentlichen Auftrags nicht erfüllt. Auch die europäische Vergaberichtlinie nimmt "einfache Zulassungssysteme" von der Anwendbarkeit des Vergaberechts aus.9
Wettbewerbsgrundsätze und Qualität der Leistung
Auch wenn die Vorschriften des Sozialgesetzbuches die Anwendbarkeit von Vergaberecht grundsätzlich ausschließen, so ist weiter zu prüfen, ob das Zulassungssystem die richtige Form der Leistungserbringung in der medizinischen Rehabilitation ist. Denn auch außerhalb von Vergabe müssen wettbewerbliche Grundsätze und die Qualität der Leistung gewährleistet sein.
Erfüllung von individuellen Rechtsansprüchen
Die Rentenversicherung erbringt gemäß § 9 Abs. 1 SGB VI Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (und andere Leistungen zur Teilhabe), wenn durch eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation Einschränkungen der Erwerbstätigkeit verhindert oder gemindert werden können. Es besteht also individueller Rechtsanspruch auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation.
Im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung handelt es sich ebenfalls um individuelle anspruchsgestützte Pflichtleistungen (ambulant und mobil § 40 Abs. 1 SGB V; stationär § 40 Abs. 2 SGB V; § 41 Abs. 1 SGB V).
Vertragspartner der Versorgungsverträge (§ 21 Abs. 1 SGB IX) sind die Rehabilitationsträger beziehungsweise ihre Spitzenverbände und die einzelnen Dienste und Einrichtungen beziehungsweise deren jeweilige Träger, die das Belegungsrisiko tragen. Mit dem Versorgungsvertrag wird die Eignung der Dienste und Einrichtungen festgestellt. Er kann die Qualitäten und Quantitäten der Inanspruchnahme im Einzelfall näher regeln. Die Trägervielfalt bietet dem Rehabilitationsträger die Grundlage, individuelle Bedarfe bestmöglich zu erfüllen.
Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten
Die Wünsche der Leistungsberechtigten sind bei der Erfüllung der Leistung zu berücksichtigen, insbesondere wenn diese Wünsche durch die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie und die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse bestimmt sind (§ 9 Abs. 1 S. 1 SGB IX).
Wettbewerb
Der Wettbewerb wird einerseits über das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten gesteuert und andererseits über Vorgaben im SGB IX. Das SGB IX verpflichtet die Rehabilitationsträger, nur jene Rehabilitationsdienste oder -einrichtungen auszuwählen, die die Leistung in der am besten geeigneten Form ausführen (§ 19 Abs. 4 SGB IX). Dabei sind die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, insbesondere angemessene Vergütungssätze, anzuwenden. Für die Krankenversicherungsträger ist das Wirtschaftlichkeitsgebot in § 12 SGB V geregelt.
Subsidiaritäts- und Diversifikationsprinzip ist gewahrt
Der zuständige Rehabilitationsträger kann Leistungen zur Teilhabe allein oder gemeinsam mit anderen Leistungsträgern, durch andere Leistungsträger oder unter Inanspruchnahme von geeigneten, insbesondere auch freien und gemeinnützigen oder privaten Rehabilitationsdiensten und Einrichtungen ausführen (§ 17 Abs. 1 und 2 SGB IX; ab 1. Januar 2018: § 28). Der Rehabilitationsträger bleibt für die Ausführung der Leistungen verantwortlich. Dabei wird die Vielfalt der Träger von Rehabilitationsdiensten und -einrichtungen gewahrt sowie deren Selbstständigkeit, Selbstverständnis und Unabhängigkeit beachtet (§ 2 Abs. 3 SGB V; § 19 Abs. 4 SGB IX).
Das Leistungserbringungsrecht der Rehabilitation und Teilhabe verhält sich damit "neutral" gegenüber verschiedenen Formen der Leistungserbringung und etabliert keine gesetzliche Vorrangstellung privater, öffentlicher oder freigemeinnütziger Leistungserbringer.
Sozialrechtliches Dreieck stärkt Subsidiaritätsprinzip
Das Finanzierungssystem der medizinischen Rehabilitation im SGB IX erfüllt eine qualitativ hochwertige, individuell angepasste Leistungserbringung. Die Vorschriften etablieren dafür Rechtsbeziehungen im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis, die das Subsidiaritätsprinzip stärken.
Durch das System der Zulassung aller geeigneten Einrichtungen und die Steuerung der Belegung über das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsberechtigten und die Eignung im Einzelfall findet ein sozialrechtlich regulierter Wettbewerb um Qualität und Wirtschaftlichkeit statt, der in einen kollektiven Ordnungsrahmen eingebunden ist. Zusammenfassend schließt der Rechts- und Vertragsrahmen nach Bewertung des DCV eine Leistungsbeschaffung im Wege der Vergabe grundsätzlich aus.
Auch aus fachlichen Erwägungen heraus hält die Caritas eine Einrichtungsauswahl im Wege standardisierter Ausschreibungsverfahren für die Zukunft nicht für sinnvoll. Die medizinische Rehabilitation setzt an individuellen Rehabedarfen und -fähigkeiten an und erfordert eine möglichst hohe Compliance der Patient(inn)en in den persönlich vereinbarten Zielsetzungen. Die Krankheitsbilder der Rehabilitation sind komplex und in hohem Maße auf den Einzelfall zugeschnitten und für Standardisierungen kaum geeignet. Aus fachlichen Gründen sieht die Caritas bei Ausschreibungsverfahren deshalb auch einen Verlust an notwendiger individueller Versorgungsqualität.
Anmerkungen
1. Sogenannter Oberschwellenbereich.
2. §§ 130 ff. GWB, 65ff. VGV.
3. Wie etwa § 16 Abs. 3a SGB II, § 45 Abs. 3 SGB III für Arbeitsmarktdienstleistungen.
4. Die "Position Vergaberecht in der medizinischen Rehabilitation" vom 28. Juni 2017 finden Sie unter: www.caritas.de/TTFGK.
5. Dafür Eichenhofer, E.: Das Rechtsverhältnis zwischen Rehabilitationsträger und Rehabilitationseinrichtungen. In: NZS 7/2002, S. 348, S. 350; dagegen Koop, T.: Die (Nicht-)Anwendbarkeit des neuen Vergaberechts auf Verträge nach § 21 SGB IX über die Erbringung von Rehabilitationsleistungen. In: NZS 3/2017, S. 103 ff.; Joussen, J.: Leistungsbestimmung und Vertragsgestaltung durch die Schlichtungsstelle Rehabilitation. In: SGb 2011, S. 73-79, S. 75.
6. Die durch das Bundesteilhabegesetz neu erlassenen gesetzlichen Regelungen treten sukzessive bis 1. Januar 2020 in Kraft. Auf die jeweils neue Regelung wird im Text nur einmal verwiesen, im weiteren Verlauf wird dann weiter die aktuelle Regelung genannt.
7. In einer richtungsweisenden Entscheidung des EuGH zum sogenannten "Open-House"-Modell bei Arzneimittelrabattverträgen (Urteil vom 2. Juni 2016, Rs.: C-410/14) bestätigt. Dazu auch Koop, T. in NZS 3/2017, S. 103, 104, m.w.N.
8. BSG, Urteil vom 23. Juli 2002 - B 3 KR 63/01 R.
9. Richtlinie 2014/24/EU über die öffentliche Auftragsvergabe; Erwägungsgründe 4 und 114; gemeint sind Zulassungssysteme, "in denen alle Wirtschaftsteilnehmer, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, zur Wahrnehmung einer bestimmten Aufgabe - ohne irgendeine Selektivität - berechtigt sind".
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