Weniger Pillen, mehr Lebensqualität
Die beiden Caritas-Alten- und Pflegeheime Friedheim in Regensburg und Marienheim in Schwandorf haben es gewagt, in der Pflege mit weniger Tabletten auszukommen. In einem Pilotprojekt überarbeiteten die Pflegenden gemeinsam mit den betreuenden Hausärzt(inn)en und Neurolog(inn)en die Medikamentenpläne der Heimbewohner(innen). Kritisch prüften sie die Dosierungen und überlegten: Welche Tabletten brauchen die Senior(inn)en wirklich? Welche Wirkstoffe haben in Kombination mit anderen eventuell schädliche Nebenwirkungen? Das Ergebnis: Die Dosierungen konnten bei vielen deutlich zurückgefahren und teils um die Hälfte reduziert werden.
Das Überarbeiten der Medikamentenpläne wurde durch das Projekt "Lebensqualität im Alter" der Caritas-Fachambulanz für Suchtprobleme in Regensburg angestoßen. Ziel ist es, den Medikamenten- und Alkoholkonsum älterer Menschen in den Blick zu nehmen und ein Hilfesystem für jene zu installieren, die mit den Folgen eines überhöhten Konsums zu kämpfen haben, oftmals unbewusst. Alkoholsucht ist dabei zumeist ein Randproblem, die Überdosierung von Medikamenten weit verbreitet. Doch ist Alkohol kombiniert mit Medikamenten bereits in geringen Mengen ein großes Risiko. Anfang 2015 wurden die Pflegekräfte in den beiden Seniorenheimen von der Suchtambulanz geschult, unterstützt von zwei Betroffenen und ehrenamtlich Aktiven. Die Pflegefachkräfte wurden für problematisches Konsumverhalten von Heimbewohner(inne)n sensibilisiert und bekamen Reaktionsmöglichkeiten aufgezeigt.
Der Mut, neue Wege zu beschreiten, hat sich gelohnt. Bald bemerkten die Pflegenden eine erstaunliche Veränderung im Heimleben. Manche Senior(inn)en hatten auf einmal richtig Appetit und wollten wieder selbstständig essen, andere machten beim gemeinsamen Basteln, Kochen oder Musizieren mit, ganz agil, nicht mehr apathisch. Die Pflegenden empfanden ebenfalls mehr Freude an ihrer täglichen Arbeit. Weniger Pillen bedeutete: mehr Lebensqualität für alle.
Die Caritas Fachambulanz in Regensburg hat seit Oktober 2013 ein Angebot für ältere Suchtkranke. Das Gesamtprojekt "Lebensqualität im Alter" ist in verschiedene Bereiche unterteilt: Einzelberatung, offener geleiteter Gesprächskreis und Kooperationsprojekte wie das beschriebene. Ein weiterer Grundbaustein ist das Verzahnen von Sucht- und Selbsthilfe. Ehrenamtliche Helfer(innen) vom Treffpunkt Seniorenbüro, den Selbsthilfegruppen des Kreuzbundes und den Anonymen Alkoholikern sind wichtige Partner und auch untereinander gut vernetzt. Gemeinsam wurde ein Konzept entwickelt und unter Trägerschaft der Caritas Regensburg dem Bezirk Oberpfalz vorgelegt. Dieser bewilligte das Projekt "Lebensqualität im Alter" mit acht Wochenstunden für drei Jahre. Die Entwicklung lässt sich in vier Phasen beschreiben.
Phase 1: Sich zeigen
Kaum einer kommt ganz freiwillig in die Fachambulanz, meist geht ein konkreter Anlass voraus. Bei älteren Menschen gestaltet es sich jedoch besonders schwierig, sie an ein Hilfsangebot heranzuführen. Die Hemmschwelle liegt höher als bei Jüngeren. Die Generation ist groß geworden nach dem Motto: Das mach’ ich mit mir selbst aus. Zudem fehlt häufig das Wissen darüber, dass es Hilfesysteme gibt. Die Ausgangsfrage lautete daher: Wie können ältere suchtkranke Menschen erreicht werden?
Das Angebot "Lebensqualität im Alter" wurde in sämtlichen Organisationen, Verbänden, Institutionen vorgestellt: der stationären Altenhilfe, den ambulanten Pflegediensten, den gerontopsychiatrischen Fachdiensten, den Seniorengruppen, in Krankenhäusern, aber auch bei Hausärzt(inn)en und Apotheker(inne)n. Insbesondere die Kontakte innerhalb der Caritas wurden anfangs intensiv genutzt und mit Heimleiter(inne)n und Pflegedienstleiter(inne)n über das Angebot gesprochen. Die Resonanz war positiv.
Phase 2: Sensibilisieren und vernetzen
Mit Bekanntwerden des Angebots nahm die Zahl der Beratungssuchenden zu. Schon bald wurde ein geleiteter Gesprächskreis für Betroffene angeboten, der sich seither 14-täglich in der Fachambulanz trifft. Die Nachfrage seitens der Altenhilfe erhöhte sich jedoch nicht. Die ersten Gespräche mit der Altenhilfe hatten gezeigt: Sucht im Alter ist ein Thema - es wird aber zu wenig gesehen. Folglich wurde eine Fortbildung für Altenpflegekräfte ausgearbeitet.
Einen entscheidenden Anstoß für den Erfolg des Projekts gab schließlich die enge Kooperation zwischen Suchthilfe und Altenhilfe innerhalb der Caritas Regensburg. Anfang 2015 wurde ein interdisziplinärer Arbeitskreis mit dem Untertitel "Suchtprobleme gemeinsam lösen" gebildet.
Im Zuge der Fortbildung wurden rund 200 Fachkräfte zweier ausgewählter Caritas-Alten- und Pflegeheime (Friedheim in Regensburg und Marienheim in Schwandorf) sowie zweier ambulanter Pflegedienste (Krankenpflegestation Sinzing und Krankenpflege St. Konrad und St. Georg in Schwabelweis) sensibilisiert. Die Teilnahme war für alle Mitarbeitenden der Einrichtungen verpflichtend. Ein solches Projekt gelingt nur, wenn die Verantwortlichen dahinterstehen, wenn sie selbst einen Gewinn für ihre Einrichtung oder ihren Dienst sehen. Es geht nicht darum, dass die Suchthilfe vorgibt, was zu tun ist, sondern darum, die Probleme gemeinsam mit den Hausärzt(inn)en, den Pflegenden, den Angehörigen und nicht zuletzt natürlich mit den Betroffenen selbst anzugehen.
Phase 3: Beobachten, reflektieren, Ideen umsetzen
Im Jahr 2015 wurde beobachtet, wie das Pilotprojekt in den beiden Alten- und Pflegeheimen sowie bei den ambulanten Pflegediensten ankam. Es zeigte sich, dass die Einflussnahme ambulanter Pflegedienste weitaus geringer ist als die von Seniorenheimen. Einerseits sind Erstere nicht immer mit der Medikamentengabe beauftragt und stehen daher kaum in Kontakt mit den Hausärzt(inn)en. Andererseits sind die Hausbesuche so kurz getaktet, dass sich sensible Themen kaum bereden lassen. Trotzdem sollten die Mitarbeitenden von ambulanten Pflegediensten entsprechend fortgebildet werden.
In den Alten- und Pflegeheimen hingegen sind die Pflegenden näher an den Senio-r(inn)en dran. In einer der Einrichtungen bemerkten die Pflegenden die Alkoholsucht eines Heimbewohners und begegneten ihr zunächst mit einer relativ simplen Maßnahme, um die Sturzgefahr zu reduzieren: Sobald er getrunken hatte und wackelig auf den Beinen war, gaben sie ihm eine Gehhilfe. Denn eines ist bei einer Alkoholsucht älterer Menschen zu bedenken: Sie sind womöglich bereits seit langem abhängig. Helfende müssen sich ehrlich fragen, was möglich ist. Zumeist geht man weg vom Abstinenzgedanken. Es geht darum, den Konsum zu reduzieren und zu kontrollieren - und schlimme Folgen wie Stürze zu vermeiden.
Eine schwere Alkoholsucht ist in Alten- und Pflegeheimen rein zahlenmäßig eher ein Randproblem, lautete das Fazit des Arbeitskreises. Weit verbreitet hingegen ist der überhöhte Konsum von Medikamenten. Das eingangs erwähnte Überarbeiten der Medikamentenpläne war eine Folge dieses Bewusstwerdens. Senior(inn)en, die seit Jahrzehnten Schlaf- und Beruhigungsmittel einnehmen, ohne die Dosis zu steigern, werden oft nicht ausreichend in den Blick genommen und fühlen sich selbst durch das Suchthilfeangebot auch nicht angesprochen. Es braucht daher eine differenzierte Wahrnehmung, ein differenziertes Angebot. Es geht nicht immer nur um Sucht, sondern um Lebensqualität im Alter - und das muss richtig kommuniziert werden. In den Heimen sollte es mehr alternative Angebote und Beschäftigungsmöglichkeiten geben, wenn Medikamente reduziert werden. So könnte vor allem abends Yoga, Aromatherapie oder ein Abendcafé mit Spielen stattfinden.
Aus den Erfahrungen wurden Standards für den Umgang mit zu Pflegenden aus dem stationären und ambulanten Bereich erarbeitet. Sie stehen heute in den Qualitätshandbüchern der Caritas-Altenhilfeeinrichtungen für die Diözese Regensburg. Die Pflegedienstleiter(innen) der geschulten Einrichtungen fungieren seither als Suchtansprechpartner und stehen in engem Kontakt mit der professionellen Suchthilfe. Die Pflegenden sind somit entlastet.
Phase 4: Gemeinsam in die Zukunft
Aus dem Projekt "Lebensqualität im Alter" ist mittlerweile ein Regelangebot geworden. Es gibt weiterhin Kooperationen mit Mitarbeitenden aus der Alten- und Gesundheitshilfe. Für eine Informationsveranstaltung über den Umgang mit Medikamenten konnten Referenten aus verschiedenen medizinischen Fachrichtungen gewonnen werden. Sucht im Alter wird heute weniger tabuisiert als noch vor fünf Jahren. Das Phänomen verlässt die Dunkelzone, das ist die gute Nachricht. Die Arbeit der Suchthilfe gemeinsam mit der Altenhilfe muss weitergehen.
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