„Warum sollen wir Frau M. nicht ihr Viertele lassen?“
Sucht im Alter - in der Regel geht es um Alkohol- und Medikamentenmissbrauch - ist weiter verbreitet als gemeinhin angenommen.1 Grund genug also für die Suchtberatung Freiburg, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Von 2010 bis 2013 beteiligte sich die vom AGJ-Fachverband für Prävention und Rehabilitation in der Erzdiözese Freiburg getragene Beratungsstelle an der Projektausschreibung "Sucht im Alter" der Baden-Württemberg-Stiftung. 2015 begann ein Folgeprojekt für weitere drei Jahre.
Zu Beginn des Projekts "ULA - Unabhängigkeit und Lebensqualität im Alter" fand das Thema Sucht im Alter in der Öffentlichkeit und Fachwelt nur wenig Beachtung. Die suchtspezifischen Behandlungsangebote wurden von Menschen 60?plus kaum in Anspruch genommen. Auch in der Suchtberatung Freiburg, einer psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle für Menschen mit Problemen vorwiegend im Bereich legaler Suchtmittel und für Angehörige, konnte man das beobachten. Das Folgeprojekt in der Suchtberatung Freiburg zielte darauf ab, die Situation Alkohol und Medikamente konsumierender Menschen 60?plus zu verbessern und diesen eine fachgerechte Beratung und Behandlung zu ermöglichen. Dazu wurden folgende Teilziele erarbeitet:
- Sensibilisierung der allgemeinen Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit (Suchthilfe, Altenhilfe, Medizin) zum Thema Sucht im Alter;
- Verbesserung der fachlichen Kompetenz von Fachkräften in der ambulanten und stationären Altenhilfe, der häuslichen Pflege und in Krankenhäusern bezüglich Suchterkrankung, Suchtentwicklung und deren Besonderheiten bei älteren Menschen;
- frühzeitiges Erkennen einer Gefährdung oder einer Suchtmittelproblematik sowie fachlich fundierte Frühinterventionen durch oben genannte Gruppen;
- Steigerung der Lebensqualität der Zielgruppe durch Unterstützung bei Konsumreduktion oder Abstinenz;
- Aufklärung und Information der Zielgruppe über Suchterkrankung und Suchtentwicklung;
- Sensibilisierung der Zielgruppe und der Angehörigen durch Informationsmaterialien und Vorträge in Altenbegegnungsstätten und Altenheimen;
- bessere Inanspruchnahme der Angebote der Suchthilfe durch die Zielgruppe;
- Aufbau einer geleiteten Gruppe für Menschen 60?plus und eines aufsuchenden Beratungsangebotes.
Öffentlichkeitsarbeit und Angebote für Zielgruppen
Wesentliche Bausteine, um das Projektziel zu erreichen, waren Öffentlichkeitsarbeit, Wissensvermittlung und die Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote.
Um die allgemeine Öffentlichkeit und die Fachöffentlichkeit auf das Thema Sucht im Alter aufmerksam zu machen, wurden Pressegespräche initiiert und Vorträge in einer Freiburger Altenbegegnungsstätte gehalten. Die Fachöffentlichkeit aus den Bereichen Altenhilfe, Suchthilfe und Medizin wurde über Gremien, Arbeits- und Fachgruppen, Workshops, Fachtage und Seminare (zum Beispiel für Krankenhaussozialdienste, Telefonseelsorge) erreicht. Mit diesen vielfältigen Aktivitäten gelang es, das Thema in der Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit zu platzieren.
Um entsprechendes Wissen an Altenhilfeeinrichtungen zu vermitteln, wurde ausgehend davon, dass Mitarbeiter(innen) der Altenhilfe mit riskant oder abhängig konsumierenden Menschen zu tun haben, Kontakt mit ambulanten und stationären Altenhilfeeinrichtungen und Pflegediensten in Freiburg und Umgebung aufgenommen. Zunächst wurde abgeklärt, ob und wie diese Thematik präsent ist, welche Probleme sie eventuell verursacht und ob Interesse an Schulungen besteht. Gab die Leitung "grünes Licht", wurden im nächsten Schritt die einzelnen Teams kontaktiert, um deren Erwartungen, Bedürfnisse und Vorstellungen für Fortbildungen zu besprechen.
Auf dieser Grundlage wurden Schulungen aus den folgenden Modulen entwickelt:
- Modul 1: Vortrag zum Thema Sucht im Alter, einmalig oder als Einstieg;
- Modul 2: Schulungen zum Thema Sucht im Alter, motivierende Gesprächsführung, Burnout-Prophylaxe (vier Termine zu je drei Stunden);
- Modul 3: einrichtungsübergreifender Ar- beitskreis für Teilnehmende der Schulungen (Vertiefung, Fallbesprechung, Entwicklung von Handlungsleitlinien).
Die Schulungen wurden mit den Mitarbeiter(inne)n von vier kirchlichen Sozialstationen durchgeführt. Viele Teilnehmer(innen) meldeten zurück, dass sie dadurch weit mehr Sicherheit im Umgang mit einer Suchtmittelproblematik erlangt hätten. Andere standen dem Thema auch nach den Schulungen noch eher ablehnend gegenüber, was sich in Äußerungen zeigte wie: "Das ist doch nicht unsere Aufgabe", "Warum sollen wir Frau M. nicht ihr Viertele lassen? Die hat doch sonst nichts mehr." Dass Alkoholkonsum im Alter durchaus Gefahren birgt, liegt daran, dass sich der Stoffwechsel mit dem Alter verlangsamt und so zu einer höheren und schnelleren Alkoholkonzentration im Blut führt. Zwischen Alkohol und Medikamenten kann es zudem zu schädlichen Wechselwirkungen kommen.
Das dritte Modul entwickelte sich nicht wie erhofft. Der Arbeitskreis fand zwar mehrmals statt, der zeitliche Aufwand, in die Beratungsstelle zu kommen, war jedoch längerfristig zu hoch. Deshalb wurde er nicht weitergeführt. Stattdessen gab es das Angebot, bei Fragen direkt die Beratungsstelle zu kontaktieren.
Konzepte zur Früherkennung
Um einer Suchtentwicklung möglichst früh entgegentreten zu können, wurden mit einem ambulanten Pflegedienst und einer Seniorenresidenz entsprechende Konzepte entwickelt und implementiert. Dazu gehören Leitlinien im Umgang mit Suchterkrankungen, der geregelte Einsatz von Screening-Fragebögen zum Alkohol- und Medikamentengebrauch bei allen Neukund(inn)en, regelmäßige Fallbesprechungen mit einem Mitarbeitenden der Suchtberatung und bei Bedarf gemeinsames Festlegen von Interventionen durch die Pflegekräfte vor Ort. Beide Einrichtungen gaben positives Feedback. Eine klare Haltung und ein Konzept im Umgang mit Sucht scheint die Mitarbeitenden zu entlasten.
Um betroffenen Menschen 60 plus eine Kontaktaufnahme zu einer fachgerechten Beratung zu erleichtern, wurden niedrigschwellige zielgruppenspezifische Angebote entwickelt: eine wöchentliche Telefonsprechstunde, eine monatliche Sprechstunde in einer Altenbegegnungsstätte, Vorträge in Bildungshäusern, ein wöchentliches Gruppenangebot ("ULA-Gruppe") für Betroffene sowie ein aufsuchender Besuchsdienst.
Die ULA-Gruppe als offene Gesprächs- und Motivationsgruppe bedarf keiner An- oder Abmeldung, keiner regelmäßigen Teilnahme und keines vorherigen Entzugs. Die einstündige Dauer und der Zeitpunkt am frühen Nachmittag sind den Bedürfnissen älterer Menschen angepasst.
Der Besuchsdienst möchte Menschen erreichen, die sich etwa wegen Schamgefühlen nicht an das Suchthilfesystem wenden oder aufgrund körperlicher Einschränkungen nicht in eine Beratungsstelle kommen können. Geschulte Ehrenamtliche mit eigener Suchterfahrung suchen Betroffene zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen auf. Auf diese Tätigkeit werden sie durch eine von der Beratungsstelle konzipierte Schulung mit acht Terminen vorbereitet. Mit diesem Hilfeangebot im Alltag und auf Augenhöhe wurde erhofft, mehr Ältere zu erreichen. Pflegedienste, Altenhilfe und Krankenhäuser können diesen Dienst ebenfalls anfragen.
Die Telefonsprechstunde und die Sprechstunde vor Ort wurden nur wenig nachgefragt und deshalb eingestellt. Die ULA-Gruppe kommt dagegen gut an: Im Schnitt kommen zehn Personen. Das Angebot hat sich so bewährt, dass mittlerweile in weiteren Suchtberatungsstellen der AGJ im Gebiet der Erzdiözese Freiburg solche Gruppen existieren.
Der Besuchsdienst wird noch aufgebaut. Wie sich dieses Angebot weiterentwickeln wird, lässt sich schwer einschätzen. Bislang erfolgt es ausschließlich in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern, einem ambulanten Pflegedienst und einer Seniorenresidenz. Für die bisherigen Einsätze gab es positive Rückmeldungen. Ob sich die Zielgruppe tatsächlich mit diesem Angebot erreichen und sich im Kontakt eine Veränderungsmotivation aufbauen lässt, wird sich noch erweisen. Für Herbst ist eine weitere Ausbildungsgruppe und die Zusammenarbeit mit zusätzlichen Kooperationspartnern geplant.
Medikamentenabhängige werden kaum erreicht
Durch die Projekte hat sich die Suchtberatung Freiburg eine Expertise zum Thema Sucht im Alter erarbeitet. Mit den Angeboten für die Fachöffentlichkeit konnte eine große Zahl an Multiplikator(inn)en außerhalb der Suchthilfe erreicht werden. Vorträge und Workshops werden nach wie vor angefragt. Es ist gelungen, das Thema in verschiedenen Fachgremien zu platzieren und die allgemeine Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren. Die Zahl der Älteren (im Durchschnitt 66 Jahre), die in die Beratung und Behandlung kommen, steigt stetig und das Gruppenangebot ist fest etabliert. Trotzdem lässt sich kritisch bemerken, dass der Anteil älterer Betroffener in der Suchthilfe nach wie vor nicht hoch ist und dass Medikamentenabhängige auch mit den neuen Angeboten kaum erreicht werden. Die Schulungsangebote allein reichen nach den Erfahrungen für eine nachhaltige Verankerung des Themas in der Altenhilfe nicht aus. Sie sollten in ein Konzept Sucht eingebettet sein.
Anmerkung
1. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen besteht bei 26,9 Prozent der Männer und 7,7 Prozent der Frauen über 60 ein riskanter Alkoholkonsum. Rund 1,5 Millionen Menschen sind abhängig von Medikamenten, zwei Drittel davon Frauen über 65 Jahren. Weitere Fakten siehe Beitrag S. 9 ff. in diesem Heft.
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