Neue Wege in der Pflege
Dienstag, 20. Januar 2015: Bei Katharina Frey, Angestellte einer bekannten Medienfirma in Berlin, klingelt das Telefon. Sicher einer ihrer Kunden ... Gedankenverloren meldet sie sich: "Medienfirma Kunterbunt, Frey am Apparat, was kann ich für Sie tun?" "Hier ist Ca-rolin Meyer, Gesundheitspflegerin am St. Ursula Krankenhaus in Lörrach. Ihre Mutter ist gestürzt, Oberschenkelhalsbruch. Sie bat mich, Sie anzurufen."
Du liebe Güte, Oberschenkelhalsbruch! Wird die 84-jährige Mutter jemals wieder so gesund werden, dass sie alleine in ihrer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock am Stadtrand von Lörrach leben können wird? - Katharina Frey ruft ihre Schwester in Kassel an. Sie verständigen sich darauf, dass Katharina Frey für zehn Tage Pflegeunterstützungsgeld bei der Pflegekasse ihrer Mutter beantragen und zu ihrer Mutter nach Lörrach reisen wird.
Eine Woche später steht sie am Bett ihrer kranken Mutter. Die Ärzte sind sehr zufrieden mit dem Heilungsverlauf, jedoch wird die alte Dame in Zukunft auf den Rollstuhl angewiesen sein. Die Gesundheitspflegerin erkundigt sich bei der Tochter nach den Wohnverhältnissen der Mutter. Zweiter Stock ohne Aufzug - alles andere als geeignet für einen älteren Menschen mit Behinderung.
Wäre die Geschichte wahr, würde wohl Folgendes passieren: Gemeinsam mit ihrer Schwester würde Katharina Frey nach einer Lösung suchen, die es ihrer Mutter trotz der räumlichen Distanz zu ihren Töchtern ermöglicht, in ihrer bisherigen Wohnung zu bleiben. Als Erstes würden sie (eventuell auf Anraten des Pflegepersonals im Krankenhaus) einen Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung stellen, ein Gutachter des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) würde den Grad der Pflegebedürftigkeit feststellen. Schnell würde die Familie erkennen, dass bei den derzeitigen baulichen Voraussetzungen und familiären Rahmenbedingungen ein Verbleiben der Mutter zu
Hause nicht möglich sei. Als beste Lösung würde die Familie wahrscheinlich nach einem vorübergehenden Aufenthalt in einer Kurzzeitpflege den Umzug in ein Pflegeheim ansehen - mit etwas Glück in eines, das sich im gewohnten Quartier befindet. Die Töchter würden sich darauf verständigen, möglichst häufig zu Besuch zu kommen und mit der Mutter wie gewohnt einen intensiven telefonischen Kontakt zu pflegen. Im Idealfall würden sich die Freunde der Mutter auch im Pflegeheim um diese kümmern und sie nun dort statt zu Hause besuchen.
Befindet sich jedoch kein passendes Pflegeheim im Quartier, würde der alten Dame ein Umzug in eine völlig neue Umgebung zugemutet. Sie würde aus ihren bestehenden Sozialkontakten herausgerissen, ganz entgegen ihrem ursprünglichen Wunsch, auch im hohen Alter noch daheim leben zu können.
Im Quartier entsteht eine sorgende Gemeinschaft
Dieses Szenario ist in Deutschland oft Realität, vor allem wenn Menschen plötzlich und unerwartet pflegebedürftig werden. Aber muss dies wirklich so sein? Gäbe es nicht Alternativen, die es älteren Menschen auch bei Pflegebedürftigkeit und räumlicher Trennung von der Verwandtschaft ermöglichen, im gewohnten Quartier selbstbestimmt alt zu werden? Eine Arbeitsgruppe des Deutschen Caritasverbandes1 hat sich dazu Gedanken gemacht. Um eine neue Sorgekultur zu etablieren, bedarf es zum einen Bürger(innen) eines Quartiers, welche ihre älteren Mitmenschen (auch im Stadium der Hilfe- beziehungsweise Pflegebedürftigkeit) als Teil der Gemeinschaft sehen. Zum anderen braucht es zum Beispiel eine Caritas vor Ort, die sich als Motor beziehungsweise Mitinitiatorin sozialer Veränderungen versteht. Wäre eine solche Sorgekultur in Lörrach bereits anzutreffen, so könnte diese fiktive Geschichte nach dem Krankenhausaufenthalt der alten Dame folgendermaßen weitergehen:
Bei der Stadt Lörrach wäre eine Be-ratungsstelle2 angesiedelt, zu der das
Pflegepersonal des Krankenhauses die Geschwister Frey schicken könnte. Die dortige Beraterin oder der Berater würde daraufhin gemeinsam mit den Schwestern der kranken Mutter einen Besuch abstatten, um den Hilfebedarf der alten Frau und ihre Vorstellungen und Wünsche, aber auch die der Angehörigen hinsichtlich der Problembewältigung festzustellen. Darüber hinaus würde sie sich nach den materiellen aber auch nach den sozialen Ressourcen wie beispielsweise Netzwerken der alten Frau erkundigen. Daraufhin würden alle gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, welche Hilfeleistungen über das Sozialversicherungssystem3 in Anspruch genommen werden könnten und welche Hilfe aus dem Sozialraum kommen könnte.
Ideal: ein bestehendes Netz aus verschiedenen Hilfen
Idealerweise könnte in Lörrach schon seit geraumer Zeit ein ausgeprägtes Hilfesystem existieren. Dies könnte aus Menschen, die beruflich in dem Bereich tätig sind (und Aufgaben übernehmen, für die man eine Ausbildung braucht) bestehen, und solchen, welche sich als Nachbar(inne)n, Bürger(innen), Angehörige oder Kirchenmitglieder in nicht beruflichen Zusammenhängen um ihre Mitbürger(innen) kümmern (und Aufgaben übernehmen, für die man nicht zwingend eine Ausbildung braucht). Dies könnte zum Beispiel eine Nachbarschaftshilfe sein, Bürgerbusse, Angebote wohnortnaher Einkaufsmöglichkeiten oder Begegnungsmöglichkeiten für Jung und Alt. Der Kreativität der einzelnen Stadtteile beziehungsweise Kommunen ist hier keine Grenze gesetzt. Aus diesem Angebot könnte Familie Frey das Passende für ihre Mutter auswählen. Mit einer zusätzlichen, gegebenenfalls baulichen, Anpassung der Wohnung könnte die alte Dame so in ihrer gewohnten Umgebung bleiben, auch ohne dass die Töchter ihren Wohnsitz in ihre alte Heimat zurückverlegen müssten.
Daraus ergibt sich noch eine dritte denkbare Variante: Bestünde in Lörrach schon lange ein funktionierendes Hilfesystem, das auf den Hilfemix von beruflichen und nicht beruflichen Beteiligten setzt, dann hätten sich im Idealfall die Geschwister Frey schon lange vor dem Unfall ihrer Mutter Gedanken gemacht, wie im Bedarfsfall deren Versorgung organisiert werden soll. Eventuell wäre ihre Mutter selbst aktiver Teil dieses Hilfesystems gewesen. Sie hätte die Beratungsstelle gekannt und wäre frühzeitig gemeinsam mit ihren Töchtern dort hingegangen. Eine Beraterin hätte kostenlos die bestehenden Möglichkeiten, orientiert an der Lebenswelt, der Lebenslage und an den Interessen der Mutter, aber auch ihrer Töchter eruiert. Dabei hätte der/die Berater(in) den Beratungsprozess so gestaltet, dass die Familie in der Lage wäre, die aktuelle Situation zu erfassen, eventuelle Probleme möglichst selbst zu definieren, ihre Ressourcen und Selbsthilfepotenziale zu erkennen, Wünsche und mögliche Ziele zu formulieren und zu verstehen, welche Ansprüche auf Unterstützung sie von welchem Leistungsträger haben. Im Bedarfsfall würde der/die Berater(in) die Familie bei Umsetzung beziehungsweise Beantragung der Hilfeleistungen unterstützen. Eventuell hätte so ein frühzeitiger Umzug in eine ebenerdige Wohnung im Quartier stattfinden, ein Kontakt zur Nachbarschaftshilfe schon im Vorfeld der Pflegebedürftigkeit aufgebaut oder Kontakte zu Menschen im Quartier intensiviert werden können.
Dabei wäre die Beratung für die Stadt keine Einbahnstraße. Vielmehr kann es zu einer Wechselwirkung kommen: Finden die unterstützungsbedürftigen Menschen und ihre Angehörigen vor Ort nicht das, was ihren Vorstellungen entspricht, bestünde die Möglichkeit, neue Unterstützungsmöglichkeiten selbst zu initiieren und Verbündete zu suchen. Die Mitarbeiter(innen) der Beratungsstelle übernähmen an dieser Stelle die Aufgabe, die möglichen Beteiligten zu begleiten, zu ermutigen und im Sinne des Empowerments zu aktivieren.
Gelänge es in unserer Gesellschaft, die Rahmenbedingungen für eine sorgende Gemeinschaft so zu gestalten, dass die beiden letztgenannten Szenarien Wirklichkeit werden könnten, dann entstünde idealerweise das, was sich die meisten älteren Menschen wünschen: Quartiere, die es ihnen ermöglichen, in ihrer vertrauten Umgebung auch im hohen Alter zu verweilen und bis zuletzt Teil einer gelebten sozialen Gemeinschaft zu sein.
Anmerkungen
1. Bestehend aus Kolleg(inn)en der Alten- und Behindertenhilfe der Diözesan-Caritasverbände (DiCVs) sowie der Fachverbände.
2. Diese hat im Idealfall keine eigenen Angebote von Unterstützung und bezieht Expert(inn)en in eigener Sache wie Betroffenenverbände, pflegende Angehörige, Seniorenvertretungen/-beiräte oder Seniorenorganisationen mit ein.
3. Bei den Leistungen muss es sich nicht zwangsläufig um Leistungen nach dem derzeitigen SGB XI handeln. Denkbar wäre auch ein Bundesteilhabegesetz, über welches Leistungen der Teilhabe auch von Menschen mit Pflegebedarf in Anspruch genommen werden können.
Mit Blick auf das Ganze
Arbeitshilfe 182: Maßstab für eine effiziente Bankenaufsicht
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