Wenn nur die Kirche im Dorf bleibt
Deutschland verändert sich. In zahlreichen ländlichen Regionen schrumpfen Dörfer und Gemeinden. Mit dem Bevölkerungsrückgang bilden sich auch die Infrastrukturen zurück. Von dieser Entwicklung sind viele Menschen betroffen: In Dörfern, Gemeinden und kleinen Städten leben rund 54 Prozent der Bevölkerung. Etwa 90 Prozent der Fläche Deutschlands zählt zum ländlichen Raum. Die Gründe für den Schwund liegen fast überall in Landflucht, im Strukturwandel und vor allem in der demografischen Entwicklung.1
Denn die Deutschen werden insgesamt älter. Seit 1972 sterben jedes Jahr mehr Menschen als geboren werden. Kamen im Jahr 1964 noch fast 1,4 Millionen Kinder zur Welt, waren es 2012 rund 670.000.
Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass Deutschland bis zum Jahr 2050 um zwölf Millionen Einwohner(innen) schrumpft.2 Parallel dazu ziehen immer mehr Menschen vom Land in die Stadt. Denn Jobs der sogenannten Wissensgesellschaft entstehen vor allem in urbanen Regionen und Großstädten. Neue Unternehmen siedeln sich dort an, wo bereits gute Strukturen vorhanden sind.
Aber Land ist nicht gleich Land: Angesichts unterschiedlicher Arbeitgeber und geografischer Lagen ist "der ländliche Raum" schwer zu definieren. Jede Region hat ihre eigenen Voraussetzungen. Zudem ist der Osten aufgrund der Teilung Deutschlands nur schwer mit dem Westen vergleichbar. Wer "das Land" im Jahr 2014 kennenlernen möchte, muss einen genauen Blick in die Regionen werfen.
Seit der Wiedervereinigung hat der Osten massiv an Einwohner(innen)n verloren: Seit 1990 haben rund zwei Millionen meist junge und gut ausgebildete Menschen die neuen Bundesländer in Richtung Westen verlassen.3
Ein Grund für diese Abwanderung ist der Strukturwandel in der Landwirtschaft. Waren früher die Dorfbewohner(innen) überwiegend auf den Feldern beschäftigt, macht die Agrarwirtschaft beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern mit der Forst- und Fischereiwirtschaft zwar noch einen Anteil von 3,4 Prozent an der Bruttowertschöpfung des Landes aus.4 Dieser bundesweite Spitzenwert wird dank fruchtbarer Böden erreicht, aber auch durch massive EU-Subventionierungen. Zudem benötigen die Landwirte aufgrund moderner Erntemaschinen immer weniger Mitarbeiter(innen). Auch weil sich in Mecklenburg-Vorpommern keine starke Wirtschaft aufbauen konnte, hat das Land im Nordosten die dritthöchste Arbeitslosenquote nach den Stadtstaaten Berlin und Bremen.5
Ohne Arbeitsplätze wird Mecklenburg-Vorpommern wie die anderen neuen Bundesländer weiter ausbluten. Bis zum Jahr 2025 sollen dort über 200.000 Menschen weniger leben als heute. Mit im Schnitt 70?Menschen pro Quadratkilometer ist es schon jetzt das am dünnsten besiedelte Bundesland.
Wo es nur wenige Menschen gibt, bildet sich auch der öffentliche Nahverkehr zurück. Denn dieser rentiert sich aufgrund des Bevölkerungsschwunds mancherorts nicht mehr. Zudem ist das Bus- und Bahnfahren oft umständlich und langwierig. Das Auto ist deshalb für viele Landbewohner(innen) unverzichtbar: Fast 70 Prozent der Landbevölkerung nutzt das Auto zum Einkaufen und über 40 Prozent pendeln damit zur Arbeit. Die Arbeitnehmer(innen) in Mecklenburg-Vorpommern fahren im Schnitt 22 Kilometer in die Betriebe, so weit wie nirgends sonst.6
Nur mit schnellem Internet bleiben die Leute
Entfernungen können dank Internet aber auch per Mausklick überwunden werden. Wer heute auf dem Land lebt, kann den Kontakt zu Kindern und Enkeln auch per Skype halten. Das Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur sieht das Netz als Wirtschaftsfaktor für das Land an: Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und Einwohnerzahlen könnten dadurch positiv beeinflusst werden. Noch fehlt jedoch die flächendeckende Versorgung mit sehr schnellem Internet - gerade in den ländlichen Räumen Ostdeutschlands, aber auch im Westen. Schnelles Internet wird verödete Landschaften vermutlich nicht aufblühen lassen. Eher wird eine gute Internetversorgung zukünftig notwendig sein, wenn Landkreise ihre Einwohner(innen) halten wollen.
Jeder Dritte wird im Jahr 2060 älter als 65 Jahre sein
Eine echte Chance für ländliche Regionen mit wenigen Arbeitsplätzen und schönen Landschaften ist der Tourismus. Beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern ist mit Seenplatte und Ostsee eines der beliebtesten Reiseziele in Deutschland. Rund 150.000 Menschen der rund 1,6 Millionen Einwohner(innen) sind in der Branche beschäftigt. Die Mehrheit der Touristen zieht es aber trotz der ländlichen Idyllen in die großen Städte.7
Wenn sich das Leben überwiegend in den Metropolen abspielt und die nachwachsende Generation dorthin zieht, wird das Land nicht nur dünner besiedelt sein, sondern auch immer "älter". Laut einer Prognose des Statistischen Bundesamtes wird im Jahr 2060 bundesweit jeder Dritte älter als 65 Jahre sein. Eine Zahl, die vor allem den Bereich der Pflege vor gewaltige Aufgaben stellen wird. Immer weniger junge Menschen müssen immer mehr ältere pflegen. Auf dem Land wirken sich weite Anfahrtswege auf die ohnehin schon knapp bemessenen Pflegezeiten negativ aus.
Eine Lösung für den Fachkräftemangel könnten Einwanderer aus dem Ausland sein. Schließlich ist Deutschland nach den USA das beliebteste Einwanderungsland. In den vergangenen drei Jahren zogen jeweils über eine Million Menschen aus dem Ausland nach Deutschland. Ihr Zuzug übertraf sogar das Minus an Sterbefällen.8 Das Statistische Bundesamt geht jedoch nur von "Ausnahmejahren" aus und hält an den negativen Prognosen fest.9
Doch ausgerechnet wirtschaftlich starke Regionen wie das dicht besiedelte Baden-Württemberg profitieren vom Zuzug aus dem Ausland. Seit dem Jahr 1990 sind über zwei Millionen Menschen dort eingewandert. Dünn besiedelte Regionen wie die neuen Bundesländer haben dagegen einen relativ geringen Migrant(inn)en-Anteil.
In Baden-Württemberg bleibt die Bevölkerung stabil
So gilt letztlich auch für die starken Bundesländer Baden-Württemberg, Hessen und Bayern: kein Wachstum ohne Zuwanderung. Auch wenn hier insgesamt viele junge Menschen leben, sterben mehr Einwohner(innen) als geboren werden. Bis 2025 sollen diese Bundesländer zwar insgesamt leicht an Bevölkerung zulegen, doch auch hier gibt es sowohl wachsende wie auch schrumpfende Landkreise. Während sich in Baden-Württemberg die Zahlen im Schnitt relativ stabil halten, ist der Schwund in Bayern ungleicher verteilt: Hier boomt die Region um München, aber viele nördliche Landkreise verlieren zum Teil so stark an Bürger(inne)n wie Teile Ostdeutschlands. Diese Kreise liegen im ehemaligen Grenzgebiet, sind meist ländlich geprägt, und auch hier sind fehlende Arbeitsplätze oft Grund für den Wegzug.
Die Situation in anderen alten Bundesländern ist ebenfalls heterogen. Insgesamt werden sie jedoch im Schnitt leicht an Bevölkerung verlieren. So leidet im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen nicht nur das Land, sondern zudem der Ballungsraum zwischen Duisburg und Dortmund. Auch hier setzt ein Strukturwandel den Menschen zu: der Niedergang des Bergbaus. Im ländlichen Sauerland schrumpft die Bevölkerung ebenfalls - trotz guter Beschäftigung fern der Zechen. Hier gibt es zwar metallverarbeitende Industrie sowie Autozulieferer, die Region ist aber dünn besiedelt. Die Schülerzahlen sollen bis zum Jahr 2019 um ein Viertel sinken.10
Im ländlich geprägten Niedersachsen dagegen gibt es Regionen, die die Vorteile des Landes für sich nutzen können. So ist das Oldenburger Münsterland ein positives Beispiel für regional verankerte Landwirtschaft und Viehzucht. Schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung ist in diesen Branchen beschäftigt. Agrar- und Nahrungsmittelindustrie profitieren zudem voneinander: Die Gülle der Massentierhaltung düngt die schlechten Böden. Es wächst Silomais, der wiederum zu Biogas vergoren wird. Heute sorgen in Niedersachsen rund 1400 Biogasanlagen für acht Prozent des Strombedarfs11 - so viel wie in keinem anderen Bundesland.
Auch die Landkreise an der ostfriesischen Küste mischen bei der Energiewende mit. Bis Ende 2014 sollen Windkraftanlagen, nördlich vor der Insel Borkum gelegen, rund 200.000 Haushalte mit Ökostrom versorgen.12 Die Energiewende rettet hier zwar die Umwelt, aber nicht die Landkreise: Diese werden künftig Einwohner(innen) verlieren. Doch obwohl die Regionen um Wolfsburg mit Volkswagen einen der größten Arbeitgeber Deutschlands haben, ziehen auch dort Menschen weg - wie in vielen Regionen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze.
Trotz der komplizierten Lage des ländlichen Raumes mit oft schlechten Aussichten: Viele Menschen scheinen ein positives Bild vom Land zu haben (siehe dazu auch die Umfragegrafik "Leben auf dem Land - Leben in der Stadt", S. 11). Denn laut einer Allensbach-Umfrage sehnen sich viele Deutsche nach dem Landleben - auch wenn viele von dort wegziehen. Auf die Frage, wo die Menschen mehr vom Leben haben, entschieden sich 40 Prozent der Befragten für das Land und nur 21 Prozent für die Stadt.13
Anmerkungen
1. www.bmel.de, "attraktive ländliche Regionen", "Infokarten".
2. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.): Die demografische Lage der Nation. Berlin, 2011, S. 6.
3. Ebd., S. 27.
4. www.regierung-mv.de, "Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz", "Themen", "Landwirtschaft".
5. http://de.statista.com, Suchbegriff "Arbeitslosenquote in Deutschland nach Bundesländern".
6. www.bmel.de, "attraktive ländliche Regionen", "Infokarten", "Pendler".
7. www.bmwi.de/DE/Themen/Tourismus/
Tourismuspolitik/Schwerpunkte/laendlicher-raum.html
8. www.destatis.de, "Publikationen", "thematische Veröffentlichungen", "Bevölkerung", "Wanderungen", "Vorläufige Wanderungsergebnisse - 2013", S. 8.
9. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 29 vom 20. Juli 2014.
10. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, a.a.O., S. 72.
11. www.lwk-niedersachsen.de, "Betrieb & Umwelt", "Betriebswirtschaft", "Agrarstatistik".
12. www.trianel-borkum.de/windpark
13. www.faz.net, Suchbegriff: Sehnsucht der Städter nach dem "Land".
Wohnungslosigkeit: längst ein Thema auf dem Lande
Familienförderung im Visier: Wie geht’s am effektivsten?
IHK-Beitragspflicht: besser genau hinschauen
Den Wandel gestalten
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