Wie Jugendliche ticken
Wer erfolgreich Angebote für Jugendliche gestalten will, muss seine Zielgruppe(n) verstehen. Das gilt für das kommerzielle Marketing ebenso wie für die soziale Arbeit. Will man Jugendliche verstehen und erreichen, muss man ihre Befindlichkeiten, Alltagsorientierungen, ihre Werte, Lebensziele, Lebensstile, ästhetischen und medialen Präferenzen kennen und nachvollziehen können. Das Verhalten der Menschen ist in hochindividualisierten und pluralisierten Gesellschaften nicht mehr erklärbar und verstehbar, wenn man nur die soziale Lage (Alter, Einkommen, Bildung) heranzieht und nach Schichten einteilt. Im Gegensatz zu herkömmlichen Zielgruppenansätzen betrachtet die Forschung des Sinus-Instituts daher insbesondere die soziokulturellen Merkmale. Dabei legt sie den Fokus nicht einseitig auf Brisanzthemen und Problemlagen, sondern fragt nach den Ressourcen der Menschen. Der Artikel stellt die Lebenswelten Jugendlicher unter 18 Jahren vor, wie sie im Rahmen der qualitativ-empirischen Studie "Wie ticken Jugendliche 2012?"1 erforscht wurden.
Methodik der Sinus-Jugendstudie u18
Die Sinus-Jugendstudie 2012 basiert auf vielfältigem Datenmaterial: Es wurden 72 Interviews mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren geführt und deren Jugendzimmer fotografisch dokumentiert. Die Befragten haben zudem ein "Hausarbeitsheft" ausgefüllt, in dem sie unter anderem über ihre Interessen (beispielsweise Musik- und Filmgeschmack) und Vorbilder Auskunft geben und sich im Rahmen einer Kreativaufgabe dem Thema "Das gibt meinem Leben Sinn" widmen.
Ausgehend von den typischen Vorstellungen, was wertvoll und erstrebenswert im Leben ist oder sein könnte, wurden Jugendliche zusammengefasst, die sich in ihren Werten, ihrer grundsätzlichen Lebenseinstellung und Lebensweise sowie in ihrer sozialen Lage ähnlich sind. Die Jugendlichen lassen sich dabei entlang drei zentraler normativer Grundorientierungen beschreiben:
- Die traditionelle Grundorientierung steht für Werte, die sich an "Sicherheit und Orientierung" ausrichten.
- Der modernen Grundorientierung liegen Werte zugrunde, die auf "Haben und Zeigen" sowie auf "Sein und Verändern" abzielen.
- Die postmoderne Grundorientierung bündelt die Wertedimensionen "Machen und Erleben" und "Grenzen überwinden und Sampeln" (to sample (engl.): ausprobieren, mischen).
Die beistehende Grafik positioniert die verschiedenen Lebenswelten in einem an das bekannte Sinus-Milieumodell angelehnten zweidimensionalen Achsensystem, in dem die vertikale Achse den Bildungsgrad und die horizontale Achse die normative Grundorientierung abbildet. Die Grafik (nebenstehend) illustriert auf einen Blick, dass die soziokulturelle jugendliche Landschaft äußerst vielfältig ist. Im Folgenden werden die sieben Lebenswelten in ihren Basisorientierungen beschrieben.
Die Ordnung bewahren: Konservativ-Bürgerliche
Konservativ-bürgerliche Jugendliche zeichnen sich durch den Wunsch aus, an der bewährten gesellschaftlichen Ordnung festzuhalten. Sie betonen eher Selbstdisziplinierung als Selbstentfaltung. Ihre Lifestyle-Affinität und Konsumneigung ist gering, entsprechend auch das Interesse, sich über Äußerlichkeiten zu profilieren. Diese Jugendlichen bezeichnen sich selbst als unauffällig, sozial, häuslich, heimatnah, gesellig und ruhig. Häufig empfinden sie sich als für das eigene Alter bereits sehr erwachsen und vernünftig. Konservativ-Bürgerliche stellen die Erwachsenenwelt nicht infrage, sondern versuchen, möglichst schnell einen sicheren und anerkannten Platz darin zu finden. Sie wünschen sich für die Zukunft eine plan- und berechenbare "Normalbiografie" (Schule, Ausbildung, Beruf, Ehe, Kinder) und erachten Ehe und Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft.
Einen Platz in der Mitte finden: Adaptiv-Pragmatische
Adaptiv-pragmatische Jugendliche sind sehr anpassungs- und kompromissbereit. Sie orientieren sich am Machbaren und versuchen, ihren Platz in der Mitte der Gesellschaft zu finden. Die Jugendlichen sehen sich als verantwortungsbewusste Bürger(innen), die dem Staat später nicht auf der Tasche liegen wollen. Von Menschen mit einer geringen Leistungsbereitschaft grenzen sie sich ab. Sie selbst möchten im Leben viel erreichen, sich Ziele setzen und diese konsequent, fleißig und selbstständig verfolgen. Es ist ihnen wichtig, vorausschauende und sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Sie streben nach einer bürgerlichen "Normalbiografie" und Wohlstand, jedoch nicht nach übertriebenem Luxus. Adaptiv-Pragmatische haben ein ausgeprägtes Konsuminteresse, jedoch mit "rationaler Regulation". Mit Kultur verbinden sie in erster Linie Unterhaltungs-, Erlebnis- sowie Entspannungsansprüche und orientieren sich am populären Mainstream.
Schwierige Startvoraussetzungen: Prekäre
Das französische Wort précaire bedeutet übersetzt "heikel", "unsicher" und "widerruflich" - zentrale Begriffe, mit denen das Lebensgefühl und die Lebenssituation der Jugendlichen in der prekären Lebenswelt beschrieben werden kann. Sie haben die schwierigsten Startvoraussetzungen. Ihre Biografie weist schon früh erste Brüche auf (zum Beispiel Schulverweis, problematische Familienverhältnisse). Während viele Anzeichen dafür sprechen, dass sich die meisten dieser Jugendlichen dauerhaft in der prekären Lebenswelt bewegen werden, weil bei ihnen verschiedene Risikolagen zusammenkommen, ist bei manchen aber auch vorstellbar, dass es sich nur um eine krisenhafte Durchgangsphase handelt, insbesondere wenn die feste Absicht besteht, "alles zu tun, um hier rauszukommen". Familie nimmt im Werteprofil der prekären Jugendlichen eine zentrale Stellung ein. Dass es sich um eine idealisierte Vorstellung von Familie handelt, die oft kaum etwas mit dem zu tun hat, was die Jugendlichen tatsächlich erleben, ist bezeichnend. Die Affinität zum Lifestyle-Markt ist bei diesen Jugendlichen eher gering. Sehr deutlich äußern sie den Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung, danach, "auch mal etwas richtig gut zu schaffen". Sie nehmen allerdings wahr, dass das nur schwer gelingt. Die Gesellschaft, in der sie leben, nehmen sie als unfair und ungerecht wahr. Die eigenen Aufstiegsperspektiven werden als gering eingeschätzt, was bei einigen in dem Gefühl resultiert, dass sich Leistung nicht lohnt.
Materialistische Hedonisten: "Ich will Spaß"
Materialistische Hedonist(inn)en sind sehr konsum- und markenorientiert: Kleidung, Schuhe und Modeschmuck sind ihnen äußerst wichtig, weil sie Anerkennung in ihren Peer-Kontexten (Gruppe von Gleichgesinnten/Gleichaltrigen) garantieren. Wichtige Werte sind für diese Jugendlichen Harmonie, Zusammenhalt, Treue, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Anstand. Kontroll- und Autoritätswerte werden abgelehnt. Materialistische Hedonist(inn)en möchten Spaß und ein "gechilltes Leben" haben (to chill (engl.): sich entspannen); einkaufen ("shoppen"), Party und Urlaub gelten als die coolsten Sachen der Welt. Vandalismus, Aggressivität, illegale Drogen, sinnloses Saufen und Ähnliches werden zwar einerseits abgelehnt, andererseits wird das Recht auf exzessives Feiern als Teil eines freiheitlichen Lebensstils jedoch eingefordert. Hochkulturellem stehen materialistische Hedonist(inn)en sehr distanziert gegenüber. Sie haben damit in ihrem Alltag in der Regel kaum Berührungspunkte und orientieren sich klar am Mainstream.
Experimentalistische Hedonisten: kreativ und provokant
Experimentalistische Hedonist(inn)en wollen das Leben in vollen Zügen genießen. Sie hegen den Wunsch nach ungehinderter Selbstentfaltung, möchten ihr eigenes Ding machen und Grenzen austesten. Sie legen großen Wert auf kreative Gestaltungsmöglichkeiten und sind oft fantasievoll, originell und provokant. Routinen finden experimentalistisch-hedonistische Jugendliche langweilig, und sie haben die geringste Affinität zu typisch bürgerlichen Werten. Im Gegenteil möchten sie mit ihrer Werthaltung (bewusst) anecken, sie wollen "aus der Masse hervorstechen", distanzieren sich vom Mainstream, lieben das Subkulturelle und "Undergroundige" und haben daher eine große Affinität zu Jugendszenen. Diese Jugendlichen lieben die (urbane) Club-, Konzert- und Festivalkultur und distanzieren sich von der klassischen Hochkultur. Sie bemühen sich bereits früh, immer mehr Freiräume von den Eltern zu erkämpfen, um Freizeit unabhängig gestalten zu können.
Sozialkritisch und kulturaffin: Sozialökologische
Sozialökologische Jugendliche betonen Demokratie, Gerechtigkeit, Umweltschutz und Nachhaltigkeit als zentrale Pfeiler ihres Wertegerüsts. Sie sind altruistisch motiviert und am Gemeinwohl orientiert. Andere von den eigenen Ansichten überzeugen zu können ist wichtig (Sendungsbewusstsein). Diese Jugendlichen haben einen hohen normativen Anspruch an ihren Freundeskreis, sie suchen Freunde mit "Niveau und Tiefe". Von materialistischen Werten distanzieren sich sozialökologische Jugendliche. Sie halten Verzicht nicht für einen Zwang, sondern für ein Gebot und kritisieren die Überflussgesellschaft. Ihre Freizeitinteressen sind vielfältig. Vor allem kulturell sind diese Jugendlichen sehr interessiert - explizit auch an Hochkultur - und finden dabei vor allem Kunst und Kultur mit einer sozialkritischen Botschaft spannend.
Grenzen überwinden: Expeditive
Expeditive streben nach einer Balance zwischen Selbstverwirklichung, Selbstständigkeit sowie Hedonismus einerseits und Pflicht- und Leistungswerten, Zielstrebigkeit und Fleiß andererseits. Sie sind flexibel, mobil, pragmatisch und möchten den eigenen Erfahrungshorizont ständig erweitern. Ihre Kontroll- und Autoritätsorientierung ist gering ausgeprägt. Expeditive Jugendliche möchten nicht an-, sondern weiterkommen: Ein erwachsenes Leben ohne Aufbrüche halten sie (noch) für unvorstellbar. Sie sehen sich selbst als urbane, kosmopolitische Elite unter den Jugendlichen. Man bezeichnet sich als interessant, einzigartig, eloquent und stilsicher. Wichtig ist expeditiven Jugendlichen, sich von der "grauen Masse abheben" zu können. Sie haben bereits ein ausgeprägtes Marken- und Trendbewusstsein. Typisch ist, sich auf der Suche nach vielfältigen Erfahrungsräumen zu befinden, beispielsweise modernes Theater, Kunst und Malerei. Expeditive zieht es in den öffentlichen Raum und die angesagten Orte, dorthin, wo die Musik spielt, wo die Leute spannend und anders sind.
Milieuforschung unterstützt die soziale Arbeit
Soweit soziale Arbeit über klare Ziele und Aufträge verfügt, können die beschriebenen Lebenswelten als "Landkarte" zur Orientierung für das eigene Handeln dienen. Landkarten sind Sehhilfen, sie dürfen nicht mit der Landschaft selbst verwechselt
werden. Der direkte Kontakt zu den Klient(inn)en kann dadurch natürlich nicht ersetzt werden. Qualitative Sozialforschung kann für die soziokulturellen Logiken von Menschen aus anderen Lebenswelten als der eigenen sensibilisieren und Wege für Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen Lebenswelten aufzeigen. So kann eine Verständigung auf gemeinsame Wege und Ziele besser gelingen. Dies hat sich in den letzten Jahren als besondere Stärke der Sinus-Jugendforschung herausgestellt. Beispielsweise nutzen Jugendverbände, Vereine und offene Jugendarbeit die Sinus-Jugendstudien, um zu verstehen, welche Jugendlichen bisher erreicht werden (und warum) und wie Zugänge zu anderen Zielgruppen möglich wären.
Die Sinus-Forschung bietet über diese Sehhilfe hinaus einen umfangreichen Werkzeugkasten zur Reflexion der eigenen Arbeit, für qualifizierte Veränderungsprozesse und natürlich auch für das Marketing.
Im Hinblick auf die eigene Arbeit ist die Lebensweltforschung ein hilfreiches Werkzeug, um die eigene lebensweltliche Prägung beziehungsweise Werthaltung für die soziale Arbeit zu reflektieren und in Kontrast zu den Werten und Erwartungen anderer Lebenswelten zu setzen. So sind beispielweise die heute 35- bis 55-jährigen Sozialarbeiter(innen) oft stark postmateriell geprägt, die Jugendlichen in ihren Zielgruppen orientieren sich hingegen an konsum-materialistischen und hedonistischen Werten. Manche Konflikte und Kommunikationsprobleme im täglichen Handeln lassen sich mit diesem Hintergrundwissen erklären und aufarbeiten.
Viele Anwendungsmöglichkeiten in der Praxis
Verschiedene Milieu-Modelle (Gesamtmodell für Deutschland, dazu zum Beispiel neue caritas Heft 22/2008, S. 9 ff., Menschen mit Migrationshintergrund, siehe neue caritas Heft 4/2009, S. 9 ff. und 7/2009, S. 31 ff., Lebenswelten von Jugendlichen) und zahlreiche Sinus-Forschungen zu den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen und Feldern (Eltern, Weiterbildung, Kirche, Umwelt, politische Bildung) geben sehr konkrete Hinweise, welche Aspekte bei Veränderungsprozessen beachtet werden müssen. Träger der Bildung und sozialen Arbeit können hier erfahren, welche Erwartungen aus verschiedenen Lebenswelten an sie herangetragen werden. Die neue Sinus-Jugendstudie hat dies insbesondere für Schule, berufliche Orientierung und Kirche erfragt.
Auch im Hinblick auf örtliche Partizipations- und Engagement-Angebote ist es sehr hilfreich, die unterschiedlichen Zielgruppen und ihre Zugänge zu Partizipation und Engagement genauer zu kennen. Gelingende Beteiligung kann je nach Lebenswelten vor Ort sehr unterschiedlich aussehen.
Eine hohe Affinität zu sozialem Engagement haben beispielsweise die konservativ-bürgerlichen und sozialökologischen Jugendlichen. Sie sind altruistisch motiviert und bereit, sich in Vereine und Verbände einzubringen. Adaptiv-pragmatische Jugendliche haben keine ganz so hohe Affinität zum Engagement, wollen sich eher in einer kompakten Phase nach der Schulzeit engagieren. Sie stehen aber den großen sozialen Organisationen nahe und halten diese für wirksam, sind also beispielsweise für Freiwilligendienste ansprechbar. Andere Lebenswelten wären wiederum eher über projektorientiertes Engagement oder über die eigene Betroffenheit für soziales Engagement zu gewinnen.
Die Sinus-Milieus können außerdem bei Bedarf mikrogeografisch (das heißt bezogen auf kleinräumige geografische Gebiete) dargestellt werden. Es kann überprüft werden, welche Zielgruppen wo wohnen und ob es für vorhandene oder geplante Angebote einen Bedarf gibt. Auf Basis der Jugendstudie 2012 wird das Sinus-Institut dieser Frage in den kommenden Monaten im Rahmen der offenen Jugendarbeit und Schulsozialarbeit in einer süddeutschen Stadt nachgehen und dann über erste konkrete Erfahrungen berichten.
Lebensweltorientierte soziale Arbeit kann eigene Sozialraum-Analysen und ethnographische Methoden mit den Erkenntnissen der Milieu- und Lebensweltforschung kombinieren. Dadurch erhält sie eine umfassendere Basis quantitativer und qualitativer Beschreibungen als aus den örtlichen Daten alleine.
Die Sinus-Modelle und -Studien können die Erkenntnisse und Wahrnehmungen vor Ort - insbesondere für politische Entscheidungsträger(innen) - in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellen. Qualitative Sozialforschung wird damit zu einem hilfreichen Mittel für Soziallobbying, Politikberatung und politische Bildung.
Milieu- und Lebensweltforschung ist schließlich ein hilfreiches Werkzeug der Organisationsentwicklung. Sie unterstützt Diagnose-, Zukunftsgestaltungs-, Lern-, Umsetzungs- und Veränderungsprozesse und kann in Fortbildungen zur Zielgruppenkompetenz für Mitarbeitende eingesetzt werden, denn die Rolle der sozialen Arbeit muss vor dem Hintergrund des soziokulturellen und demografischen Wandels immer wieder neu bestimmt und an den Ansprüchen und Bedürfnissen der Zielgruppen ausgerichtet werden.
Anmerkung
1. Calmbach, Marc u.a.: Wie ticken Jugendliche 2012? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Düsseldorf : Verlag Haus Altenberg, 2012.