Neue Vernetzung braucht das Land
Glücklicherweise steigt die Lebenserwartung der Menschen, und wir werden immer älter. Das erfordert jedoch für die Gesundheitsversorgung - besonders in ländlichen Regionen - neue Konzepte, die langfristig tragen. Der Bericht der von der Gesundheitsministerkonferenz beauftragten Arbeitsgruppe der Obersten Landesgesundheitsbehörden und des Bundesgesundheitsministeriums rüttelt wach: Bis 2020 werden rund 15.000 Hausärztinnen und -ärzte fehlen.1 Denn immer weniger junge Mediziner entscheiden sich, als Hausarzt tätig zu werden. Schwierige Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen und lange Arbeitszeiten sowie eine mittelmäßige Honorierung wirken abschreckend auf die Nachwuchsmediziner. Nachfolger finden schon heute viele Hausärzte, die ihre Praxis aus Altersgründen abgeben wollen, nur schwer oder gar nicht. Aber auch in der Pflege, die gerade im ambulanten Bereich einen ganz wesentlichen Baustein bildet, um den Alltag zu bewältigen und lebenswert zu gestalten, herrscht Fachkräftemangel. Hinzu kommt, dass durch Rückgang und Veränderung der Bevölkerungsstruktur - beispielsweise abnehmende Schülerzahlen - die Finanzierung eines flächendeckenden öffentlichen Personennahverkehrs für die Kommunen immer schwieriger wird.
Die Familie als größter Pflegedienst
Mehr als zwei Drittel (69 Prozent beziehungsweise 1,62 Millionen) der Pflegebedürftigen wurden im Jahr 2009 zu Hause versorgt. Davon wurden 1.066.000 Pflegebedürftige ausschließlich durch Angehörige gepflegt. Weitere 555.000 Pflegebedürftige lebten ebenfalls in Privathaushalten, wurden jedoch mit Unterstützung oder nur von ambulanten Pflegediensten gepflegt.2
Diese Pflegeleistung in der Familie aufzubringen fällt oft schwer: Häufig geht es einher mit erheblichen Beeinträchtigungen für die Gesundheit und Lebensqualität der pflegenden Angehörigen, mit ihrer sozialen Isolation, der Aufgabe eigener beruflicher Ziele, familiären Konflikten und finanziellen Schwierigkeiten.
Dazu kommt: Die Zahl der zu Pflegenden wächst, während die Anzahl potenziell zur Verfügung stehender Töchter, Schwieger- und Enkeltöchter (pflegende Angehörige sind weit überwiegend weiblich) sinkt. Denn die Familienmitglieder leben oft räumlich voneinander getrennt unter Auflösung der tradierten Rollenverteilung in der (Groß-)Familie. Frauen sind in höherem Maße berufstätig und wollen es auch bleiben.3 Daher sollten Personen, die Angehörige oder Nachbarn pflegen, Beratung, Unterstützung und Hilfe erhalten, um selber gesund zu bleiben.
Darüber hinaus gilt es, die Pflege - und in ländlichen Regionen insbesondere auch die ambulante Versorgung - auf- und auszubauen, zu professionalisieren und aus der chronischen Unterfinanzierung herauszuholen. Innovative Formen der Vernetzung von stationären und häuslichen Versorgungsmodellen, eine Kompetenzerweiterung für und Aufgabenübertragung auf die professionelle Pflege, die Reformierung des eng geschnittenen Pflegeverständnisses im SGB XI sowie ein kommunal gesteuerter Ausbau der regionalen Pflege-Infrastruktur gehören ebenfalls zu den erforderlichen Lösungsschritten.
Familiengesundheitspflege in der Fläche verankern
Eine Möglichkeit, in ländlichen Regionen hochqualifizierte Beratungsleistungen zu etablieren, bietet das Konzept der Familiengesundheitspflege.4 Gerade auf dem Land besteht ein hoher Bedarf an zugehenden Beratungsleistungen.
Schwerpunkt der Familiengesundheitspflege ist ein salutogenetisch5, präventiv und gesundheitsförderlich geprägtes Beratungsangebot. Es richtet sich an Familien und Einzelpersonen und soll pflegende Privatpersonen entlasten. Das Konzept beruht auf dem Rahmenplan "Gesundheit 21 - Gesundheit für alle" der Weltgesundheitsorganisation WHO.6 Bei den Hausbesuchen der Familiengesundheitspfleger(innen) wird die gesamte Familie beziehungsweise das soziale Netzwerk des/der Pflegebedürftigen mit einbezogen. Besondere körperliche und psychische Belastungen werden identifiziert, und gemeinsam wird nach einer Lösung gesucht.
Eine Rahmenvereinbarung des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBFK) mit der Barmer GEK ermöglicht die Finanzierung dieser Beratungsleistung in komplex belasteten Familien bis zu sieben Monaten.
Eher umstritten dagegen sind Modellansätze wie "Schwester AGnES"7 (s. auch S. 11 in neue caritas Heft 18/2012), "MOPRA - Mobile Praxisassistentin", "VerAH - Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis", "EVA - Entlastende Versorgungsassistentin" und "MoNi - Modell Niedersachsen". Hier handelt es sich um Mitarbeiterinnen der Hausarztpraxen, die als "verlängerter Arm" der Hausärztin/des Hausarztes in direkter Abhängigkeit der bereits heute unzulänglichen Strukturen verbleiben. Den Patient(inn)en geben diese Modelle nur eine Scheinsicherheit, denn es werden "nicht näher definierte Hilfeleistungen" von unterschiedlichen Berufsgruppen ausgeführt, die vom Arzt in "ausreichender Form" überwacht werden.8 Die Komplexität ambulanter Versorgungsbedarfe wird unterschätzt; zudem werden Parallelstrukturen zu den ambulanten Pflegediensten aufgebaut, die sowieso auf dem Land unterwegs sind und die Familien aufsuchen.
Reserven nutzen - Aufgaben erweitern
Der Blick auf die Beschäftigungsstruktur in den ambulanten Pflegediensten zeigt, dass der weitaus größte Anteil (70 Prozent) der ambulant Pflegenden in Teilzeit arbeitet. In Niedersachsen sind lediglich 19 Prozent der ambulant Pflegenden vollzeitbeschäftigt, in den neuen Bundesländern liegt der Anteil mit beispielsweise 38 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern höher.9 Diese stillen Reserven sollten genutzt werden. Attraktive Arbeitsbedingungen, eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Anhebung des Lohnniveaus sowie ein Ausbau der Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten könnten die Bereitschaft der meist weiblichen Pflegenden, ihren Stundenumfang aufzustocken, erhöhen.
Der Blick nach Skandinavien, Großbritannien und den USA zeigt, dass Pflegefachpersonen, die durch Weiterbildung, Studium und berufliche Praxis ein breites Spektrum an Kompetenzen erworben haben, ein größeres Aufgabenspektrum und eine erweiterte Handlungsautonomie im Vergleich zu Deutschland besitzen. Erfahrungen aus zwölf Ländern erweisen, dass der verstärkte Einsatz speziell qualifizierter Pflegefachkräfte den Zugang zu Gesundheitsleistungen verbessert und die Wartezeiten verringert.10 Auch in Deutschland könnten qualifizierte Pflegefachpersonen durch die Übernahme von Hausbesuchen und Routineaufgaben bei chronischer Krankheit oder Pflegebedürftigkeit Hausärzte wirkungsvoll unterstützen. Die Einrichtung von kommunal finanzierten Pflegepraxen oder an die Hausärzte "angedockten" Tandempraxen mit beispielsweise den Schwerpunkten Wunde, Diabetes, Hypertonus und Demenz könnte die Versorgungskontinuität steigern. Das Gleiche gilt für eine Nutzung der Möglichkeiten, die der Modellparagraph zur Ausübung von Heilkunde durch Pflegende nach § 63 3c SGB XI eröffnet.
Kommunale Pflegeinfrastruktur aufbauen
Besonders in den ländlichen Regionen ist es wichtig, dass die Kommunen ihre Verantwortung für den Aufbau einer Pflegeinfrastruktur stärker wahrnehmen, gesetzlich vorgegebene Gestaltungsspielräume nutzen und so das Wohnumfeld für ältere Menschen verbessern.11 Lokale Einkaufsmöglichkeiten, die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel oder auch mobile Bäcker-, Lebensmittel- oder Büchereidienste können das Angebot ergänzen und den Alltag erleichtern. Dem folgt auch der Sachverständigenrat für die Entwicklung im Gesundheitswesen: Er empfiehlt eine bedarfsdeckende Versorgung bei Pflegebedürftigkeit im Alter, eine vorausschauende kommunale Steuerung des Versorgungsmixes sowie eine zugehende Unterstützung und Beratung für ältere und alte Anwohner(innen).12
Technische Assistenz bringt einige Erleichterungen
In ländlichen Regionen kommt technischen Hilfen eine besondere Bedeutung zu. Speziell entwickelte altersgerechte Assistenzsysteme (Ambient Assisted Living, vgl. neue caritas Heft 12/2012, S. 12ff.) können die Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts älterer Menschen erleichtern. Die automatische Abschaltung des Herdes bei Demenzkranken beispielsweise verringert das Brandrisiko, und eine kontextabhängige Beleuchtung kann Stürze verhindern.
Außerdem stehen neben den herkömmlichen Hausnotrufsystemen der ambulanten Dienste auch neue telemedizinische Anwendungsmöglichkeiten zur Verfügung. Hier gilt es jedoch sorgfältig auszuwählen, welche Leistung telemedizinisch erbracht werden kann und wo ein persönliches Gespräch mit dem Arzt/der Ärztin sinnvoller erscheint. Auch die Einrichtung von Callcentern, Hotlines in die Hausarztpraxis, mobilen Pflegestützpunkten oder Gesundheitsbussen ergänzt Vorhandenes, ersetzt aber nicht den persönlichen Kontakt.
Die Auswahl eines geeigneten Hilfesystems muss deshalb durch pflegefachliche Expertise flankiert werden, um die sichere Anwendung der Geräte in der Häuslichkeit zu gewährleisten. Zu beachten ist, dass all diese Produkte vorhandene Versorgungsangebote ergänzen können, aber nicht von der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für eine angemessene Sozial- und Gesundheitsinfrastruktur auf dem Land entheben.
Anmerkungen
1. 81. Gesundheitsministerkonferenz der Länder, März 2008: Bericht der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden zur Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung in Deutschland: Die Primärversorgung in Deutschland im Jahr 2020. Download: www.gmkonline.de, Suchwort "2020".
2. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2009. Download unter: www.destatis.de
3. Friedrich-Ebert-Stiftung (2012): Auf der Highroad - der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem; http://library.fes. de/pdf-files/wiso/09243-20120730.pdf
4. www.familiengesundheitspflege.de
5. Salutogenese: Prozess des Entstehens beziehungsweise Erhalts der Gesundheit.
6. WHO: Gesundheit 21 - Gesundheit für alle, Rahmenkonzept, 1998, www.euro.who.int (Suchbegriff "Rahmenkonzept 21").
7. AGnES steht für "Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Health-gestützte, Systemische Intervention".
8. Deutscher Pflegerat: DPR Newsletter 5/2008.
9. Statistisches Bundesamt, a.a.O., S. 9f.
10. OECD Health Working Paper No. 54 (2010), zit. n.: DBfK - Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (Hrsg.): Advanced Nursing Practice : Pflegerische Expertise für eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung. Berlin, 2011; www.dbfk.de/download
11. Deutscher Verein DV (2010): Selbstbestimmung und soziale Teilhabe vor Ort sichern! Empfehlungen zur Gestaltung der lokalen Pflegeinfrastruktur, www.deutscher-verein.de
12. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Sondergutachten Koordination und Integration - Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens, 2009, www.svr-gesundheit.de