Neue Bundesländer als Zukunftslabor
In Brandenburg wird es vor allem in den berlinfernen Regionen zunehmend schwer, frei werdende Arztstellen wieder zu besetzen. Die künftige Sicherstellung der flächendeckenden medizinischen Versorgung einer älter werdenden und zahlenmäßig abnehmenden Bevölkerung kann nur mit Hilfe gemeinsamer Aktivitäten aller Beteiligten im gegliederten System der medizinischen Versorgung und unter Einbeziehung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen gelingen.
Die Frage "Wie viel ‚Land‘ darf drin sein in der Gesundheitspolitik?" hat bei der Debatte um das Versorgungsstrukturgesetz eine zentrale Rolle gespielt. Die Initiative für einige wesentliche Aspekte dieses Gesetzes ist maßgeblich von den Bundesländern ausgegangen. Dafür gibt es gute Gründe:
Die Strukturen unseres Gesundheitswesens basieren auf einer Aufgabenteilung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Staatsverwaltung (Selbstverwaltung), die regionale und bundesweite Bezüge hat. In der medizinischen Versorgung existieren, bundesrechtlich gewachsen, verschiedene Sicherstellungsaufträge nebeneinander. Die ambulante ärztliche Versorgung haben die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) sicherzustellen und den Krankenkassen gegenüber dafür die Gewähr zu übernehmen. Die Bedarfsplanung für die ambulante ärztliche Versorgung erfolgt durch die Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen auf Grundlage der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) erlassenen Richtlinien.
Die medizinische Versorgung in Krankenhäusern ist eine öffentliche Aufgabe des Landes sowie der Landkreise und kreisfreien Städte. Der Umfang der Sicherstellungsverpflichtung wird im Krankenhausplan und per Bescheid gegenüber dem Krankenhausträger festgestellt.
Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) wiederum nimmt bevölkerungsmedizinische Aufgaben in den Bereichen Gesundheitsvorsorge, Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung und Schaffung gesunder Lebensbedingungen wahr. Der ÖGD wird nicht durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) finanziert, sondern kommunal, ist also eine Aufgabe der Landkreise und kreisfreien Städte. Die Aufgabenwahrnehmung ist grundsätzlich subsidiär zur ambulanten und stationären medizinischen Versorgung.
Hinsichtlich der Vergütung, der Qualitätssicherung und der Bedarfsplanung gelten für die ambulante und stationäre medizinische Versorgung teilweise unterschiedliche bundesweite Rahmenvorgaben. Die Gesundheitsreformen Mitte der 2000er Jahre haben erhebliche Veränderungen in der GKV mit sich gebracht. Krankenkassen stehen miteinander in einem Wettbewerb, der mitunter ein gemeinsames Handeln für regionale Versorgungskonzepte erschwert. Kassenfusionen führen zudem dazu, dass immer weniger Krankenkassen der Aufsicht von Ländern unterliegen. Diese Entwicklungen sind politisch gewollt, haben jedoch nachhaltige Konsequenzen für das Verhältnis von GKV-Selbstverwaltung und politischer Steuerung, insbesondere für die Landesebene.
Bedarfsplanung neu geregelt
Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK) hat daher am 1. Juli 2010 einen Beschluss gefasst, der auf eine Reform der Zuständigkeiten in der Bedarfsplanung, Sicherstellung und Aufsicht in der medizinischen Versorgung beziehungsweise dem GKV-System abzielt. Die Länder und der Bund haben danach intensiv miteinander verhandelt und mit dem am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Versorgungsstrukturgesetz einen Kompromiss beschlossen: Die Bedarfsplanung für ambulante medizinische Versorgung soll der GBA zeitnah verbessern. Sie soll kleinräumig, flexibel, demografie- und morbiditätsorientiert sein, und die Länder dürfen mit zwei Vertreter(inne)n mitberaten, haben aber kein Stimmrecht. Auch im Ausschuss der Ärzte und Krankenkassen auf Landesebene, wo die Vorgaben des GBA für die ambulante medizinische Versorgung regional umgesetzt werden, darf das Land nun mitberatend teilnehmen, aber nicht mit abstimmen. Neu ist auch die Verpflichtung der Krankenkassen, dem zuständigen Landesministerium alle Verträge mit Versorgungswirkung im Land zur Kenntnis zu geben. Und schließlich haben die Länder seit Beginn dieses Jahres die Möglichkeit, per Landesgesetz ein gemeinsames Landesgremium einzurichten, das Empfehlungen für sektorenübergreifende Versorgungsfragen gibt.
Hausärztliche Versorgung bleibt prekär
In der öffentlichen Wahrnehmung hat jedoch eine andere Frage dominiert. Das Versorgungsstrukturgesetz wird ja teilweise auch als "Landärztegesetz" bezeichnet. Das klingt gut - aber was ist dran?
Die künftige Sicherung der medizinischen Versorgung in ländlichen Regionen wird nur gelingen, wenn die vorhandenen Ressourcen klug und in Zusammenarbeit aller Akteure eingesetzt werden können und wenn ein wirksames Umverteilungsmoment dafür sorgen hilft, dass bundesweit einerseits Überversorgung abgebaut wird und andererseits die medizinischen Leistungen in strukturschwächeren ländlichen Regionen angemessen finanziert sind. Ein wirklich effektives Umverteilungsmoment fehlt bislang.
Zudem liegt der Fokus zu stark im fachärztlichen Bereich, der nun in einer Art drittem Sektor geregelt wird (spezialfachärztliche Versorgung nach § 116 b SGB V). Eine Tätigkeit dort wird, auch durch dieses Gesetz, immer attraktiver. Die hausärztliche Versorgung hingegen wird nicht
ausreichend gefördert. Und die vom Gesundheits-Sachverständigenrat dringend empfohlene Stärkung der nichtärztlichen Gesundheitsberufe muss weiterhin immer wieder auf die Tagesordnung (vgl. S. 12 ff. in neue caritas Heft 18/2012).
Aber auch wenn die bundespolitischen Rahmenbedingungen nicht in jeder Hinsicht zufriedenstellend sind, liegen die Potenziale immer zuerst in der Zusammenarbeit. Und für die gibt es im Land Brandenburg eine gute Tradition. Regelmäßige Gespräche auf Spitzenebene, angeregt durch die Ministerin für Gesundheit, zeigen Einigkeit zwischen den wichtigen Akteuren im Brandenburger Gesundheitswesen. Im zurückliegenden Jahr hat das Brandenburgische Gesundheitsministerium dem Fachausschuss des Landtages ein ausführliches Papier über Grundlagen, Handlungsfelder und Maßnahmen zur künftigen Sicherstellung der medizinischen Versorgung vorgelegt (www.mugv.brandenburg.de, "Gesundheitsziele", "Versorgung"). Über die Diagnosen und die verabredeten Maßnahmen besteht zwischen allen Partnern im Land Konsens.
In Brandenburg hat man sich zudem darauf verständigt, ein Landesgremium für sektorenübergreifende Versorgungsfragen einzurichten. Denn die Steuerung der Gesundheitsversorgung und die Entwicklung zukunftsfähiger Konzepte, insbesondere für strukturkritische Regionen, erfordert eine sektorenübergreifende systematische Betrachtung auf Landesebene. Dabei kommt es auch darauf an, Fragen der Gesundheitsversorgung und Fragen der Infrastrukturentwicklung gemeinsam zu betrachten. Regionale Versorgungsbedürfnisse, raumordnerische Aspekte und Perspektiven der demografischen Entwicklung müssen berücksichtigt werden. Für unterschiedliche Räume und Gegebenheiten werden angepasste Konzepte benötigt, damit alle Menschen angemessen erreicht werden können. Dafür braucht es die Zusammenarbeit der Strukturverantwortlichen im Gesundheitswesen, also des Landes, der Krankenkassen, der kassenärztlichen Vereinigung, der Krankenhäuser und der Kommunen. Aber auch die Expertise der Landesplanung, der Ärztekammer und der Patientenfürsprecher(innen) sowie die von Berufsverbänden und anderen Sozialleistungsträgern soll einfließen.
Neun von 21 Modellregionen in den neuen Bundesländern
In Brandenburg und den weiteren neuen Bundesländern zeigen sich schon seit geraumer Zeit bestimmte Entwicklungen besonders dynamisch, die sich inzwischen teilweise bundesweit abzeichnen. Dazu gehören die wachsende Disparität zwischen städtischen und ländlichen Regionen und die demografische Entwicklung.
Manche sprechen daher von den neuen Ländern als einer Art Labor, in dem sich bestimmte Entwicklungen - aber auch darauf abgestimmte Maßnahmen - relativ früher oder auch ausgeprägter als andernorts beobachten lassen. Folgendes Beispiel veranschaulicht dies: Das Bundesministerium für Verkehr, Bauwesen, Städtebau und Raumordnung fördert seit mehreren Jahren Modellvorhaben der Raumordnung, die ausgewählte ländliche Regionen darin unterstützen, sich innovativ den infrastrukturellen Herausforderungen des demografischen Wandels zu stellen. Von den in der laufenden Förderperiode bundesweit ausgewählten 21 Modellregionen liegen neun in den neuen Bundesländern, allein vier in Brandenburg. Alle Brandenburger Modellregionen haben das Thema gesundheitliche und soziale Versorgung in diesem Zusammenhang in den Fokus genommen.
Bewährte Zusammenarbeit zur regionalen Versorgung
Zurück zur Gesundheitspolitik im engeren Sinne: Das Land Brandenburg bemüht sich bereits seit längerem um die Nachwuchssicherung von Fachkräften zum Beispiel durch die Kampagne www.arzt-in-brandenburg.de, die 2006 ins Leben gerufen wurde. Auch das Thema Kooperation und flexible Arbeitszeiten spielt in Brandenburg traditionell eine wichtige Rolle. Für medizinische Versorgungszentren (MVZ) hat sich die Landespolitik schon seit Beginn der 1990er Jahre starkgemacht. Im Einigungsvertrag war lediglich ein Bestandsschutz für die im Beitrittsgebiet bestehenden staatlichen Gesundheitseinrichtungen (Polikliniken, Ambulatorien) festgelegt. Die Landesregierung Brandenburgs hat sich für ihren Fortbestand mit großem Nachdruck eingesetzt und ihren Erhalt unter dem Begriff Gesundheitszentren auch mit Modellförderung unterstützt. Diese Versorgungsform wurde dann unter dem Namen Medizinische Versorgungszentren 2004 bundesweit zugelassen.
Außerdem setzen die Brandenburger Akteure sich dafür ein, Ärztinnen und Ärzte durch den Ausbau von Telemedizin oder Modelle wie AGnES1 zu entlasten. Die Akzeptanz des AGnES-Konzeptes war bei den am Brandenburger Modellprojekt teilnehmenden Hausärzt(inn)en und Patient(inn)en sehr hoch. Die Projektergebnisse veranlassten den Gesetzgeber schließlich, diese Versorgungsform in die Regelversorgung zu überführen. Aus der "AGnES-Fachkraft" wurde zum 1. April 2009 die nichtärztliche Praxisassistentin.
Es gibt in Brandenburg zudem viele Beispiele für ganz konkrete innovative Formen der Zusammenarbeit auf regionaler Ebene. Ein Beispiel ist die Bereitstellung eines regionalen Patientenbusses in Kooperation von ÖGD und Krankenhaus für Kindergesundheit oder von Kassenärztlicher Vereinigung, Kommunen und Krankenkassen. Auch Mittel aus EU-Fonds werden für neue Formen medizinischer Versorgung im ländlichen Raum genutzt, wie zum Beispiel für eine mobile Zahnarztpraxis.
Die gute Nachricht zum Schluss: Die Menschen werden gesünder alt als jemals zuvor, das gilt auch für Brandenburg.
In den nächsten Jahren wächst die relative und absolute Zahl von Menschen in höherem und höchstem Alter. Die gesundheitliche Versorgung mit ihren Hauptakteuren, Berufen, Strukturen und Abläufen wird sich verändern. Die bedarfsgerechte Anpassung des Systems gesundheitlicher Versorgung wird mehr als zuvor von der Kooperation der wichtigen Akteure abhängen. Die Umsetzung wird dann erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten gemeinsame Ziele verfolgen und der Austausch über gute Beispiele weiterwächst.
Anmerkung
1. AGnES steht für arztentlastende, gemeindenahe, E-Health-gestützte, systemische Intervention. Die Delegation ärztlicher Tätigkeiten an nichtärztliche Praxismitarbeiter(innen) erfordert eine ausreichende Überwachung durch den Hausarzt, zum Beispiel durch Videokonferenzen. Innerhalb der AGnES-Projekte wurden verschiedene telemedizinische Anwendungen eingesetzt. Telemedizinisches Monitoring der Patient(inn)en wurde mit dem Ziel einer Analyse der Machbarkeit und Akzeptanz in der Hausarztpraxis implementiert, beispielsweise wurde ein Telecaresystem eingesetzt mit Geräten wie Waage und Blutdruckmessgerät. Entwickelt wurde das Konzept AGnES durch das Institut für Community Medicine der Universität Greifswald.