Im Osten nichts Neues?
Östlicher und protestantischer wird die Bundesrepublik, lautete die Vorhersage des letzten Ministerpräsidenten der ehemaligen DDR, Lothar de Maizière, am Vorabend des 3. Oktober 1990. Der Beitritt der knapp 17 Millionen Ostdeutschen verändert das gemeinsame Land, so die aus dem Hochgefühl der friedlichen Revolution geborene Überzeugung. Im Blick auf die höchsten Staatsämter kann man 22 Jahre später de Maizière Recht geben. Für den Wandel in den Mentalitäten, in der Ausgestaltung der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist die Vorhersage bisher nicht eingetroffen.
Östlicher und diasporagemäßer wird die Caritas, so könnte man die Erwartung des Ex-Ministerpräsidenten für unseren Verband abwandeln. Und immerhin: Mit dem Dresdner Hellmut Puschmann als Präsident von 1991 bis 2003 war der Deutsche Caritasverband (DCV) eine der ersten bundesweit agierenden Institutionen mit einem Ostdeutschen an der Spitze. Wie aber ist das mit den Mentalitäten, angesichts der Kraftfelder der Caritas im katholischen Westen und Süden der Republik? Wie ist es mit dem Gestaltungsrahmen und den Ordnungen, nach denen die Caritas arbeitet?
Die Beratungen zum Arbeitsrecht in der Delegiertenversammlung des DCV haben Spannungen innerhalb der Caritas aufgezeigt. Sie wurden an der besonderen Situation der ostdeutschen Caritasverbände, die zugegebenermaßen hartnäckige Antragsteller in den Versammlungen waren, festgemacht. Dabei sind die Trennlinien nicht eindeutig zu beschreiben. Aufteilungen wie "Ost und West", "arme und prosperierende Regionen", "Diasporabistümer" und "katholische Kerngebiete" waren und sind unzureichend. Dennoch können solche vereinfachenden Zuordnungen helfen, die Probleme zu verstehen und sie zu lösen. Deshalb soll an dieser Stelle die Lage der ostdeutschen Caritas aus der Perspektive Dresden-Meißens dargestellt werden. Osten, arme Region, Diaspora - das sind dafür die drei Leitkategorien.
"Ostdeutschland" - dazu gehören neben Berlin die nicht umsonst noch immer so genannten fünf "neuen" Bundesländer. Nach zwei Diktaturen wurde erst vor gut zwanzig Jahren die staatliche Ordnung eingeführt, die in den alten Bundesländern weitaus länger selbstverständlich ist. Das hat Auswirkungen auf die Gestaltung des Sozialstaates, auf die Rolle der freien Wohlfahrtspflege und damit des Caritasverbandes. Zwar traten mit dem Einigungsvertrag die für die gesamte Bundesrepublik geltenden gesetzlichen Regelungen für die freie Wohlfahrtspflege in Kraft. Die Spitzenverbände wurden wiederbegründet und man begann auf kommunaler und Landesebene die notwendigen Organisations- und Arbeitsformen zu entwickeln. Das geschah vor dem Hintergrund eines zuvor über Jahrzehnte fast ausschließlich staatlich organisierten Sozialwesens, in dem nur die beiden konfessionellen Werke ihre fachlich hochkompetent, aber sozialpolitisch zurückhaltend besetzten Nischen hatten. Ein über Jahre gewachsenes Verständnis von Rolle und Bedeutung freigemeinnütziger Träger und ihrer Spitzenverbände, ihres subsidiären Vorrangs bei der Leistungserbringung und vor allem ihrer politischen Mitwirkung besteht hier nicht. Den Wohlfahrtsverbänden fehlen in Ostdeutschland bis heute die klassischen weltanschaulichen und konfessionellen Milieus, aus denen sie Mitglieder und Einfluss gewinnen. Die ehrenamtliche Mitarbeit von politischen Mandatsträgern in den Wohlfahrtsorganisationen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern die Ausnahme. Wenn sozialstaatliche Rahmenbedingungen gestaltet werden, macht sich diese fehlende Tradition der engen Abstimmung von Politik und Wohlfahrtspflege bemerkbar.
"Arme Regionen" - auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung hinkt der Osten in den volkswirtschaftlichen Daten weiter den alten Bundesländern hinterher. Diese Aussage wird durch den an vielen Orten sichtbaren Aufschwung und durch die gern genannten "Leuchttürme" wie Dresden, Leipzig, Jena oder neuerdings Berlin nicht widerlegt. Bruttosozialprodukt und das durchschnittliche Einkommensniveau der Bevölkerung liegen bei 80 Prozent der alten Bundesländer. Die Steuereinnahmen von Ländern und Kommunen erreichen nicht einmal 60 Prozent. Auch andere Indikatoren, wie etwa die Arbeitslosenquote mit derzeit etwa elf Prozent und der signifikant höhere Anteil von Haushalten im Hartz-IV-Bezug sprechen eine deutliche Sprache.
Weniger Menschen heißt weniger Steuereinnahmen
Dazu kommen weitere Faktoren: Der Osten ist in weiten Teilen eine Region mit erheblichen demografischen Problemen. Weniger Menschen zahlen weniger Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Das absehbare Auslaufen der Solidarpakt-II-Mittel führt in Sachsen zu beträchtlichen Haushaltsbeschränkungen aus der nicht unberechtigten Sorge vor Verschuldung. Das hat Auswirkungen auf den Sozialbereich. Wenn freiwillige Sozialleistungen aus knappen Steuereinnahmen refinanziert werden und im Wettbewerb mit baulichen Infrastrukturmaßnahmen stehen, bleiben sie oft zweiter Sieger, oder sie werden zu finanziell sehr schwierigen Bedingungen erbracht. Wenn Pflege- oder Gesundheitsleistungen an das Beitragsaufkommen und an die Grundlohnsteigerung der Versicherten gebunden sind, dann hat ein Pflegedienst oder ein Altenpflegeheim in wirtschaftlich schwächeren Regionen mit deutlich geringeren Pflegesätzen zu kämpfen; bundesweite Vergleiche sind da eindeutig. Diese Aufzählung ließe sich fortführen.
"Diaspora" - mit Ausnahme des Eichsfeldes und der sorbischen Lausitz leben in den ostdeutschen Flächenländern etwa drei bis vier Prozent Katholiken. Diaspora beschreibt zunächst einen Mangel: an Gläubigen und an konfessionell gebundenen Mitarbeiter(inne)n, an Kirchensteuern und damit einhergehend an kirchlichen Zuschüssen für die Caritas. Es ist unseren Bistümern hoch anzurechnen, dass sie trotz dieser Situation und der beschlossenen Kürzung im Strukturausgleich der deutschen Diözesen weiter erhebliche Unterstützung für die Dienste ihrer Caritas leisten. Im Vergleich zu den kirchlichen Mitteln, die in den Jahresberichten anderer Diözesan-Caritasverbände genannt werden, ist diese aber diasporagemäß begrenzt.
Klientenbezogene Sozialarbeit scheitert an Bürokratie
Diaspora heißt darüber hinaus, eine spezifische Geschichte und Tradition des kirchlich-caritativen Dienstes zu haben, aus der heraus Ansprüche an die eigene Arbeit entstehen. Dazu gehört das wichtige Erbe der offenen, klientenbezogenen Sozialarbeit. Die Bedrohung dieser Dienste durch die auch im Osten eingeführte bundesrepublikanische Sozialbürokratie und durch den ständigen betriebswirtschaftlichen Spagat führt zu erheblicher Frustration bei den Verantwortungsträgern. Hartmut Storrer hat das in einem sehr lesenswerten, sehr bitteren Beitrag für die neue caritas1 beschrieben. Erst der Ausbau und die deutliche Erweiterung der Caritasangebote in den 1990er Jahren, dann die seit etwa einem Jahrzehnt stattfindende Konsolidierung, die angestrengte Absicherung und bisweilen der Rückbau von Diensten - Ernüchterung ist eine noch recht sachliche Beschreibung des aktuellen ostdeutschen Seelenzustandes. Die mittlerweile praktizierte Form des Arbeitsrechts, in deren Regelungsumfang und Lagerbildung der in der ostdeutschen Caritas ursprünglich gepflegte Ansatz gelebter kirchlicher Gemeinschaft nicht mehr wiederzuerkennen ist, trägt das Ihre zu dieser Lage bei.
Vielleicht ist das nur ein Generationenproblem, und kommende Führungskräfte der Caritas Ost gehen unbefangener an solche Herausforderungen heran. Vielleicht ist aber auch der Mantel, den sich die ostdeutsche Caritas in den Aufbaujahren der 1990er Jahre angezogen hat, heute einfach zu groß. Wir dürfen sehr dankbar dafür sein, an wie vielen Orten und in wie vielen Arbeitsbereichen Caritasangebote für Menschen in Not bestehen. Dahinter steckt ein großes Engagement unserer Mitarbeiter(innen), getaufter und ungetaufter, und nicht zu vergessen der Leitungsverantwortlichen. Eine Diaspora-Caritas muss mutig bei der Erschließung ihrer Arbeitsfelder sein, aber sie muss und sie kann nicht flächendeckend versorgen. Dabei ist hier allen bewusst, welchen Wert die Caritas als Teil einer dienenden "Kirche nach außen" darstellt, wie es Bischof Joachim Reinelt wiederholt formuliert hat. Das im Bistum Erfurt begangene Elisabethjahr, das pastorale Zukunftsgespräch in Magdeburg, die Begegnungen mit unseren tschechischen und polnischen Nachbarbistümern - an vielen Orten haben wir diesen weiterbestehenden kirchlichen Auftrag der Caritas in unserer säkularen Gesellschaft reflektiert.
Wird die deutsche Caritas östlicher? Diasporagemäßer? Das ist nicht die Erwartung der ostdeutschen Caritasverbände. Die Erwartung ist vielmehr, dass die von unserem gesamten Verband zu gestaltenden Rahmenbedingungen so gesetzt sind, dass der caritative Dienst auch unter den Bedingungen des Ostens unterstützt und gefördert wird. Die guten und die weniger guten Erfahrungen, die wir in einer solchen Arbeitssituation machen, bringen wir in die verbandliche Diskussion freimütig ein. Vielleicht werden sie angesichts der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse in unserem Land in Zukunft auch andernorts von Wert sein.
Anmerkung
1. Storrer, Hartmut: 20 Jahre Mauerfall: Dem Aufbruch folgt Ernüchterung. In: neue caritas Heft 19/2009, S. 26-29.