„Ich wurde hin und her geschickt, keiner fühlte sich zuständig“
Um das System der Hilfen in Wohnungsnotfällen optimieren zu können, ist es notwendig, die Perspektive der Betroffenen zu kennen und zu berücksichtigen. Dies gilt umso mehr für die Gruppe der jungen Menschen in Wohnungsnot, die von den Akteuren des professionellen Hilfesystems oft als schwierig zu erreichende Klientel beschrieben wird mit geringer Frustrationstoleranz für die Anforderungen der Hilfen.
Im Rahmen von "WohnPerspektiven"1, einem gemeinsamen Projekt des Diözesan-Caritasverbandes Münster, der Caritasverbände Kleve und Moers-Xanten, des Vereins für katholische Arbeiterkolonien in Westfalen sowie des Unternehmens "StadtRaumKonzept" sollten Menschen in Wohnungsnotfällen mit ihren Erfahrungen und Wünschen zu Wort kommen. "StadtRaumKonzept" übernimmt die wissenschaftliche Begleitung des Projektes.
Am Anfang stehen immer Exklusionserfahrungen
Zielgruppe von "WohnPerspektiven" sind junge Männer und Frauen zwischen 15 und 27 Jahren in Wohnungsnotfällen. Dazu zählen von Wohnungslosigkeit bedrohte junge Menschen in Wohnungen (vor eskalierenden Konflikten, bei Kündigung, Räumungsklage oder Sanktionen im Rahmen des SGB II) und vor ungesicherter Entlassung aus Haft und Einrichtungen. Darüber hinaus sind dies junge Wohnungslose in qualifizierten Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, in Notunterkünften sowie außerhalb von Einrichtungen (auf der Straße oder bei Verwandten/Bekannten vorübergehend untergekommen).
Dahinter verbirgt sich eine äußerst heterogene Gruppe, deren Lebenslagen durch weitere Faktoren beeinflusst sind, zum Beispiel Sucht- und Drogenproblematiken, psychische Erkrankungen, Straffälligkeit, unzureichende Ausbildung, Langzeitarbeitslosigkeit. Die Wohnungsnot junger Menschen ist ein Ausdruck vielfältiger sozialer Exklusionserfahrungen, die sich in unterschiedlichen Lebenslagen manifestieren und in Bereichen wie Einkommen, Bildung, Arbeit, Gesundheit, kultureller Teilhabe sichtbar werden.
Um die Lebenssituation junger Menschen in Wohnungsnot abbilden zu können, führten die Projektmitarbeiter(innen) von "WohnPerspektiven" in den Projektregionen, dem Kreis Borken, dem Kreis Kleve und der Region Moers-Xanten, von Juni bis Oktober 2011 teilstandardisierte Interviews mit insgesamt 56 Personen. Diese fanden als offene Gespräche in den Räumen von sozialen Trägern, im öffentlichen Raum oder in der Wohnung der Befragten statt. Die Auswertung der Interviews erfolgte übergreifend für die drei Regionen (s. Abbildung 1).
70 Prozent der Befragten sind männlich, 30 Prozent weiblich. Die größte Gruppe der Befragten ist mit 54 Prozent im Alter von 18 bis 21 Jahren. Älter und damit in der Altersspanne zwischen 22 und 25 Jahren sind 34 Prozent der Befragten. Elf Prozent der Befragten waren 26 Jahre alt. Nur ein Befragter war jünger als 18 Jahre.
Knapp 40 Prozent der Befragten befanden sich zum Zeitpunkt des Interviews in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nach § 67 SGB XII. 25 Prozent waren aufgrund ihrer Wohnungsnotfallsituation bei Freunden und Bekannten untergekommen. Rund 20 Prozent lebten in einer eigeen Wohnung. In den beiden zuletzt genannten Wohnformen beschrieben die Befragten ihre Wohnsituation meist als prekär und instabil aufgrund von Zahlungsschwierigkeiten und Konflikten. Darüber hinaus befand sich ein Teil der Befragten in Notunterkünften oder ehrenamtlich getragenen Wohnangeboten für junge Wohnungslose (16 Prozent). Für gewöhnlich fehlen jungen Menschen in Wohnungsnotfällen durchgängige Einkommensquellen. Ein regelmäßiges Einkommen aus eigener sozialversicherungspflichtiger Erwerbsarbeit ist nur bei drei von 56 Befragten vorhanden.
Wohnungsnot hat nicht nur eine Ursache
Meist sind es Konflikte und fehlende Ressourcen in der Herkunftsfamilie, die junge Frauen und Männer in die Wohnungslosigkeit führen.
Überwiegend wird die Wohnungsnot junger Menschen durch das ungesicherte Verlassen der familiären Wohnung ausgelöst (rund 62 Prozent der Befragten). Deutlich seltener geschieht dies infolge einer Kündigung der eigenen beziehungsweise partnerschaftlich oder familiär genutzten Wohnung durch den Vermieter oder aufgrund ungesicherter Entlassung aus Kliniken, Haft oder stationären Einrichtungen der Jugendhilfe (jeweils rund 16 Prozent der Befragten).
Die Befragung belegt, dass die hinter den konkreten Auslösern liegenden Ursachen für das Entstehen eines Wohnungsnotfalls komplex und nicht pauschal zu beschreiben sind. Vielmehr zeigen die Schilderungen der Befragten, dass es stets die Gleichzeitigkeit mehrerer Problemlagen ist, die zur Wohnungslosigkeit führen kann. Die Ausprägungen und Wirkungszusammenhänge dieser multiplen Problemlagen können sich von Fall zu Fall stark unterscheiden. Dies macht eine individuelle Hilfeplanung notwendig. Typische Ursachenbündel in den Biografien der Befragten, die wiederkehrend eine Wohnungsnot ausgelöst haben, lassen sich nicht identifizieren. Einzig wiederkehrendes Moment ist, dass private Konflikte den Wohnungsverlust auslösen und gleichzeitig der Rückgriff auf private Ressourcen die zentrale Bewältigungsstrategie ist - verbunden mit persönlichen Unterstützersystemen wie Freunde und Familie.
Private Hilfesysteme werden bevorzugt
Die jungen Menschen in Wohnungsnot nutzen Hilfen in dem ihnen bekannten lokalen Kontext und verbleiben am Ort.
Mehr als 75 Prozent der Befragten haben im Laufe der Wohnungsnotfallsituation auf die Hilfe von Personen zurückgegriffen, die ihnen nahestehen. Oft und wiederkehrend werden diese individuellen Bewältigungsstrategien den qualifizierten Hilfen vorgezogen und gehen unmittelbar mit dem Verbleib am Ort beziehungsweise in der Region einher. Dabei ist der Rückhalt durch ihr soziales Umfeld (Freunde, Familie), verbunden mit eigenen Kenntnissen über die lokalen Strukturen, maßgeblich für die Ortsgebundenheit der Betroffenen.
Trotz aller Konflikte stellen Freunde und Angehörige den jungen Wohnungslosen immer wieder Ressourcen bereit, auch beim Zugehen auf professionelle Hilfen. Bestimmte Szenen außerhalb der Region, vor allem in den Großstädten an Rhein und Ruhr, üben durchaus eine Anziehungskraft auf die Befragten aus, werden jedoch genauso oft negativ beschrieben. Von ihnen geht die Gefahr aus, die Wohnungslosigkeit und damit gegebenenfalls zusammenhängende Suchterkrankungen zu manifestieren. Die Rückkehr in die Heimatregion verbinden die Befragten mit der Hoffnung auf eine bessere Unterstützung.
Auch bestimmte Ressourcen im Bereich Mobilität und Kommunikation stehen den jungen Menschen zur Verfügung. Sie dienen vor allem dem Aufrechterhalten sozialer Kontakte und werden nicht dazu genutzt, institutionelle Hilfen in Anspruch zu nehmen.
Mobil - nur um Freunde und Verwandte zu besuchen
In ihrem Alltag bewegen sich die Befragten innerhalb eines Radius zwischen einem und drei Kilometern um ihren jeweiligen Wohnort. Dennoch legen die meisten Betroffenen regelmäßig auch Wege in andere Städte und Gemeinden zurück. Fast 90 Prozent der zurückgelegten Wege haben die Pflege und den Erhalt persönlicher Beziehungen zum Ziel. Nur äußerst selten verlassen die Befragten ihren Wohnort zu anderen Zwecken, etwa zur Arbeit, zum Einkaufen oder zur übrigen Freizeitgestaltung. Um Verwandte und Freunde zu besuchen, werden hingegen zum Teil beachtliche Strecken (bis zu 70 Kilometer) überwunden, durchschnittlich rund 14 Kilometer.2
Junge Menschen in Wohnungsnot erfahren das professionelle Hilfesystem oft als brüchig, unzureichend, zersplittert und zu schlecht ausgestattet, um angemessen auf ihre Situation zu reagieren.
Vor diesem Hintergrund können Lösungen aus Sicht der jungen Klienten kaum angenommen werden. Wechselseitige Abbrüche und Ablehnungen sind das Ergebnis. Ambulante Beratungsangebote der Wohnungslosenhilfe, die durchaus auch im ländlichen Raum vorhanden sind, verkürzen und erleichtern den Weg durch die Hilfeangebote immens. Diese Angebote übernehmen die Funktion eines Fallmanagers und können so adäquat in Hilfen vermitteln. Aus Sicht der Betroffenen ist das Hilfesystem dennoch deutlich zu verbessern.
Sie wünschen sich mehr Transparenz und leicht zugängliche Informationen. Das Internet als Informationsmedium stand in der Befragung hinter klassischen Medien wie Flyer und persönlichem Gespräch zurück. Es wird bis dato kaum zur Information über Hilfen und Ansprüche von den jungen Erwachsenen genutzt. Verbesserungen wünschen sich die Befragten auch im Hinblick auf die Qualität der Beratung. Dabei geht es ihnen nicht darum, Sonderstrukturen für ihre spezifische Lebenslage zu haben. Gewünscht werden möglichst verlässliche, lokale, sich zuständig fühlende Ansprechpartner, die die spezifischen Bedarfe und Möglichkeiten der Betroffenen quer zu den bestehenden Angeboten ernst nehmen. Die Biografien der Befragten zeigen, dass sie oft einen langen Gang durch verschiedene Institutionen hinter sich haben. Sie erwarten von einem Hilfesystem, dass sich die Hilfen besser und rechtzeitig vernetzen, um diese Wege zu verkürzen oder zu begleiten. Bezahlbarer einfacher Wohnraum für die Entwicklung einer eigenen Lebensperspektive war eine weitere Forderung der Befragten.
Konsequenzen aus der Betroffenenbefragung
Durch die Befragung liegen nicht nur sehr differenzierte Lebensbiografien junger, von Wohnungslosigkeit betroffener Menschen vor, auch Abbrüche im Hilfeverlauf, Widersprüche in der Hilfelandschaft und Unterschiede der Bearbeitung von Wohnungslosigkeit in einzelnen Sozialräumen werden deutlich. Gerade die Situationsbeschreibungen aus dem Blickwinkel der Zielgruppe halten den verschiedenen Akteuren und zuständigen Institutionen deutlich einen Spiegel vor und zeigen die Begrenztheit von Hilfen auf.
Die Verantwortlichkeit für die Entwicklung angemessener Lösungsstrategien liegt bei den Akteuren vor Ort. Die Befragung zeigt, dass lokal entwickelte Vorgehensweisen ein richtiger Weg sein könnten. Diese sollten sich darauf konzentrieren, konkrete Abläufe von Hilfen zwischen verschiedenen Akteuren und Unterstützern in Familie und Freundeskreis zu verbessern und verbindlich zu vereinbaren. Gefragt sind alle Akteure, in deren Zuständigkeitsbereiche die jungen Menschen in Wohnungsnot fallen (Jobcenter, Sozialamt, Ordnungsamt, Jugendamt).
Die Wohnungslosenhilfe (nach § 67 SGB XII) stößt dabei automatisch an die institutionellen Altersgrenzen, die für junge Menschen in Wohnungsnot ein massives Hindernis bei der Bewältigung ihrer Notlage darstellen. Für die Betroffenen ist es nicht begreiflich, warum ein "Verschiebebahnhof" zwischen Jugendhilfe, SGB-II-Träger und Wohnungslosenhilfe besteht. Sie verlieren dadurch wertvolle Zeit, Energie, Ressourcen und Chancen. "WohnPerspektiven" zieht daraus die Konsequenz, dass ein "Verschiebebahnhof" nicht hinnehmbar ist. Strukturelle Lücken müssen durch lokale, alternative Lösungen sowie durch politische und gesetzgeberische Initiativen auf überregionaler Ebene geschlossen werden.
Ambulante Beratungsstellen helfen früh
Das Bestehen multipler individueller Problemlagen darf nicht als alleinige Ursache für die komplexen Hilfeverläufe herhalten. Denn weitere Ursachen liegen in den Strukturen und Angeboten vor Ort. So lassen die Ergebnisse der Betroffenenbefragung den Schluss zu, dass sich das Vorhandensein von ambulanten Beratungsangeboten mit klarem Zielgruppenbezug positiv auf die Dauer und Komplexität der Hilfeverläufe auswirkt. Dort wo ambulante Beratungsstellen etabliert sind, tauchen sie meist früh in den beschriebenen Hilfeverläufen auf. Sie wirken als Drehscheibe zu anderen Angeboten, auch wenn der weitere Verlauf des Falles der Beratungsstelle oft verborgen bleibt und damit vonseiten der Beratenden gegebenenfalls als unbefriedigend empfunden wird.
Schließlich zeigt die Befragung, dass die Hilfeverläufe der Betroffenen in den ländlichen Regionen davon abhängen, wie gut bekannt und vernetzt die Akteure mit ihren Angeboten sind. Wo die Aufgabenteilung zwischen Jugendhilfe, Wohnungslosenhilfe und Sozialhilfe klar geregelt und kommuniziert ist, gelingt es den Betroffenen schneller, die Hilfe zu bekommen, die sie stabilisiert. Unabhängig von den Bedingungen des ländlichen Raums ist damit die Vernetzung von Hilfen eine wesentliche Voraussetzung für deren adäquate Wirkung.
"WohnPerspektiven" zieht aus der Betroffenenbefragung die Konsequenz, dass eine frühzeitige und aktivierende Beteiligung der jungen Menschen in Wohnungsnotfällen ein notwendiges Instrument im Hilfeprozess ist. Diese enthält auch eine routinierte Dialogbereitschaft aller Akteure bezogen auf den Einzelfall und eine sozialplanerische und sozialpolitische Verantwortlichkeit bezogen auf die jeweiligen Sozialräume.
Weitere Informationen und die vollständige Auswertung der Betroffenenbefragung unter: www.wohn-perspektiven.de
Anmerkungen
1. Gefördert werden das Projekt "WohnPerspektiven" und die Befragung durch das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Aktionsprogramms gegen Obdachlosigkeit.
2. Die angegebenen Distanzen beruhen auf der Messung der Luftlinienentfernungen zwischen den jeweiligen Orten, die von den Befragten im Interview genannt beziehungsweise auf einer Karte markiert wurden.