Gleiche Chancen auf Gesundheit
Auch in der wohlhabenden Bundesrepublik Deutschland gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem sozialen Status eines Bürgers und seinem Gesundheitszustand. Die Ursachen dafür liegen nicht in erster Linie im Gesundheitswesen. Viel entscheidender sind die politischen Rahmenbedingungen des Bildungs- und Arbeitsmarktsystems sowie die Familien- und Sozialpolitik. Deshalb müssen diese Politikbereiche verstärkt das Ziel der Armutsprävention verfolgen - denn die Vermeidung von Armut entfaltet gleichzeitig positive Wirkungen auf die gesundheitliche Chancengleichheit. Aber nicht nur die politischen Akteure, sondern auch die freie Wohlfahrtspflege steht in der Verantwortung. Ihre Hilfen für Familien, Kinder und Jugendliche müssen sich viel stärker im Bereich von Prävention und Gesundheitsförderung profilieren, als dies bislang der Fall ist.
Menschen mit geringerem Einkommen, geringerer Bildung und niedrigem beruflichen Status sind häufiger und schwerer krank als Wohlhabende - und sie haben eine deutlich geringere Lebenserwartung. Die Neuerkrankungsraten bei Lungenkrebs beispielsweise sind für Männer im untersten Einkommensquintil gegenüber jenen im obersten Einkommensquintil um das Siebenfache erhöht. Statistisch signifikant sind auch die Unterschiede bei Diabetes mellitus und koronaren Herzerkrankungen. Bei Männern der niedrigsten Einkommensgruppe liegt die mittlere Lebenserwartung bei 70 Jahren, bei denen aus der höchsten Einkommensgruppe bei 81 Jahren. Bei den Frauen beträgt der Unterschied acht Jahre (85 Jahre bei den wohlhabenden gegenüber 77 Jahre bei den armen).1 Aktuelle Daten der Rentenversicherung legen nahe, dass sich dieser Abstand in der Lebenserwartung in den letzten Jahren noch vergrößert hat.
Doch die gesundheitliche Benachteiligung eines Menschen manifestiert sich keineswegs erst am Ende eines (möglicherweise entbehrungsreichen) Lebens. Vielmehr zeigt sich der soziale Gradient2 bei der Verteilung gesundheitlicher Chancen bereits im Säuglingsalter, deutlicher noch später im Kindergarten- und Schulkindalter. Untergewicht oder plötzlicher Kindstod finden sich häufiger bei Kindern von Müttern mit geringem Einkommen und geringer Bildung. Entsprechendes gilt für unfallbedingte Todesfälle, für Entwicklungsverzögerungen, psychische Belastungen, für Fehlernährung und vieles mehr. Nur von den atopischen Erkrankungen wie der Neurodermitis sind Kinder aus wohlhabenden Familien stärker betroffen. Es gilt: "Die wichtigste Determinante für die Gesundheit der Kinder ist die Lebenslage ihrer Eltern."3
Armut macht krank
Erklärungsansätze für die gesundheitliche Ungleichheit konzentrieren sich auf folgende Faktoren: die gesundheitsbezogenen Konsequenzen materieller Nachteile, psychosoziale Belastungen und das individuelle Gesundheitsverhalten.4 Interessanterweise fehlt in der Aufzählung die Erklärungsvariable "Zugang zu Gesundheitsleistungen". Tatsächlich ist dieser Ursachenkomplex in Deutschland, wo über 99 Prozent der Bevölkerung krankenversichert sind (circa 90 Prozent davon gesetzlich, die anderen privat) und zumindest dem Anspruch nach ein egalitärer Zugang zu Gesundheitsleistungen besteht, nicht ausschlaggebend.
Schwerer wiegen beispielsweise der Verzicht auf gesundheitsrelevante Güter infolge materieller Beschränkungen: gesunde Nahrungsmittel, ein gesundes Wohnumfeld, Erholungsreisen, Freizeitgestaltung, Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen, Verzicht auf soziale Absicherung für das Alter, Unfälle und anderes mehr.
Die mit Armut und sozialer Ausgrenzung verbundenen Stressfaktoren können Familien überlasten und die Bewältigungsressourcen der einzelnen Mitglieder überfordern. Insbesondere langandauernde Armutserfahrungen und Langzeitarbeitslosigkeit führen zur Erfahrung der Perspektivlosigkeit, die sich auf alle Mitglieder einer Familie und ihr Wohlbefinden auswirken. "Es kommt zu einem Teufelskreis zwischen dem Unvermögen, die Probleme innerhalb und außerhalb der Familie zu überwinden, und der Zunahme sozialer Isolation"5, die wiederum belastende Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus hat und dazu führt, Hilfsangebote anzunehmen.
Die dritte Erklärungsvariable schließlich bezieht sich auf die Wirkung eines negativen Gesundheitsverhaltens und den Lebensstil. Rauchen, Bewegungsmangel, starkes Übergewicht (Adipositas), ein häufigerer Verzehr von Brot, Pommes frites oder Wurst sind in armutsgefährdeten Einkommensschichten verbreiteter als bei Besserverdienenden. Ebenso deutlich sind die Unterschiede bei der Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen, präventiven Angeboten und der Nutzung von Gesundheitsinformationen. Der Zusammenhang von schlechten Lebensgewohnheiten und bestimmten Erkrankungen liegt auf der Hand. Zudem bedient diese individualisierende Deutung bestehende Stereotypen über die "Unterschichten", die es sich mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher bequem machen, anstatt einen Nordic-Walking-Kurs zu besuchen. Dennoch greift dieser Erklärungsansatz zu kurz, denn: "Mittlerweile gibt es ausreichende Belege dafür, dass die Gesundheit der Menschen von ihren sozialen Verhältnissen geprägt wird und nicht primär aus individuellen Verhaltensweisen resultiert."6
Die Frage, worin die Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit liegen, ist letztlich nicht abschließend beantwortet. Entsprechend herausfordernd sind Lösungsansätze für diese unbefriedigende Situation. Warum sind gesundheitsbelastende Lebensgewohnheiten schichtspezifisch verbreitet? Und wie kann man Familien darin unterstützen, gesündere Lebensweisen in ihren Alltag zu integrieren? Denn eines ist gewiss: Auch die alleinerziehende Mutter aus dem Prekariat weiß genau, dass ein Apfel als Zwischenmahlzeit gesünder ist als ein Schokoriegel.
Es spricht vieles dafür, dass - neben einer wirklich ernsthaften Bekämpfung der Armut bei strukturell benachteiligten Bevölkerungsgruppen - hier Hilfen wirksam sein können, die auf den ersten Blick gar nicht gesundheitsrelevant sind: die Angebote der Familien-, der Kinder- und Jugendhilfe. Als einer der bedeutendsten Träger dieser Hilfen ist die Caritas gefragt.
Prävention ist eine Aufgabe für die Caritas
Die gesundheitsbezogene Prävention bezieht sich darauf, bestimmte Erkrankungen, ihre Übertragung oder Verschlimmerung zu vermeiden. Prävention ist also immer Krankheitsprävention. Zu den präventiven Interventionen gehören daher Impfungen, Rehabilitation oder Früherkennungsuntersuchungen. Auch Träger der Caritas sind in diesem Bereich traditionell stark verortet, man denke an die Müttergenesung, die Suchtberatung oder die Kliniken.
Die Ziele der Gesundheitsförderung dagegen reichen weiter, und die Akteure für diese Interventionen entstammen nicht allein dem medizinischen System. Die Ziele sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. "Gesundheitsförderung ist ein komplexer sozialer und gesundheitspolitischer Ansatz, der ausdrücklich sowohl die Verbesserung von gesundheitsrelevanten Lebensweisen als auch die Verbesserung von gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen umfasst. Gesundheitsförderung will nicht nur individuelle Lebens- und Handlungsfähigkeiten beeinflussen und Menschen zur Verbesserung ihrer Gesundheit befähigen. Sie zielt darüber hinaus auf ökonomische, soziale und kulturelle Faktoren und auf die politische Intervention zur Beeinflussung dieser gesundheitsrelevanten Faktoren."7 Die Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 1986 für die Praxis der Gesundheitsförderung nennt vier Handlungsstrategien:
- Voraussetzungen (für die Gesundheit) sichern;
- Interessen vertreten (advocacy);
- befähigen und ermöglichen (enabling);
- vermitteln und vernetzen (mediating).
Gesundheitsförderung bedeutet also Befähigung, sie bedeutet Anwaltschaft und sie bedeutet weiterhin die aktive Gestaltung sozialer Infrastruktur und die Stiftung von Solidarität. Damit gehört die Gesundheitsförderung zum originären Auftrag der Caritas.
Besonders herausgefordert sind die Angebote der Familienhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe. Ihre Rolle kann im Befähigen und Ermöglichen gesundheitlicher Chancen liegen. Es geht darum, vorhandene Ressourcen zu stärken, um die Steigerung von Selbstwirksamkeit, um die Stärkung von Selbstvertrauen, persönliche Ansprache im Stadtteil, um die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, Wertschätzung der vorhandenen Ressourcen, Partizipation der Betroffenen. All das sind wichtige Elemente solcher zielgruppengerechter Angebote.
Familien müssen gezielt gestärkt werden
Die Familie ist für Kinder die wichtigste Sozialisationsinstanz. Das Gesundheitsverhalten und alle lebenspraktischen Fähigkeiten im weitesten Sinne sind Teil dieser Familiensozialisation. Daher sollten sich auch Strategien zur Prävention und Gesundheitsförderung auf jene Kinder und Eltern konzentrieren, die aufgrund ihrer Lebenslagen besonderen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind.
Der - fachlich wie politisch - viel zu wenig beachtete 13. Kinder- und Jugendbericht des Bundesfamilienministeriums8 aus dem Jahr 2009 hat die Zielgruppen für gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung eindeutig identifiziert: Kinder, die in Armut aufwachsen, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder mit Behinderung. Bei den Müttern müssen weiterhin Alleinerziehende als besonders Betroffene genannt werden.
Diese Familien brauchen individuell zugeschnittene, auch aufsuchende Hilfen, die sie wirklich in ihrem Alltag entlasten und damit eine gesundheitsfördernde Wirkung entfalten. Die Hilfen müssen niedrigschwellig und sozialräumlich organisiert sein. Diese Hilfeformen sieht der 13. Kinder- und Jugendbericht in der Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe: "Der Beitrag der Kinder- und Jugendhilfe besteht (…) in der besonderen pädagogischen Unterstützung von gesundheitsbezogener Prävention und Gesundheitsförderung bei ihren Adressatinnen und Adressaten."9 Denn diese Hilfen verfügen über ein fachliches Profil und aussichtsreiche Zugänge, um Eltern und Kinder zu erreichen. Indem sie bereits vorhandene Handlungsansätze nutzen oder konzeptionell ausarbeiten (beispielsweise das Haushaltsorganisationstraining HOT10), können sie Familien als gesundheitsfördernde Erziehungsinstanz stärken. Diese Hilfen setzen bei der gesundheitsrelevanten Alltagsgestaltung und bei der elterlichen Beziehung zu den Kindern an, einer gemeinsamen Freizeitgestaltung, einer gesunden und unfallvermeidenden Wohnumgebung, gesunder Ernährung und vielem mehr. Die Schnittstellen zu den Frühen Hilfen liegen auf der Hand.
Über die Zusammenhänge zwischen der Gestaltung des Familienalltags und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen fehlt es an Wissen, vor allem aber an Aufmerksamkeit. Wichtige Erkenntnisse hierzu liefert beispielsweise die AOK-Familienstudie 2010, die Familienritualen wie gemeinsamen Mahlzeiten eine wichtige Rolle bei der Stärkung der kindlichen Gesundheit zugeschrieben hat.11 Familien in ihrem Familienleben zu begleiten - das ist eine zentrale Aufgabe für die familienunterstützenden Dienste der Caritas. Hier gibt es Entwicklungsbedarf: Die Fachkräfte der Familienhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe benötigen spezifische Fortbildungen im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung. Das Tätigkeitsfeld darf sich nicht auf Erziehungsthemen, Beziehungsprobleme, Alltagsgestaltung und Haushaltsführung beschränken. Die Gesundheitsförderung muss fachlich integriert und konzeptionell entwickelt werden.
Ehrlicherweise muss erwähnt werden, dass das streng versäulte Sozialwesen für diese komplexen Hilfeformen keinen zuständigen Finanzierer kennt. Die Krankenkassen fühlen sich für diese primärpräventiven Aufgaben nicht zuständig - zumal sie sich ja nur auf einen kleinen Kreis benachteiligter (künftiger) Patient(inn)en beschränken. Die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe muss ohnehin oft genug in Lücken springen, die andere Kostenträger offen lassen, und hat keinerlei Ressourcen für zusätzliche Aufgabenzuschreibungen. Diese Kluft zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe zu überwinden hat uns ebenfalls der 13. Kinder- und Jugendbericht ins Stammbuch geschrieben.
Voraussetzungen (für die Gesundheit) sichern, Interessen vertreten, befähigen und ermöglichen, vermitteln und vernetzen - wenn wir diese Prinzipien umsetzen, wird Gesundheitsförderung zu einer Teilstrategie für mehr Gerechtigkeit.
Anmerkungen
1. Zu den Daten vgl. Lampert, Thomas: Armut und Gesundheit. In: Soziale Arbeit 10-11/2011, S. 391-396.
2. Der Maßstab, der den Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheitszustand beschreibt.
3. Rolf Rosenbrock, Leiter der Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin.
4. Siehe Lampert, Thomas, a.a.O.
5. Fernandez de la Hoz, Paloma, in: Diskurs 1/2004, S. 69.
6. Ebd. S. 66.
7. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Köln, 2011, S. 138.
8. Siehe www.bmfsfj.de, "Service", "Publikationen", Stichwortsuche "13. Kinder- und Jugendbericht".
9. Ebd., S. 249.
10. Markeninhaber von HOT ist die Caritas.
11. Siehe www.aok-bv.de, "Presse", "Veranstaltungen".