"Ich bin stolz, bei der Caritas zu arbeiten"
Als wir Im September vergangenen Jahres in Lviv (Lemberg) landeten, fühlten wir uns an den Film "Good Bye Lenin" erinnert. Anders als im Film, in dem zwei beherzte Kinder für ihre aus dem Koma erwachende Mutter die heile Welt des Arbeiter- und Bauernstaates DDR wiederaufleben lassen, schien es uns, als sei die Zeit hier in der Ukraine stehen geblieben. Der Bus, der uns vom Rollfeld abholte, war ein Relikt aus Sowjetzeiten, ebenso wie die Ankunftshalle des Flughafens. Das Flughafenpersonal behandelte uns so, wie man das in den "guten alten Tagen" gewöhnt war: Ein grimmig dreinblickender Uniformierter drängte und schob uns in die Halle, um die Türe gleich hinter uns energisch zu verriegeln. Und da war er auch wieder, dieser unverwechselbare Geruch nach den sparsam eingesetzten Putzmitteln der Sowjetzeit!
In den folgenden fünf Tagen erlebten wir die Widersprüche einer Bevölkerung, die nach Fortschritt und besseren Lebensbedingungen strebt, und verkrusteten staatlichen Strukturen, die einen Wandel verhindern. Hier in der Westukraine haben die Menschen dank des Internets und der Medien täglich vor Augen, wie das Leben für sie einfacher und besser sein könnte. Der behäbige Staatsapparat schreckt jedoch ausländische Investoren ab. Fortschritt findet allenfalls im Schneckentempo statt. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Caritas Ukraine als der soziale Arm der griechisch-katholischen Kirche. Besonders deutlich wurde dies für uns in der Begegnung mit Menschen, die zu den sozial schwächsten gehören. Unsere sechsköpfige Delegation bestand aus Caritas-international-Botschafter(inne)n und Mitarbeitenden der Caritas in Deutschland. Eine Woche lang begleiteten wir ukrainische Kolleg(inn)en, deren Arbeitsalltag einem endlosen Kampf von David gegen Goliath gleicht.
Von Europa abgehängt
Zurzeit beschäftigt die Caritas Ukraine rund 500 Fachkräfte in 20 regionalen Zentren. Unterstützt werden sie von schätzungsweise tausend ehrenamtlichen Helfer(inne)n. Sie begleiten und fördern in extremer Armut lebende Familien, Kinder, Menschen mit Behinderung und Menschen in besonderen Lebenslagen. Sie betreuen und versorgen HIV-Infizierte, Aidskranke sowie pflegebedürftige alte und kranke Menschen medizinisch.
Nach der Öffnung Osteuropas sieht sich die Ukraine heute in mehrfacher Hinsicht als Verlierer: Die Nähe zu Russland wird als bedrohlich empfunden. Zugleich sieht man sich als Vorzimmer der EU im Osten von der wirtschaftlichen Entwicklung in den Nachbarländern abgeschnitten. Nach der Osterweiterung der EU haben sich internationale Hilfsorganisationen aus diesen Ländern und ebenso aus der Ukraine zurückgezogen. Dies gelte auch für viele westliche Caritas-Organisationen, die bis dahin die Arbeit der Caritas Ukraine maßgeblich mitfinanziert hatten, berichtet Anatoliy Kozak, Generalsekretär der Caritas Ukraine. "Unser Ziel für die nächsten Jahre ist deshalb, unsere Arbeit und Hilfsangebote zu konsolidieren. Langfristig wollen wir von ausländischer Unterstützung deutlich unabhängiger werden", so Kozak. Das könne aber nur gelingen, wenn der Staat seine Fürsorgepflichten wahrnehmen würde und die Bessergestellten mehr Solidarität mit den sozial Schwächsten bewiesen.
Professionelle Hilfe braucht Zeit und Geld
Die 14-jährige Jelena1 ist Klientin der Tagesstätte für Kinder und Jugendliche der Caritas Lemberg. Sie lebt mit ihrem fünfjährigen Bruder, der Mutter und deren Lebensgefährten auf 15 Quadratmetern in einem ehemaligen Arbeiterwohnheim mit Gemeinschaftsküchen und Etagen-Toiletten. Trotz der beengten Verhältnisse ist für Jelenas Familie vieles besser geworden in den letzten drei Jahren, seit das Jugendamt die Caritas auf sie aufmerksam machte. Bei seinem ersten Hausbesuch fand Yaroslav, Caritas-Arzt und Psychologe, ein Chaos vor. Jelenas Mutter und ihr Lebensgefährte waren arbeitslos und alkoholkrank. Die vier Kinder, darunter der heute 17-jährige geistig behinderte Dimitriy und der fünfjährige Vasily, machten einen völlig verwahrlosten Eindruck.
Das Team der Caritas kümmerte sich intensiv um die Familie. Jelenas ältere Schwester ist inzwischen ausgezogen. Dimitriy lebt in einem Heim und kommt am Wochenende zu Besuch. Jelenas Mutter hat eine feste Arbeit gefunden. Jelena und Vasily gehen jeden Tag ins Caritas-Zentrum, das als Anlaufstelle für rund 80 Kinder und Jugendliche mit ähnlichen Schicksalen wochentags von 8 bis 20 Uhr geöffnet ist. Jelena nimmt an der Hausaufgabenhilfe und den Computerkursen teil, für den kleinen Vasily ist das Zentrum sein zweites Zuhause.
Viele der von der Caritas Ukraine in den vergangenen zehn Jahren betreuten Straßenkinder sind inzwischen erwachsen. Etwa ein Drittel von ihnen hat den Sprung geschafft, die Schule abgeschlossen und eine feste Arbeit gefunden. Die übrigen leben zum Teil von Gelegenheitsarbeiten, oft auch von Kleinkriminalität und manche weiterhin als Obdachlose auf der Straße.
Die Sozialarbeiter(innen) der Caritas pflegen den Kontakt zu den zuständigen staatlichen Stellen, den Jugend- und Sozialämtern. Diese verfügen in der Regel über keine eigenen Haushaltsmittel. So beschränkt sich die staatliche Unterstützung für die Arbeit der Caritas und anderer Hilfsorganisationen auf die Bereitstellung von Räumlichkeiten und finanzielle Beihilfen, die eher symbolischen Charakter haben.
Vor acht Jahren gab es in der Ukraine schätzungsweise 140.000 Straßenkinder. Heute greifen Behörden und Polizei hart durch. Vagabundierende und obdachlose Kinder und Jugendliche werden aufgegriffen und in staatliche Heime zwangseingewiesen. In den landesweit sechs Tagesstätten der Caritas betreuen Sozialarbeiter(innen) heute 1450 Kinder und Jugendliche in Krisensituationen. Ihre Eltern haben sie bei Großeltern zurückgelassen, um ihren Lebensunterhalt als Arbeitsmigrant(inn)en im Ausland zu verdienen, oder leben aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Alkohol- und Drogensucht in extremer Armut.
Engagement, das verbindet
Als Caritas-Mitarbeitende aus Deutschland, die gewohnt sind, in Pflege- und Tagessätzen zu rechnen, beeindruckten uns die Professionalität und das unerschrockene Engagement unserer ukrainischen Kolleg(inn)en. Wir beobachteten, wie diese ganz nebenbei ihren Klient(inn)en noch etwas zusteckten, obwohl sie selbst wenig verdienen. Uns faszinierten der große Einfallsreichtum und das Improvisationsgeschick, mit dem die ukrainischen Kolleg(inn)en Hilfe aus dem Nichts zaubern. Nach fünf Tagen, in denen wir mit Krankenschwestern der Hauskrankenpflege unterwegs waren, das Kinder- und Jugendzentrum in Lemberg, mehrere Tagesstätten für Menschen mit Behinderung sowie ein Reha-Zentrum für Suchtkranke besucht hatten, sprach eine Kollegin aus, was wir alle dachten: "Ich bin stolz, bei der Caritas zu arbeiten!"
Anmerkung
1. Die Namen der Kinder und Jugendlichen wurden geändert.