Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind kein Widerspruch
Im Juni 2011 hat die Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz das Papier "Chancengerechte Gesellschaft"1 vorgelegt. Sie wollte damit "eine Diskussion anregen", wie Reinhard Kardinal Marx im Vorwort (S. 7) schrieb. Doch die öffentliche Resonanz war bisher erstaunlich gering. Umso erfreulicher ist es, dass der inzwischen in Tübingen lehrende Sozialethiker Matthias Möhring-Hesse für das neue caritas-Jahrbuch 2012 "kritische Anmerkungen" zu diesem Papier verfasst hat.2 Ich möchte die Auseinandersetzung fortführen, weil Möhring-Hesse mit seiner Polemik dem Papier der Bischöfe nicht gerecht geworden ist und einen falschen Eindruck von ihm vermittelt. Dabei möchte ich gleich zu Beginn offenlegen, dass ich als Mitglied der von Reinhard Marx beauftragten Redaktionsgruppe "Partei" bin.
Matthias Möhring-Hesse beginnt seinen Beitrag damit, das neue Impulspapier der katholischen Bischöfe im Verhältnis zum gemeinsamen Sozialwort der beiden Kirchen von 1997 und zum Impulspapier "Das Soziale neu denken" von 2003 zu verorten. Während die Kommission VI mit "Das Soziale neu denken" einen "Abgesang auf den bundesdeutschen Sozialstaat" angestimmt habe, sei sie mit dem neuen Papier "ihrem Sozialwort wieder einen Schritt nähergekommen" - auch wenn Möhring-Hesse zugleich meint, die Bischöfe schienen dieses gemeinsame Wort "inzwischen ganz vergessen zu haben".3
Alle diese Behauptungen sind falsch. Das Impulspapier "Das Soziale neu denken", das den Sozialstaat nicht zerstören, sondern im Gegenteil für die Zukunft stärken wollte, forderte Reformen ein, die von der rot-grünen Koalition weitgehend umgesetzt wurden. Sie werden inzwischen von den meisten Sozialstaatsexperten und Ökonomen als wichtige Voraussetzungen dafür angesehen, dass Deutschland heute trotz Weltfinanzmarkt- und Schuldenkrise die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren hat. Insofern kann man auch behaupten, dass Deutschland jedenfalls bisher "gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen ist"4, ohne dass man daraus folgern müsste, die Bischöfe würden der Krise nicht "mehr an Bedeutung"5 zumessen. Das Gegenteil beweist allein das von der gleichen Kommission 2009 veröffentlichte Papier "Auf dem Weg aus der Krise. Beobachtungen und Orientierungen".
Ohne Teilhabe ist Freiheit nicht möglich
Anders als noch 1997 stehen jedoch heute bei den Debatten um soziale Gerechtigkeit realisierbare Chancen der Beteiligungsgerechtigkeit, Gefahren der Exklusion und das Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität im Vordergrund. Insofern stimmt es nicht, dass sich die Bischöfe "in der Zeit vertun"6, wenn sie heute - und das ist das Grundanliegen des Papiers - unterstreichen, dass die gegenwärtige Gesellschaft mit ihrer Betonung von Freiheit und individuellen Chancen nur dann gerecht sein kann, wenn die Menschen auch die Ressourcen haben, ihre Freiheit zu gestalten. "Dazu reichen formale Chancen nicht aus, sondern es werden soziale Anrechte nötig, die sie zu realisierbaren Chancen machen."7 Dazu gehören vor allem soziale Sicherheit, Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildung. "Deswegen muss eine freiheitliche Gesellschaft immer auch eine solidarische Gesellschaft sein."8
Ebenso falsch ist der Vorwurf Möhring-Hesses, das Kommissionspapier ignoriere, dass die für die Freiheit notwendigen Ressourcen ungleich verteilt seien. Auch meinen die Bischöfe nicht, dass es an den Betroffenen selbst liege, wenn die Freiheit nicht bei ihnen ankomme.9 Das Kommissionspapier bedauert vielmehr, dass die Ungleichheit zugenommen hat10, dass "geringer Qualifizierte auf schlecht bezahlte und unsichere Arbeitsplätze abgedrängt" würden und ihr Einkommen oft nicht ausreiche, "eine Familie mit dem selbst verdienten Geld zu ernähren".11 Die bekannten Arbeiten des Soziologen Heinz Bude, selbst Mitglied der Redaktionsgruppe des Papiers, haben freilich deutlich gemacht, dass es zusätzlich Prozesse der Selbst-Exklusion gibt, weil Menschen, die ihre Chancen als schlecht einschätzen und sich am Rande der Gesellschaft wiederfinden, oft nicht die Kraft aufbringen, real vorhandene Möglichkeiten zu nutzen. Das werfen die Bischöfe diesen Menschen aber nicht vor. Sie sollen nicht, wie Möhring-Hesse unterstellt, "zum richtigen Verständnis gebracht werden".12 Vielmehr blicken die Bischöfe auf die dahinterliegenden psychosozialen Probleme und fordern deshalb, "die klassischen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Instrumente der beruflichen Qualifizierung und Vermittlung mit Ansätzen einer individuellen, begleitenden Sozialarbeit zu verknüpfen"13. Gemeint ist damit genau das, was Möhring-Hesse dem Deutschen Caritasverband empfiehlt: sich zu fragen, "ob man die richtigen Angebote und diese in ausreichendem Maße bereithält, um Benachteiligten zu gleichwertigen Lebenschancen zu verhelfen, und ob man diese Angebote auch so erstellt, dass man keinen ihrer Adressaten benachteiligt oder gar ausschließt."14
Eine gewisse Ungleichheit gehört zur Freiheit
Auch geht es am Anliegen des neuen Impulspapiers vorbei, ihm eine zu hohe "Ungleichheitstoleranz"15 zu unterstellen. Sicher, wer Freiheit will, kann keine "Ergebnisgleichheit" wollen.16 Wenn Menschen unterschiedliche Berufe ergreifen, verschiedene Konsum-Entscheidungen treffen, unterschiedlich viel arbeiten, dann kommt es auch zu unterschiedlich hohen Einkommen und Vermögen. Wollten wir durch staatliche Maßnahmen diese Ungleichheiten im Sinne einer "Gleichmacherei"17 regelmäßig vollständig korrigieren, würde uns das zu Freiheits- einschränkungen führen, die kaum jemand erträglich fände - ganz abgesehen davon, dass dies die Motivation, etwas zu leisten, sich aus- und fortzubilden und sparsam zu wirtschaften, stark beeinträchtigen würde. Nur diese eigentlich trivialen Einsichten sind gemeint, wenn es im Impulspapier heißt: "Mit Freiheit ist notwendigerweise ein gewisses Maß an Ungleichheit verbunden, die sich schon aus der Einmaligkeit der Person ergibt."18
Möhring-Hesse meint demgegenüber, Gesellschaftskritik im Namen der Freiheit müsse anders aussehen, etwa als "Kritik daran, dass in dieser Republik einige mehr Einkommen und Vermögen, mehr Rechte und mehr Macht haben - und deshalb auch größere Freiheiten genießen."19 Damit rennt Möhring-Hesse jedoch offene Türen ein. Denn den Verfassern des Impulstextes war es ein wichtiges Anliegen, das derzeitige Ausufern von Ungleichheiten von Einkommen und besonders von Vermögen
einzugrenzen. Sie haben deshalb beispielsweise dazu aufgefordert, "über eine Ausweitung der Besteuerung - insbesondere bei sehr großen Vermögen"20 nachzudenken.
"Da der Einzelne häufig die notwendigen Ressourcen nicht alleine aufbringen kann, ist das Gemeinwesen subsidiär zur Hilfestellung verpflichtet."21 Dieser Satz dient Möhring-Hesse zum Nachweis einer "individualistischen Sicht von Freiheit"22 im Papier der Kommission VI. Er schreibt hingegen: "Nicht nur Einzelne sind auf die ‚Hilfestellung‘ der Gesellschaft angewiesen, sondern alle […]."23 Hier hat Möhring-Hesse den Text bewusst oder unbewusst missverstanden. Denn im grundsätzlich angelegten zweiten Teil des Papiers ist immer wieder von "dem Einzelnen" in einem generalisierenden Singular die Rede. Gemeint ist selbstverständlich, dass alle Menschen als Einzelne häufig auf Hilfe angewiesen sind.
Ein weiteres Missverständnis liegt darin, dass Möhring-Hesse dem Papier vorwirft, es spreche von "Chancengerechtigkeit" statt von "Chancengleichheit".24 Wir haben den Begriff der "Chancengleichheit" bewusst vermieden, weil wir mehr wollten, nämlich dass alle ein je individuell zu bemessendes Maß an Chancen bekommen, die sie brauchen, um ein in Freiheit selbstbestimmtes Leben führen zu können - was eben gerade nicht dadurch realisiert wird, dass allen die gleichen Chancen geboten werden. Das ist besonders wichtig im Bildungsbereich,
wo das Impulspapier für benachteiligte Kinder "aufsuchende Elternarbeit und Erziehungshilfen"25 und - übrigens durchaus kritisch gegenüber den kirchlichen Trägern - mehr katholisches Engagement für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche "jenseits der Gymnasien" fordert.26
Evangelium schätzt die Freiheit der Person
Obwohl Möhring-Hesse selbst konzediert, dass "sozialpädagogische Interventionen grundsätzlich paternalistisch angelegt sind", wirft er dem Papier vor, eine "paternalistische Haltung" zu propagieren, die wenig Rücksicht nehme auf die "Freiheit der Unterstützten" und sich damit "erneut auf die Seite derer [schlage], die in diesem Lande politische Verantwortung tragen".27
Ich gebe ohne weiteres zu, dass der Paternalismus-Verdacht im Blick auf katholische Oberhirten nicht ganz fernliegt, ich kenne aber kaum ein Papier katholischer Bischöfe aus den letzten Jahren, in dem der Wert persönlicher Freiheit so hochgehalten wurde wie hier und in dem so selbstkritisch mit dem bisherigen Verhältnis der katholischen Kirche zur Freiheit als "Faszinationswort der Moderne" umgegangen wurde: "Wesentliche Freiheitsrechte des Menschen mussten bis ins 20. Jahrhundert hinein auch gegen den teilweise erbitterten Widerstand der Kirche errungen werden. So konnte der fatale Eindruck entstehen, die christliche Botschaft stehe im Widerspruch zum Freiheitsstreben des Menschen. Das Gegenteil ist der Fall."28
Anmerkungen
1. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) - Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen (Hrsg.): Chancengerechte Gesellschaft. Leitbild für eine freiheitliche Ordnung. Bonn, 2011.
2. Möhring-Hesse, Matthias: Welche Freiheit braucht der Sozialstaat? In: neue caritas-Jahrbuch 2012, S. 64-70.
3. Möhring-Hesse, Matthias: a.a.O., S. 65.
4. DBK, a.a.O., S. 9.
5. Möhring-Hesse, a.a.O., S. 65.
6. Möhring-Hesse, a.a.O., S. 66.
7. DBK, a.a.O., S. 22.
8. DBK, a.a.O., S. 23.
9. Möhring-Hesse, ebd.
10. DBK, a.a.O., S. 15.
11. DBK, a.a.O., S. 12.
12. Möhring-Hesse, ebd.
13. DBK, a.a.O., S. 31.
14. Möhring-Hesse, ebd.
15. Möhring-Hesse, ebd.
16. DBK, a.a.O., S. 22.
17. DBK, ebd.
18. DBK, ebd.
19. Möhring-Hesse, S. 67.
20. DBK, a.a.O., S. 34.
21. DBK, a.a.O., S. 16.
22. Möhring-Hesse, ebd.
23. Möhring-Hesse, ebd.
24. Möhring-Hesse, S. 67 f.
25. DBK, a.a.O., S. 26.
26. DBK, a.a.O., S. 28.
27. Möhring-Hesse, S. 70.
28. DBK, a.a.O., S. 18.