Zukunftschancen durch Pflegestudiengänge
Die demografische Entwicklung in Deutschland - wie auch in den anderen westlichen Industrienationen - ist durch die Zunahme des Anteils älterer und alter Menschen gekennzeichnet, die häufig an mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden und die einen komplexen Versorgungsbedarf aufweisen. Diese Anforderungen und der sich weiter verschärfende Kostendruck im Gesundheitswesen stellen neue Ansprüche an die Qualität professionellen Handelns in der Pflege. Dabei orientieren sich Pflegende heutzutage nicht mehr ausschließlich an der Kompensation krankheitsbedingter Einschränkungen, sondern stellen auch die Förderung der Gesundheit des Menschen und seine Begleitung und Beratung in den Mittelpunkt des beruflichen Handelns. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass differenzierte Bildungswege in der Pflege erforderlich sind, welche darüber hinaus auch international anschlussfähig sind. In diesem Zusammenhang hat Deutschland nicht zuletzt im Vergleich zum westeuropäischen Bildungswesen in der Pflege einen erheblichen Nachholbedarf. Europaweit findet die Ausbildung für die Gesundheitsfachberufe - beispielsweise in der Pflege oder Physiotherapie - überwiegend an Hochschulen statt. Mit dem Bachelor-Abschluss wird in fast allen EU-Mitgliedstaaten die Berufsbefähigung und, damit verbunden, die Erlaubnis zur Ausübung des jeweiligen geregelten Berufes erworben.1 Der aktuelle Koalitionsvertrag2 von CDU, CSU und FDP konstatiert dementsprechend einen Reformbedarf der pflegeberuflichen Qualifizierung. In dem Vertrag ist vermerkt, dass die Pflegeberufe in der Ausbildung durch ein neues Berufsgesetz grundlegend modernisiert und zusammengeführt werden sollen. Welche Aspekte genau mit der Modernisierung der Ausbildung verbunden sind, wird allerdings nicht ausgeführt. Die Zusammenführung der Ausbildung der Berufe der Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege und der Altenpflege allein ist noch kein Garant dafür, dass sich diese Reformen positiv auf die Qualifizierung in den Pflegeberufen auswirken werden.
Der Deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe (DBR) fordert ein solches generalistisches Berufsprofil und geht von einer vorübergehenden Parallelität der pflegerischen Ausbildung an Berufsfachschulen und an Hochschulen aus. Schrittweise soll die pflegerische Ausbildung ganz in den tertiären Bereich3 verlagert werden. Unter anderem erforderten - so führen die Mitglieder des Rates weiter aus - die aus dem 2008 in Kraft getretenen Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) resultierenden erweiterten und spezialisierenden Kompetenzen durch die eigenverantwortliche Ausführung heilkundlicher Tätigkeiten eine neue Rolle der Pflegeberufe.4
Die Etablierung von pflegebezogenen Studiengängen kann als Ausdruck des Bestrebens gewertet werden, auf ein solches komplexes berufliches Aufgabenfeld vorzubereiten. Bereits seit Ende der 1980er Jahre ist es in Deutschland möglich, in einem pflegebezogenen Studiengang zu studieren. Seit dieser Zeit hat sich die akademische Aus-, Fort- und Weiterbildung stark weiterentwickelt. Derzeit existieren etwa 50 Pflegestudiengänge, welche sich hauptsächlich auf Management- und Lehraufgaben, auf Pflegewissenschaft und seit kürzerer Zeit auch auf die Ausbildung in den Pflegeberufen konzentrieren. Bei der akademischen Berufsausbildung, den sogenannten grundständigen Studiengängen, kann zwischen drei grundsätzlichen Konzeptionen unterschieden werden:
Integrierte Studiengänge
Bei integrierten Studiengängen ist die berufliche Ausbildung vollständig in das Hochschulstudium eingegliedert. Das bedeutet, dass sowohl hochschulrechtliche Vorgaben - wie beispielsweise die Modularisierung der Studiumsinhalte - als auch berufsrechtliche Bestimmungen wie beispielsweise die Anzahl der Unterrichtsstunden für bestimmte Fachgebiete - angewendet werden. Die pflegepraktische Ausbildung findet an geeigneten Kooperationseinrichtungen des Gesundheitswesens statt. Das bedeutet auch, dass die Anleitenden in der Pflege über einen Hochschulabschluss, das heißt beispielsweise über einen Bachelor-Abschluss, verfügen. Studienorte sind nach Angaben des DBR (2010): Freiburg, Bochum, Bielefeld, Rheine sowie Berlin.
Verzahnte oder verschränkte Studiengänge
Parallel zur beruflichen Ausbildung belegen die Auszubildenden in bestimmtem Umfang spezifische Studienangebote an der Hochschule. Das bedeutet, dass sie bereits zu Beginn des - anfangs als Teilzeitstudium konzipierten - Studiums über einen Ausbildungsplatz an einer kooperierenden Ausbildungseinrichtung der Pflege verfügen müssen. Damit besitzen sie einen Doppelstatus als Schüler(in) und Studierende(r).
Nach Abschluss der Berufsausbildung mit der staatlichen Prüfung wird das Studium als Vollzeitstudium fortgeführt und in der Regel nach insgesamt 4,5 Jahren mit dem Bachelor-Abschluss beendet. Bei dieser Form des Studiums mischen sich das Berufsbildungssystem und das Hochschulsystem nicht. Studienorte sind laut DBR (2010): Hamburg, Hannover, Wolfsburg, Neubrandenburg, Halle, Friedensau, Berlin, Köln, Mainz, München, Nürnberg; hinzu kommt Freiburg voraussichtlich ab 2011.
Studiengänge ohne Erlaubnis zum Führen bestimmter Berufsbezeichnungen
Die praktische und theoretische Berufsausbildung findet an der Hochschule statt. Praktische Studienanteile sind in kooperierenden Einrichtungen des Gesundheitswesens zu absolvieren. Nach Abschluss des Hochschulstudiums erfolgt keine staatliche Prüfung nach den berufsrechtlichen Vorgaben. Das bedeutet, dass das Studium zwar mit dem Bachelorgrad abschließt, nicht jedoch mit der Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpfleger(in) oder Altenpfleger(in). Wenn Hochschulabsolvent(inn)en die Berufszulassung erwerben möchten, ist dies durch eine nachträgliche anteilige Absolvierung der Pflegeausbildung (in der Regel ein Jahr inklusive der staatlichen Prüfungen) möglich.
Studienorte sind nach Angaben des DBR (2010): Fulda, Darmstadt, Frankfurt, (Freiburg bis 2010).
Gemeinsames Kern-Curriculum vorgeschlagen
Die Heterogenität der akademischen Ausbildung in den Pflegeberufen zeigt sich nicht nur in den beschriebenen drei grundlegenden Konzeptionen, sondern auch darin, dass jede Hochschule in ihren
Curricula jeweils unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte zugrunde legt. Dies führt zu einem derzeit unklaren Profil der akademischen Pflegeausbildung in Deutschland. In diesem Zusammenhang werden auch Vorbehalte gegenüber einer akademischen Pflegeausbildung genannt. Der "Mehrwert" einer akademischen Ausbildung - so lautet die Kritik auch aus der Berufsgruppe der Pflegenden selbst - sei unklar, es würden Theoretiker ausgebildet, die den praktischen Pflegehandlungen nicht gewachsen seien, mittlere Bildungsabschlüsse beziehungsweise die Qualität der Ausbildung an den Ausbildungseinrichtungen der Pflege würden abgewertet. Befürchtet wird auch der generelle Abbau von Ausbildungsplätzen (Hanika 2009). Diese Kritik ist einerseits mit der Verunsicherung in Bezug auf eigene berufliche Perspektiven zu begründen, andererseits spielen auch die Heterogenität der Studiengänge und deren mangelnde inhaltliche Transparenz eine Rolle.
Eine Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP) schlägt deshalb folgende Gegenstandsbereiche der Pflegewissenschaft und im Rahmen akademischer Ausbildung zu vermittelnde Kompetenzen der Pflegenden für ein Kerncurriculum vor, das einen Orientierungsrahmen für die Ausgestaltung der akademischen Pflegeausbildung bieten soll:
- wissenschaftstheoretische Grundlagen,
- Grundbegriffe, Pflegetheoretische Diskussion,
- Methodologie und Forschungsmethodik,
- nationale und internationale Entwicklungen vor dem historischen Hintergrund der Pflegeberufe und der Pflegewissenschaft,
- gesellschaftlicher und institutioneller Rahmen,
- Pflegeprozess.5
- Gleichzeitig liegen dem Kerncurriculum Pflegewissenschaft folgende Kompetenzen zugrunde, die in einer akademischen Ausbildung angestrebt werden:
- professionelle Verantwortung (Legitimation pflegerischen Handelns gegenüber Hilfeempfänger(inne)n und auf gesellschaftlicher beziehungsweise institutioneller Ebene),
- Beziehungsarbeit (Kompetenzen zum Aufbau einer therapeutischen Beziehung),
- pflegerische Versorgung im System (professionelle Pflegehandlungen im Kontext institutioneller und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen),
- Qualitätsentwicklung,
- Pflegewissenschaft entwickeln.6
Wege zum Master
Im Anschluss an einen Bachelor-Studiengang ist die kontinuierliche Weiterbildung im Kontext des lebenslangen Lernens eine verpflichtende Zielsetzung für ein professionelles Berufsverständnis. Dieser Forderung kann zum Beispiel über Master-Studiengänge entsprochen werden. In einem pflegebezogenen Master-Studiengang können beispielsweise Anforderungen der klinischen (Pflege-)Forschung oder Anforderungen an eine erweiterte Pflegepraxis (Advanced Nursing Practice) aufgegriffen werden. Spezifische Kompetenzen, welche in der Organisation, im Management oder in der Pädagogik erforderlich sind, werden ebenfalls in Master-Studiengängen vermittelt. Master-Studiengänge können konsekutiv auf einen Bachelor-Abschluss aufbauen und haben dann meist eng definierte Zugangsvoraussetzungen. Sie werden aber auch nicht-konsekutiv zum Beispiel als sogenannte Weiterbildungsmaster angeboten. Oft werden diese von Bachelor-Absolvent(inn)en, meist nach einer Phase der Berufserfahrung, belegt und sind häufig als multi- oder interdisziplinäre Bildungsangebote konzipiert. Nach Abschluss eines Master-Studienganges kann ein Promotionsstudiengang aufgenommen werden.7
Attraktiver Abschluss
Eine akademische Ausbildung von Pflegekräften entspricht nicht nur den komplexer werdenden Anforderungen an die Pflege und Versorgung der betroffenen Menschen, sondern kann auch als Anstoß gesehen werden, den Beruf für junge Menschen attraktiver zu gestalten. Auch in der Pflege sollte es möglich sein, eine direkte "normale" akademische Laufbahn und damit kürzere Ausbildungswege zu beschreiten. Von Bedeutung in der Diskussion um die Ansiedlung der pflegerischen Ausbildung ist, dass die Notwendigkeit einer akademischen Ausbildung auch in der Berufsgruppe selbst konsensfähig wird.
Manche Rahmenbedingungen sind noch nicht geklärt, etwa die tarifliche Eingruppierung oder das spezifische Aufgabengebiet der Bachelor-Absolvent(inn)en. Hierfür ist die Solidarität und Kooperation mit den Studierenden und Absolvent(inn)en innerhalb der Berufsgruppe von entscheidender Bedeutung. Aufseiten der Hochschulen ist die Transparenz (akademischer) Zielsetzungen und der curricularen Inhalte sicherzustellen, damit Ziele und Kompetenzprofile verstehbar werden. Durch eine akademische Berufsausbildung in der Pflege ist - vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlich gesehen steigenden Pflegebedarfs - zu erwarten, dass neue Qualitätsimpulse für die Ausbildung und Praxis gesetzt werden, die Ausbildung international anschlussfähig wird und schließlich ein Beitrag zur Professionalisierung in den Pflegeberufen geleistet wird.
Anmerkungen
1. Hanika, Heinrich: Europa und die Pflegequalifikation in der Bundesrepublik Deutschland. Vortrag, gehalten bei der 34. Jahrestagung der Bundesfachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie (BFLK) in Regensburg, 3. April 2009. www.bildungsrat-pflege.de; Kolling, Hubert: Rezension zu: Deutscher Bildungsrat für Pflegeberufe (Hrsg.): Pflegebildung offensiv. Eigenverlag, 2009. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, www.socialnet.de/rezensionen/9142.php, Datum des Zugriffs 4.12.2010.
2. www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf
3. Der tertiäre (Bildungs-)Bereich besteht aus den verschiedenen Hochschularten, hinzu kommen in einigen Bundesländern Berufsakademien.
4. Deutscher Bildungsrat für Pflegeberufe - DBR (Hrsg.): Pflegebildung offensiv : Handlungsleitende Perspektiven zur Gestaltung der beruflichen Qualifizierung in der Pflege. Berlin, 2010, S. 12 ff. Download unter: www.bildungsrat-pflege.de, Rubrik Downloads.
5. Hülsken-Giesler, Manfred et al.: Kerncurriculum Pflegewissenschaft für pflegebezogene Studiengänge - eine Initiative zur Weiterentwicklung der hochschulischen Pflegebildung in Deutschland. In: Pflege & Gesellschaft, Heft 3/2010, S. 216-236, hier S. 227.
6. Hülsken-Giesler, Manfred et al., a.a.O., S. 228.
7. Deutscher Bildungsrat für Pflegeberufe (Hrsg.): Pflegebildung offensiv. Das Bildungskonzept des Deutschen Bildungsrates für Pflegeberufe. München : Elsevier, 2007.