Kirche ist ohne ihre Caritas nicht zukunftsfähig
"Ist Kirche ohne kirchliche Einrichtungen zukunftsfähig?"1 - diese Frage ist differenziert anzuschauen und zu beantworten. Hier lege ich das Evangelium zugrunde, auf dem die Enzyklika "Deus caritas est" von Papst Benedikt vom 25. Dezember 2005 basiert. Darin gibt es eine Antwort, die lautet:
"Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus:
- Verkündigung von Gottes Wort,
- Feier der Sakramente,
- Dienst der Liebe im Sinne der Diakonia.
Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst."
So weit der Wortlaut der Enzyklika. Die Deutung von Diakonia, die sich im Christentum aus der Gemeinschaft der Christen entwickelt hat, kann sich in verschiedenen Gesichtern zeigen.
Der Papst sagt allerdings ganz klar, dass in der Gottesliebe verankerte Nächstenliebe zunächst ein Auftrag an jeden einzelnen Gläubigen sei. Allerdings sei sie ebenfalls ein Auftrag an die gesamte kirchliche Gemeinschaft und dies auf all ihren Ebenen: von der Ortsgemeinde über die Teilkirche bis zur Universalkirche als ganze.
Auch die Kirche als Gemeinschaft muss die Liebe üben, was wiederum bedingt, dass die Liebe auch der Organisation als Voraussetzung für ein geordnetes gemeinschaftliches Dienen bedarf.
Ich versuche für mich eine Antwort zu formulieren, die mit Theolog(inn)en und Caritasexpert(inn)en möglicherweise auch kontrovers diskutiert werden könnte. Die Kirche ist ohne die Grundfunktion "Verwirklichung der Nächstenliebe" nicht zukunftsfähig, weil die drei genannten Grundfunktionen nicht voneinander getrennt werden können. Im gesellschaftlichen Verständnis sind die caritativen Einrichtungen unternehmerischer Ausdruck des Gebots der Nächstenliebe: also nicht bloß Dienstleistungsbetriebe mit caritativer Zweckbestimmung, sondern Wesens- und Lebensäußerung der Kirche. Vor diesem Hintergrund muss jede kirchliche Einrichtung für sich das Selbstverständnis klären, ob sie diesen Auftrag im Sinne des Propriums noch wahrnimmt oder sich nur noch an den Gesetzen des Marktes, die ich damit nicht schlechtreden will, orientiert.
Vor mehr als 17 Jahren schon hat der Pastoraltheologe Rolf Zerfaß mit seinen inspirierenden Impulsen für die Zukunft von Glaube und Kirche für ein überzeugendes Miteinander von Pastoral und Caritas geworben und die Abspaltung der Caritasarbeit von der Pastoral als Verhängnis bezeichnet.2
Er hat auch darauf hingewiesen, dass von den 31.000 caritativen Einrichtungen in Europa 30.000 in Deutschland stehen. Sie sind im Jahr 2009 sicher schon erheblich reduziert. Weil ich weder eine Caritas- noch Sozialromantikerin bin, lebt in mir die feste Überzeugung, dass wir nicht alle Einrichtungen halten können und dies auch nicht müssen. Das heißt nicht, dass wir damit zwangsläufig die Werke der Nächstenliebe aufgeben. Auch andere Initiativen und öffentliche Institutionen übernehmen viele dieser Aufgaben und erfüllen sie gut. Auch dort wirken Christ(inn)en, die sich dem Gebot der Nächstenliebe verpflichtet sehen.
Kirche trägt nicht nur geistliche Sorge für den Menschen
Dennoch: Die Kirche würde ohne kirchliche Einrichtungen arm und vielleicht von vielen Menschen überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Viele Umfragen zeigen, dass die Caritas und caritative Einrichtungen, die als solche erkennbar sind, die Kirche in ihrem Zeugnischarakter bewusst macht. Menschen erkennen, dass die Sorge der Kirche auf die Natur des Menschen ausgerichtet, das heißt in einem weiten Sinn des Wortes therapeutisch ist. Die Kirche nimmt die Aufgabe wahr, Menschen in ihren verschiedenen Lebenssituationen zu begleiten.
Die besondere Eigenart kirchlichen Handelns in der Welt wird staatlicherseits hier in Deutschland anerkannt. Das kann auf die katholische wie auch die evangelische Kirche im Rahmen der grundgesetzlich verankerten Selbstbestimmungsrechte bezogen werden. Es gibt hierzu Freiräume zur Entwicklung und Entfaltung.
Auf dem Dritten Weg die richtigen Antworten finden
Ein weites Reservat für kirchliche Gestaltungsfreiheit ist das Arbeitsrecht, damit die Kirche ihren Auftrag aus ihrem Bekenntnis zum Anderssein in der Nachfolge Christi in der Gesellschaft erfüllen kann. Die Gestaltungsfreiheit im Verhältnis Kirche/Staat wird allgemein als Dritter Weg bezeichnet, der in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die KODA-Ordnungen sowohl im verfasst-kirchlichen Bereich wie auch in der Caritas und Diakonie seine Verfahrensordnungen im dienstgemeinschaftlichen Verständnis gefunden hat. Es ist also Angelegenheit der Kirchen selbst, dafür Sorge zu tragen, dass im Dritten Weg die richtigen Antworten auf die ständigen Veränderungen der Arbeitswelt gegeben werden.
Das gestellte Thema kann also nicht nur lauten: Ist Kirche in Deutschland ohne caritative Einrichtungen zukunftsfähig? Sondern: Was müssen die Kirchen tun, um ihre caritativen Einrichtungen zukunftsfähig zu erhalten? Die Verantwortung liegt hier bei der verfassten Kirche oder genauer bei den Ortsbischöfen nach den kirchenrechtlichen Bestimmungen der Ämterorganisationen.
Auf die Umbrüche in der Arbeitswelt seit den 1990er Jahren - mit den Begriffen der Globalisierung, der internationalen Verschiebung von Produktion und Dienstleistung und mit einer Fülle technischer Neuerungen nur grob umschrieben - versucht die christliche Sozialethik zu reagieren. Sie versteht Arbeit nicht als reine Erwerbsarbeit und will keinesfalls eine Verengung des Begriffs auf bloße Dienstleistung oder Produktion materieller Güter.
Für die christliche Sozialethik ist Arbeit keine Ware, sondern Arbeit gehört zum Menschsein in seiner personalen und solidarischen Ausprägung als Teilhabe in der Kirche. Daher wird die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als pastorale Aufgabe verstanden.3 Arbeit hat auch etwas mit der Würde des Menschen zu tun. Ich habe schon vielen Menschen bei Bewerbungen ins Gesicht geschaut, die unter Arbeitslosigkeit gelitten haben.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Zukunftsfähigkeit caritativer Einrichtungen sind in der heutigen Arbeitsgesellschaft zwei Seiten einer Medaille. Die verfasste Kirche hat sich beider Themen anzunehmen und muss darauf innerhalb ihrer kirchengesetzlichen Kompetenzen Antworten geben. Sie muss sich ihrer eigenen Verantwortung für rund 500.000 Mitarbeiter(innen) bewusst werden, nicht nur als moralische Instanz, sondern als aktiver Partner im Ringen um die Verbesserung des kirchlichen Arbeitsrechtsregelungsverfahrens für alle Beteiligten.
Die seit circa zwei Jahren anzuwendende Ordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission (AK-Ordnung) innerhalb der Caritas hat die erhoffte Aufhebung der Blockade auf Dienstnehmer- und Dienstgeberseite in den Jahren zuvor nicht bewirken können. Die Gründe sind vielschichtig, und es würde zu weit führen, sie an dieser Stelle zu analysieren.
Was vielen zunehmend Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass das dienstgemeinschaftliche Verständnis, das Wissen um die besondere Bedeutung caritativer Arbeit im Rahmen des kirchlichen Sendungauftrags, einem trivialen Denken von profaner Erwerbsarbeit zu weichen droht.
Um genau dies zu verhindern und den Dritten Weg im Sinne eines modernen Konzepts der Sozialpartnerschaft mit christlichen Vorzeichen unter den Beteiligten zu erhalten und in die Zukunft zu führen, hat sich die Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen (AcU) vor einigen Jahren gegründet. Nach ihrer Satzung versteht sie sich als Verein von Einrichtungsträgern, die der katholischen Kirche zugeordnet sind und sich zur Aufgabe gemacht haben, die Weiterentwicklung des kirchlichen Arbeitsrechts im Rahmen des der katholischen Kirche durch das Grundgesetz zugestandenen Selbstbestimmungsrechts zu fördern. Dass es sich hier um eine reine Dienstgebervereinigung von Einrichtungsträgern handelt, ist aus der Vergangenheit heraus erklärbar. Damals, vor etwa zehn Jahren, hat innerhalb der Caritas die Diskussion zu der Frage begonnen: Gibt es - oder besser - darf es überhaupt caritative Unternehmen im Deutschen Caritasverband geben? Nach eigenem Erleben waren die Widerstände gegen die Anerkennung groß und sind auch bis heute noch innerhalb des Verbandes in weiten Teilen vorhanden.
Die unternehmenspolitischen Leitlinien, die die sechste Delegiertenversammlung im Oktober 2008 beschlossen hat, geben davon ein beredtes Beispiel (siehe neue caritas Heft 20/2008, S. 31-39). Sie sind aber als ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung zu werten.
Wenn die Verantwortlichen der Caritas wollen, dass die caritativen Unternehmen, die es nun einmal gibt, alle unter dem Dach der Caritas bleiben und der Dritte Weg beibehalten wird, dann haben sich natürlich die Unternehmen selbst, aber auch die Verbandsorganisationen damit auseinanderzusetzen. Arbeitsmarktpolitik findet dann aber nicht mehr nur draußen statt, sondern auch für die Belegschaften in der Caritas. Die Interessenslagen von Dienstgebern müssen erarbeitet und klar formuliert und innerhalb des Deutschen Caritasverbands (DCV) artikuliert werden dürfen. Hier leistet die AcU gute und innovative Dienste.
Die AcU hat wichtige Bündelungsfunktionen der Dienstgeberinteressen innerhalb der Caritas. Im Forum der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) "Orden als Dienstgeber" setzen wir uns seit längerer Zeit damit auseinander, wie viele verschiedene Gruppierungen es im caritativen Bereich gibt, die kaum vernetzt und unabgestimmt Politik machen und für die die einzelnen Einrichtungen auch jeweils Mitgliedsbeiträge zahlen. Das kann nicht weiter hingenommen werden.
Somit begrüßen wir die Initiative einer Vernetzungsstrategie und wünschen uns, dass die AcU als beratende Vereinigung auch eine Anerkennung innerhalb der Caritasgremien findet. Wir verfügen nicht mehr über die Mittel, um unterschiedliche Konzerte nebeneinander zu finanzieren.
Das heißt nicht, dass wir nicht den Fachverbänden eine auf die Menschen hin orientierte Themenbearbeitung zugestehen. Krankenhäuser, Einrichtungen der Altenhilfe und der Psychiatrien oder auch Jugendhilfe müssen jeweils unterschiedliche strategische und inhaltliche Ausrichtungen bearbeiten. Hinsichtlich der Fragestellung "Ist Kirche ohne kirchliche Einrichtungen zukunftsfähig?" hängt es jedoch entscheidend davon ab, ob es der verfassten Kirche, genauer: dem Kirchengesetzgeber gelingt, die kirchenarbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen zu bestimmen, in denen sich die auseinanderstrebenden Interessenkonflikte lösen lassen. Dass der Kirchengesetzgeber, vertreten in den jeweiligen Ortsbischöfen, dies tun muss, steht außer Frage. Ansonsten gefährdet er den Sendungsauftrag der Kirche in der Welt ohne Alternative.
Kirche in der Verantwortung
Die sich immer wieder stellende Frage lautet: Müssen es denn so viele Hunderte von caritativen Einrichtungen sein? Genügt für den kirchlichen Sendungsauftrag nicht eine kleinere Zahl an Einrichtungen?
Die Not und der Druck der Verhältnisse werden ohnehin zu weniger Einrichtungen in der Zukunft innerhalb des kirchlichen Bereiches führen. Wenn wir Vergleiche im Hinblick auf die Pflegeheime, ihre Trägerstrukturen und Preisunterschiede anstellen, so ist jetzt schon feststellbar, dass zurückblickend auf das Jahr 2007 die privat-gewerblichen Träger auch im stationären Bereich in den vergangenen Jahren Marktanteile gewonnen haben.4 Sie lagen bei allen Heimen im Bundesdurchschnitt bei 39,2 Prozent, während die freigemeinnützigen Träger einen durchschnittlichen Marktanteil von 55,1 Prozent haben.5 Ausgenommen sind die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Dort liegt der Marktanteil der privat-gewerblichen Träger bereits bei 59,1 Prozent in Niedersachsen, bei 68 Prozent in Schleswig-Holstein.
Kirche hat eine Verantwortung - auch gegenüber den caritativen Unternehmen und ihrer Mitarbeiterschaft - aktiv mitzuhelfen, das kirchliche kollektive Arbeitsrecht so zu gestalten, dass der Sendungsauftrag der Kirche weiter erfüllt werden kann. Im Sinne einer Dienstgemeinschaft bedeutet Kirche aber auch, dass sich alle solidarisch ihrer Verantwortung bewusst sind und Entscheidungen herbeiführen, die sowohl der Einrichtung in der Sorge für die Menschen als auch den Arbeitsplätzen eine Sicherheit für die Zukunft geben.
Die Hoffnung artikuliert sich praktisch in der Tugend der Geduld, die im Guten auch in der scheinbaren Erfolglosigkeit nicht nachlässt, und in der Tugend der Demut, die Gottes Geheimnis annimmt und ihm auch im Dunkeln traut.
Anmerkung
1. Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag bei der Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen (AcU) am 16. September 2009 in Mainz.
2. Zerfaß, Rolf: Lebensnerv Caritas. Helfer brauchen Rückhalt, Freiburg/Br., 1. Aufl. 1992.
3. Vgl. Marx, Reinhard; Wulsdorf, Helge: Christliche Sozialethik. Paderborn : Bonifatius, 2002.
4. Sell, Stefan: Das Kreuz mit der Pflege : Konfessionelle Träger von Pflegeheimen als Getriebene und Treiber in Zeiten einer fortschreitenden Ökonomisierung des Pflegesektors. Remagener Beiträge zur aktuellen Sozialpolitik. Remagen, Juli 2009.
5. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2007.