Ein guter Ort zum Leben
"Orte zum Leben" - wie sehen die denn aus? Was brauchen Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen, um in der eigenen Gemeinde dazuzugehören und um den Alltag im engeren Lebensumfeld bewältigen zu können?
Diese Fragen haben die Caritasmitarbeiter(inn)en zu Beginn des im Jahr 2005 gestarteten Projektes "Orte zum Leben" beschäftigt. Motiviert durch die Kritik des Psychiaters Klaus Dörner1 am bestehenden Hilfesystem und durch die Gesellschaftsperspektive Andreas Lob-Hüdepohls2 von einer inklusiven Gemeinde, in der die Unterschiedlichkeit der Mitglieder zur Bereicherung aller beiträgt, wollte die Caritas des Schwarzwald-Baar-Kreises Antworten zu diesen Fragen finden.
Damit diese Antworten nicht freundliche Sozialutopie blieben, sollten sie innerhalb der bestehenden Dienste umgesetzt werden. Die individuelle Lebensqualität der Klient(inn)en und deren Unterstützungswünsche sollten die Grundlage sein, um die vorhandenen Angebote des sozialpsychiatrischen Dienstes und des betreuten Wohnens zu ergänzen. Der Startschuss von "Orte zum Leben" fiel mit einer Veranstaltung für alle Mitarbeitenden im Caritasverband im Oktober 2005, in der die Projektziele vorgestellt wurden. Gefördert wurde das Projekt durch die Aktion Mensch, wodurch zwei zusätzliche Personalstellen zur Verfügung standen. Fachliche Unterstützung erfuhr es durch den Beirat, dem Angehörige, kommunale Akteure (Sozialplanerin und Leiterin einer Schule für Körper- und mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche), Vertreter(innen) des Diözesan-Caritasverbandes (DiCV) und des Deutschen Caritasverbandes (DCV), Fachkolleg(inn)en und die wissenschaftliche Begleitung angehörten. Die Evaluation des gesamten Projektes übernahm die Forschungsstelle Lebenswelten behinderter Menschen der Universität Tübingen im Rahmen eines eigenen Evaluationsprojektes des DCV.3
Im Schwarzwald-Baar-Kreis gab es wenige Angebote
Im Jahr 2005 hat es im ländlich geprägten Schwarzwald-Baar-Kreis für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen neben einigen stationären Angeboten und vereinzeltem betreuten Wohnen nur wenige ambulante Angebote gegeben - die meisten davon spezialisiert und exklusiv für Menschen mit Behinderung. Der Kreis war damals für die Zielgruppe weit davon entfernt, ein guter Ort zum Leben zu sein.
Die Arbeit des örtlichen Caritasverbandes im Bereich Behindertenhilfe hatte sich bislang auf Menschen mit psychischen Erkrankungen konzentriert. Der Verband als Träger des sozialpsychiatrischen Dienstes, einer Tagesstätte, des ambulant betreuten Wohnens, mehrerer Wohngemeinschaften sowie eines Heimes für Menschen mit psychischen Erkrankungen stellte sich im Projekt der Herausforderung, sich auf die sozialpolitische Perspektive der gleichberechtigten Teilhabe hin fachlich neu auszurichten. Dieses Ziel formulierte auf der politischen Ebene das, was Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen seit langem für sich forderten, nämlich ihr Recht auf Selbstbestimmung und Anerkennung als Bürger(innen) ihrer Gemeinden. Kommunalisierung der Behindertenhilfe und Persönliches Budget waren weitere Stichworte eines Umgestaltungsprozesses, der bis heute anhält. Dieser Prozess war und ist verbunden mit der Notwendigkeit, sich auf real sinkende Finanzierungen einzustellen: ein Szenario also, das auch 2009 wieder aktuell erscheint, nämlich die Aufgabe, Gemeindeintegration in Zeiten leerer Kassen zu gestalten.
Das Gemeinwesen kommt in den Blick
Zwei wesentliche Orientierungen schienen zur Umsetzung erforderlich: Unter dem Aspekt der Inklusion galt es, das Gemeinwesen in den Blick zu nehmen, zu schauen, wie und mit welcher Unterstützung die Teilhabe von Menschen mit Behinderung gelingt.
Zugleich musste in Bezug auf die individuellen Erfordernisse die bisherige Angebotszentrierung hinterfragt werden. Die subjektiven Unterstützungsbedarfe der Menschen sollten in den Mittelpunkt des Hilfeplans gestellt werden, um ein entsprechendes Angebot maßzuschneidern. Dabei galt es vor allem, Netzwerke zu knüpfen und die Ressourcen von nichtberuflichen Hilfesystemen zu nutzen.
Passende Hilfen durch Assistenten und Hilfemix
Natürlich wurde auch bislang nach den individuellen Bedarfen geschaut. Welche große Bandbreite unterschiedlichster Unterstützungswünsche aber tatsächlich vorhanden war, wurde deutlich, als die Angebote erst nach der Hilfeplanung gestaltet wurden und nicht - wie bisher - die Wünsche der Betroffenen in bereits bestehende Angebotskategorien einsortiert wurden.
Zwei Bespiele dazu: Eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, davon ein Kind mit Behinderung, braucht eine Kinderbetreuung. Die Planung ist für sie schwierig, weil sie selbst ihren Dienstplan immer erst eine Woche im Voraus erhält. Sie fragt sich, wie kann das gehen soll.
Drei junge Männer mit einer Lernbehinderung: Kandidaten für ein Heim? Womöglich weit außerhalb des Landkreises?
Zu Beginn des Projektes wurden der sozialpsychiatrische Dienst und das betreute Wohnen jeweils regional in sogenannte Servicestellen zusammengefasst. Die zwei neu hinzugekommenen Mitarbeiterinnen ergänzten das Projekt auf überregionaler Ebene. Die neuen Servicestellen führten die bisherigen Aufgaben weiter und fungierten darüber hinaus als Ansprechpartner für Menschen mit Behinderung vor Ort. Eine Projektmitarbeiterin konzentrierte sich darauf, individuelle Unterstützungsangebote mithilfe des Case-Managements zu realisieren. Ein Ansatz war, die Mitarbeit freiwilliger Helfer(innen), sogenannter Assistent(inn)en, mit Aufwandsentschädigung zu gewinnen. Dazu wurden engagierte Bürger(innen) gesucht. Beworben haben sich Menschen verschiedenster Berufsgruppen und aller Altersklassen.
Die Hilfeangebote zeichnen sich durch eine hohe Flexibilität und mit durchaus anderen Qualitäten als die professionelle Arbeit aus: Dies lässt sich vielleicht am ehesten mit "mehr Nähe und Normalität" beschreiben. So hat zum Beispiel ein 18-jähriger behinderter Jugendlicher Unterstützung im Bereich Sport gesucht und einen gleichaltrigen Jugendlichen gefunden, der ihn zu seinen Sportveranstaltungen mitgenommen hat.
Im Laufe des Projektes wurden zum einen Hilfeformen geschaffen, bei denen fast ausschließlich Assistent(inn)en zum Einsatz kommen. Die freiwilligen Helfer(innen) erhalten für ihr Engagement eine Aufwandsentschädigung, die fallbezogen und nach Beantragung von der Eingliederungshilfe übernommen wird. Die hauptamtlichen Mitarbeiter(innen) der Servicestellen übernehmen hauptsächlich die organisatorische und koordinierende Arbeit sowie die Begleitung der Assistent(inn)en. Zum anderen aber werden Assistent(inn)en auch in sogenannte Hilfemixe eingebunden. Das sind Angebote, die die professionellen Mitarbeiter(innen) im Rahmen des pauschal finanzierten betreuten Wohnens organisieren. Schnell wurde deutlich, dass Elemente des Case-Managements zunehmend an Bedeutung gewannen und sich die Aufgaben professioneller Helfer(innen) insgesamt in Richtung Begleitung und Gewinnung freiwilliger Mitarbeiter(innen) verschoben. Diese durch Supervision und Coaching begleiteten Veränderungen wurden von den Mitarbeitenden selbst durchaus unterschiedlich bewertet und angenommen.
Am Projektende im Jahr 2008 belief sich der Helferstamm auf beinahe 200 Personen. An den oben genannten Bedarfsbeispielen lassen sich die Resultate des Projektes gut aufzeigen: Es gelang tatsächlich, die Mutter mit Hilfe von Assistent(inn)en so zu unterstützen, dass sie weiterhin ihren Beruf ausüben konnte. Mithilfe des örtlichen Sozialhilfeträgers ist eine Wohngemeinschaft für die drei jungen Männer in einem zentral gelegenen Mietshaus eröffnet worden, von dem aus sie selbstständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur WfbM (Werkstätte für behinderte Menschen) fahren können.
Gemeinwesen heißt das Zauberwort
Gemeinwesenarbeit im weitesten Sinne, Förderung von bürgerschaftlichem Engagement zur Begegnung zwischen den Menschen: Dies war ein wesentlicher Bestandteil des Projektes. Aufbauend auf die Arbeit des Caritassozialdienstes (der Caritassozialdienst hält seit Jahren den Kontakt zur Kirchengemeinde aufrecht), wurde diese Arbeit von einer der beiden Projektmitarbeiterinnen schwerpunktmäßig betrieben. Sie konzentrierte sich dabei zunächst auf die katholischen Kirchengemeinden in der Kreisstadt Villingen-Schwenningen. Auch die Servicestellenmitarbeiter(innen) initiierten im Verlauf des Projektes kleinere Veranstaltungen vor Ort.
Die Projektmitarbeiterin hat insgesamt sechs runde Tische ins Leben gerufen, an denen Multiplikator(inn)en aus den Kirchengemeinden teilgenommen haben. Bei der ersten Sitzung haben alle Teilnehmer(innen) überrascht - und fälschlicherweise - den Eindruck gewonnen, dass es eigentlich gar keine Menschen mit Behinderung in ihren Gemeinden gibt - dies deshalb, weil diese Menschen bislang im Gemeindeleben nie in Erscheinung getreten und somit auch nicht aufgefallen sind. Ein erstes Ziel der runden Tische war deshalb, Menschen mit Behinderung überhaupt wahrzunehmen und die Gemeinden zu sensibilisieren.
Es wurden Integrationsteams aus ehrenamtlichen Mitarbeiter(inne)n der Gemeinden gebildet, die dieses Anliegen vor Ort weiter befördert haben. Die Gemeinden haben dann je nach Interesse in ihren jeweiligen Pfarreien kleinere Projekte konzipiert.
So entstand eine Vielzahl von Aktivitäten, angefangen von Sport- und Freizeitgruppen bis hin zu integrativen Firmungen. Die Entwicklung, die diese runden Tische einleiteten, kann man grob so skizzieren: von der Planung von Angeboten für Menschen mit Behinderung zu der Planung von Teilhabemöglichkeiten mit den Menschen. Ein bleibendes Resultat dieser Arbeit sind die auch nach Projektende weiter bestehenden Integrationsteams. Auf der strukturellen Ebene haben einige Kirchengemeinden die Behindertenhilfe als ständiges Thema in ihre Sozialausschüsse übernommen, was die regionale Caritas für einen großen Erfolg hält.
Auch eine Fülle von weiteren Kooperationen hat sich im Laufe des Projektes entwickelt: von Schulen mit integrativen Angeboten (zum Beispiel Kochkurse) bis hin zu dem mittlerweile in der Region sehr bekannten und stark umworbenen Villinger "Trommlerzug" - einer Gruppe von Menschen mit Behinderung, die zur traditionellen hiesigen Fastnacht mit viel Spaß trommelnd auf sich aufmerksam macht und eine breite Öffentlichkeit erreicht.
Wer bezahlt die Hilfen?
Mit der Regionalisierung der Eingliederungshilfe und der Zuständigkeit der kommunalen Leistungsträger für die Behindertenhilfe ist im Jahr 2005 die Notwendigkeit einer engen Kooperation zwischen der freien Wohlfahrtspflege und der kommunalen Eingliederungshilfe entstanden - und damit eine Zusammenführung durchaus unterschiedlicher "Kulturen". Eine Neuordnung der Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen setzte die Bereitschaft des Kostenträgers voraus, neue Wege zu gehen. Schwierig gestaltete sich diese Zusammenarbeit aber immer wieder an der Schnittstelle zur Eingliederungshilfe: nämlich in der Definition der Hilfe und der Bemessung des Hilfebedarfes.
Zwar hatten sich Angehörige von Menschen mit Behinderung schon ganz zu Anfang des Projektes anlässlich einer Befragung durch die wissenschaftliche Begleitung Anlauf- und Beratungsstellen vor Ort gewünscht. Hier wurde aber allen Plänen des Verbandes schon relativ früh ein Ende gesetzt, weil sich die Eingliederungshilfe als Kostenträger die fachliche Beratung, die zur Hilfeplanung führt, vorbehalten wollte. Der Anspruch des Verbandes, nah an den Menschen und Ansprechpartner vor Ort zu sein, kollidierte hier mit den Interessen der Eingliederungshilfe, als Fachleute selbst möglichst frühzeitig die Hilfeplanung in die Hand zu nehmen. Dabei halfen auch die anfangs recht plakativen Sichtweisen der Beteiligten wenig: Einerseits wurde die verbandliche Arbeit der Caritas unter den Generalverdacht des wirtschaftlichen Lobbyismus gestellt und angedeutet, dass sie ohnehin nur in die eigene Tasche wirtschaften wolle. Andererseits wurde die Hilfeplanung der Eingliederungshilfe als günstige Möglichkeit gesehen, den erwarteten und von allen Fachkreisen prognostizierten Ausgabenanstieg in der Eingliederungshilfe einzugrenzen.
Die Zusammenarbeit von Kostenträger und Leistungsanbieter in dieser neuen Form war und ist für beide Seiten ein Lernprozess, in dem man während des Projektes ein gutes Stück vorangekommen und gegenseitiges Vertrauen gewachsen ist.
Ausblick: Ein Ort der Zukunft
Ist es nicht so, dass eigentlich ein guter Ort zum Leben für Menschen mit Behinderung genauso aussieht wie ein guter Ort für Menschen ohne Behinderung - ein Ort eben, an dem sich alle wohlfühlen können?
Es gab und gibt Schwierigkeiten und Hindernisse auf diesem Weg. Zum Beispiel die bereits erwähnten Finanzierungen der Dienste. Die Caritas will Gutes tun und sich fachlich weiterentwickeln - dies aber zugleich mit Augenmaß und Verantwortung für die Mitarbeiter(innen) und deren Arbeitsplätze. Das gelingt nur in einem ständigen Ausbalancieren zwischen den finanzierten Angeboten der Einzelfallhilfe und dem Spielraum, der dabei für eine Arbeit im Gemeinwesen noch zur Verfügung steht. Wenn die Dienste finanziell unter Druck geraten, ist es immer wieder schwierig zu begründen, warum Dinge getan werden, die eben nicht refinanziert sind, wie zum Beispiel die Arbeit im Gemeinwesen und die Arbeit mit Freiwilligen und Ehrenamtlichen. Diese aber sind die Grundlage, um Ressourcen im Umfeld zu erschließen und letztlich eine Teilhabe vor Ort zu ermöglichen.
Der Schwarzwald-Baar-Kreis ist schon deutlich mehr ein guter "Ort zum Leben" geworden. Wesentlich dazu beigetragen hat das Projekt des Caritasverbandes. Das Angebot für Menschen mit Behinderung und psychischen Erkrankungen gestaltet sich differenzierter und weitaus flexibler. Natürlich gibt es immer noch einen deutlichen Entwicklungsbedarf an Beratungsstellen und an Strukturen der Beteiligung vor Ort, denn exklusive Strukturen von Einrichtungen und kommunalen Organisationen, die jahrhundertelang verstetigt wurden, werden kaum während eines dreijährigen Projektes geändert oder gar aufgegeben. Aber die Erfahrungen des Projektes "Orte zum Leben" waren für alle beteiligten Menschen - mit und ohne Behinderung, Professionelle und Freiwillige - doch insgesamt sehr ermutigend. Daher gehen die Verantwortlichen nach dem Aufbruch in "Orte zum Leben" weiter in die Gemeinden - im nächsten Projekt "Marathon: Auf dem langen Weg in die Gemeinden", das 2010 beginnen und sich auf den Aufbau von Teilhabestrukturen vor Ort konzentrieren wird.
Anmerkungen
1. Dörner, Klaus: Zwischen individueller Hilfeplanung und Begleitung im Lebensfeld - das Handeln psychosozialer Profis. Vortrag, April 2004.
2. Andreas Lob-Hüdepohl ist Professor für Theologische Ethik und Präsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
3. Metzler, Heidrun; Rauscher, Christine: Unterwegs zu einem "Ort zum Leben" - ein Expeditionsbericht. Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen, Geschäftsstelle: Forschungsstelle Lebenswelten behinderter Menschen. Tübingen, 2009.