Gesetzgebung garantiert das Recht auf Teilhabe für alle
Ein Höhepunkt in der Entwicklung eines sozialen und politischen Paradigmenwechsels ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die im Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und am 3. Mai 2008 in Kraft getreten ist. In Deutschland sind die UN-Konvention und das dazugehörende Fakultativprotokoll seit dem 26. März 2009 verbindlich. Aus Sicht sowohl der damaligen als auch der neuen Bundesregierung steht die Konvention in einem engen Zusammenhang mit dem 9. Sozialgesetzbuch und dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Auf internationaler Ebene wird das Übereinkommen durch den "Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen" mit Sitz in Genf überwacht. In Deutschland wurde zur Überwachung das "Deutsche Institut für Menschenrechte" beauftragt. Einzelpersonen oder Personengruppen, die sich in ihren Rechten verletzt sehen, haben das Recht und die Möglichkeit, sich an den Ausschuss in Genf zu wenden (siehe Art. 1 des Fakultativprotokolls).1
Selbstbestimmung steht im Vordergrund
Die UN-Behindertenrechtskonvention stärkt Menschen mit Behinderungen in einer internationalen Perspektive sehr grundsätzlich. Rund zwei Drittel aller Menschen mit Behinderungen - etwa 450 Millionen Menschen - leben in sogenannten Entwicklungsländern, in denen kaum die Grund- und Bürgerrechte gelten. In reichen Industrienationen wie Deutschland ist die Konvention vor allem eine Herausforderung und Kritik an das Fürsorge- oder Wohltätigkeitsparadigma. Menschen mit Behinderungen haben Anspruch auf eine menschenrechtebasierte Behindertenpolitik und Behindertenhilfe. Dieser Anspruch bedeutet auch für den Deutschen Caritasverband und seinen Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) eine enorme Herausforderung. Noch bestehende "Sonderorte" sind nach und nach aufzugeben. Prozesse der Dezentralisierung und Ambulantisierung gilt es konsequent über die Ansätze der Selbstbestimmung, Personzentrierung und Sozialraumorientierung umzusetzen. Um diese Prozesse zu realisieren, müssen inner- und außerhalb der Verbandsarbeit und der Dienste neue Wege gesucht werden. Es geht um ein Aufbrechen eines puristischen und falsch verstandenen Zielgruppendenkens. In anderen Worten: Menschen mit Behinderungen sind Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer, Eltern, Berufstätige, Schüler, Rentner, Arbeitslose, Unternehmer, Künstler usw.
Die UN-Behindertenrechtskonvention ist eine der sogenannten acht "core human rights conventions" und hat damit verbindlichen und rechtlichen Charakter. Erstmals werden spezifische Perspektiven von Menschen mit Behinderungen auf die Menschenrechte systematisch entwickelt. In Artikel 12 heißt es: "Die Vertragsstaaten bekräftigen, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden."2
Fehlende finanzielle Mittel blockieren die Entwicklung
In ihrer Studie "Assistierte Freiheit" warnt jedoch Sigrid Graumann mit Blick auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte vor übertriebenen Erwartungen: "Die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte […] erfordert die Bereitstellung von erheblichen Ressourcen der Gemeinschaft. Wie weit allerdings die Verpflichtung für den Staat geht, diese Ressourcen bereitzustellen, ist ausgesprochen umstritten. Oft werden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte deshalb als politische Zielbestimmung mit geringerer rechtlicher Verpflichtungskraft dargestellt als die bürgerlichen Freiheitsrechte und die politischen Rechte."3
Deutschland gehört weltweit zu den etwa 40 Staaten, in denen es überhaupt eine nationale behindertenpolitische Gesetzgebung gibt. Entsprechend wird hier eine andere Debatte über Rechte und Teilhabe geführt als beispielsweise in Kamerun, Vietnam oder Honduras. Soziale und gesellschaftliche Behinderungen stehen immer in Zusammenhang mit Fragen von Armut, Bildung und Chancen zu wirtschaftlichem Aufstieg.
Kostenneutralität wäre der Politik am liebsten
Aber auch in Deutschland ist spätestens mit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise klargeworden, dass in der Sache zwei gesamtgesellschaftliche Rahmen zu kollidieren drohen: Auf der einen Seite stehen die extrem belasteten Sozialhaushalte, die nicht von ungefähr nach einer Reform der Eingliederungshilfe rufen. Auf der anderen Seite steht die Behindertenbewegung, die über die UN-Behindertenrechtskonvention die rechtliche und lebensweltliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen fordert. Dieses offensichtliche Dilemma versuchen immer mehr Politiker, Sozialmanager und Sozialplaner zu lösen, in dem sie nach ehrenamtlichem Engagement, sozialräumlichen Konzepten und einer stärkeren Verantwortung der Angehörigen rufen. Finanzpolitische Löcher sollen damit zuallererst von den Betroffenen selbst und deren sozialem Nahraum aufgefangen werden. Den Begriffen der Inklusion und Teilhabe droht dadurch eine hohe Manipulation. Es wird ignoriert, dass Teilhabe und Leben in der Gemeinde nur dann gelingen können, wenn alle Beteiligten die Chancen und den Willen zum gesellschaftlichen Wandel haben - und wenn dafür die notwendigen Ressourcen, auch finanziell, eingesetzt werden. In der 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz am 25./26. November 2009 wurde "Kostenneutralität" angestrebt. Ob dies möglich sein wird, darf bezweifelt werden.4
Ergebnisqualität muss gesichert werden
Angesichts dieser Debatten halten die Caritas und die anderen Verbände der freien Wohlfahrtspflege Maßnahmen bei der Reform der Eingliederungshilfe dringend für erforderlich. Ein vorrangiges Ziel ist dabei die Sicherung der Ergebnisqualität mit der Fokussierung auf Teilhabe. Die Bearbeitung dieser Thematik muss auf Bundesebene erfolgen, um so einer Sicherstellung bundesweiter Qualitätskriterien entsprechen zu können. In der aktuellen Praxis werden von Leistungsträgern und Leistungserbringern unterschiedliche Systeme zur Erfassung des Hilfebedarfs eingesetzt. Die für die Teilhabe erforderlichen Dienstleistungen sind individuell auszuhandeln, zu erbringen und zu evaluieren. In Deutschland liegen aktuell wenig gesicherte wissenschaftliche Informationen zum tatsächlichen Stand der Ergebnisqualität der Leistungen im Bereich der Teilhabe für Menschen mit Behinderungen vor. Bekannt sind die bundesweit großen Unterschiede über Entgeltoptionen. Mit Blick auf die knappen Haushalte ist zu fürchten, dass diese weiter wachsen und dass die Errungenschaften der Eingliederungshilfe für verbesserte Teilhabe zurückgefahren werden könnten.
Wie aber ist der gesellschaftliche Wandel zu einer umfassenden Teilhabe von bislang marginalisierten Gruppen unter Bedingungen möglich, die die Mehrheit der Bundesbürger als schwierig, prekär, bedrohlich und isolierend erleben? Bei der Debatte um die Teilhabe ist sicherlich vieles im Sinne finanzpolitischer Möglichkeiten und Notwendigkeiten differenziert auszuloten. Allerdings ist Teilhabe zuallererst eine gesamtgesellschaftliche Frage und Entscheidung, die ein Umdenken in der Wahrnehmung und bei den Strukturen verlangt. Die Verwirklichung der Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention ist damit eine sozialräumliche Herausforderung ohnegleichen.
Teilhabe fordert die radikale Öffnung der Gemeinden
Die Konvention fordert damit auch die Caritas und die katholische Kirche insgesamt zu einer gesamtgesellschaftlichen Positionierung auf, die neue Formen und Utopien von Vergemeinschaftungen denken muss. In dem gemeinsamen Positionspapier der Evangelischen Hochschule Alsterdorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin "Enabling community. Gemeinwesen zur Inklusion befähigen!" heißt es dazu: "Mit Blick auf ein menschenrechtsbasiertes Verständnis von sozialer und pastoraler Arbeit ist deshalb zu fragen, ob die Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht das Paradigma der Inklusion aller und somit selbstverständlich auch aller behinderten und psychisch erkrankten Menschen im Rahmen ihrer Diakonie und Caritas erheblich stärken müssten. Damit ist auch die radikale Öffnung von Gemeinden und Kirchen für alle Menschen in ihrer jeweiligen Unterschiedlichkeit gemeint, die neue Konzepte der Teilhabe und Mitgestaltung kirchlichen Lebens durch Menschen mit Behinderung jenseits einer Integration in das Gewohnte notwendig machen."5
Gerade durch ihre internationale Verankerung und Vernetzung (weltweit 162 nationale Caritasverbände) ist die Caritas wie kaum ein anderer Verband prädestiniert, aus unterschiedlichsten Lebensformen und Kulturen von gelingender Vergemeinschaftung und Inklusion zu lernen und diese in ihre je eigenen Zusammenhänge zurückzuspielen. Zweifelsohne darf dies nicht zu einem naiven Kultur- oder Übertragungsrelativismus führen - Armut und Behinderung sind eben immer auch kultur- und sozioökonomisch geprägt. Was in Mali oder anderswo sozialräumlich gelingt, muss in Deutschland keineswegs möglich sein. In der UN-Behindertenrechtskonvention findet sich in der Präambel dieser Gedanke im Sinne eines Entwicklungspotenzials: Das Verständnis von Behinderung entwickelt sich ständig weiter und entsteht aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Behinderungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren.
Spezifische Zielgruppenhilfe ist nicht mehr angemessen
Neben dem Lernen und der Öffnung nach außen muss der Paradigmenwechsel der Behindertenhilfe aber auch mit einem Aufbrechen nach innen einhergehen. Die Caritas ist ähnlich wie die anderen Wohlfahrtsverbände mit einem hohen Sozialwissen auf nahezu allen Ebenen ausgestattet. In den letzten Jahrzehnten führte dies zu einem starken Fachwissen und Expertentum und der Etablierung spezifischer Zielgruppenhilfen und Dienste - bei einer gleichzeitigen Vernachlässigung, das Verbindende zu anderen Problemlagen beziehungsweise Zielgruppen zu sehen und in die praktische Arbeit einzubeziehen. Hier tun neue strategische und strukturelle Veränderungen Not, die gerade mittels des gewonnenen Fachwissens die Konzepte von Empowerment, Inklusion, Teilhabe, Sozialraum und Gemeinwesen in den Mittelpunkt rücken. Es wird eine Zeit kommen, in denen spezifische und exklusive Zielgruppenhilfen nicht mehr adäquat sein werden. Nicht weil das Fachwissen für bestimmte und spezifische Bedarfe obsolet wird, sondern ganz im Gegenteil, weil die Gesellschaft in ihrer gelebten Werte- und Rechteorientierung sogenannte Randgruppen und Exklusion nicht länger erlauben sollte.
Ein Wandel in der Wissenschaft ist nötig
Solche Prozesse zu begleiten und fachlich zu unterstützen könnte die Aufgabe einer Inklusions- oder Teilhabewissenschaft sein. Entsprechend liegt die Notwendigkeit zum Wandel auch bei den Wissenschaften, die sich für neue Wege eines interdisziplinären Diskurses öffnen müssen, ohne dabei ihre spezifischen Kernthemen preiszugeben.
Indem der Deutsche Caritasverband und sein Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie sich klar zur UN-Behindertenrechtskonvention bekennen und diese ausdrücklich begrüßen, hat ein innerverbandlicher Diskurs um die besten Konzepte bereits begonnen. Es ist ein Diskurs, der sich ausweiten wird auf die ganze Gesellschaft. Über die selbstkritische Auseinandersetzung mit der UN-Behindertenrechtskonvention, der UN-Kinderrechtskonven- tion und den anderen sechs Kernübereinkommen kann es der Caritas gelingen, als neue charismatische und solidaritätsstiftende Kraft wahrgenommen zu werden. Es mögen Konzepte der Hilfe und Barmherzigkeit einem historischen und gesellschaftlichen Wandel unterliegen - die Prinzipien der Anwaltschaft, der Barmherzigkeit, der Dienstleistung und Subsidiarität bleiben ungebrochen aktuell und notwendig. Ausgangspunkt ist immer der einzelne Mensch, der auf je bestimmte Weise bedürftig ist und deshalb die Assistenz und Unterstützung der Gemeinschaft braucht. Diese Bedürftigkeit aber nicht länger als Defizit zu verstehen, sondern als Recht auf Teilhabe und Inklusion, benennt den eingangs zitierten Paradigmenwechsel, der sowohl gesamtgesellschaftlich als auch innerhalb der Caritas vollzogen werden muss.
Anmerkungen
1. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen - zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung, Stand 2009, S. 35: www.bmas.de/coremedia/generator/2888/uebereinkommen_ueber_die_rechte_behinderter_menschen.html
2. Siehe oben, S. 11.
3. Graumann, Sigrid: Assistierte Freiheit : Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte. Utrecht, 2009, S. 13.
4. 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2009 am 25./26. November in Berchtesgaden, TOP 5.2. Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Beschluss.
5. Treber, Monika; Haas, Hanns-Stephan (Hrsg.): Enabling community. Gemeinwesen zur Inklusion befähigen! Berlin/Hamburg, 2009, S. 16.