Doppelt so viele Überschuldete wie vor 20 Jahren
Erstmalig hat das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) 1990 Zahlen zur Überschuldungssituation in Deutschland (damals noch ohne die neuen Bundesländer) veröffentlicht. Bis heute hat sich die Zahl der überschuldeten Haushalte mehr als verdoppelt. Nach den zuletzt veröffentlichten Statistiken sind rund drei Millionen Haushalte überschuldet. Das heißt, sieben Prozent aller Haushalte in Deutschland (also jeder 14.) sind davon betroffen. Überschuldung bedeutet: Die Haushalte sind nicht mehr in der Lage, mit ihrem Einkommen oder Vermögen laufende Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Sie sind zahlungsunfähig. Daneben gelten etwa 1,2 Millionen Haushalte als akut überschuldungsgefährdet. Ihr monatliches Budget reicht gerade dafür aus, ihren wiederkehrenden Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Danach verbleibt ihnen so wenig Geld, dass bereits kleine Störungen - wie etwa die Reparatur der Waschmaschine oder steigende Energiepreise - den finanziellen Kollaps auslösen können.
Überschuldung - Verarmung - Ausgrenzung
Die Überschuldungssituation vieler Familien in Deutschland ist eine wesentliche Ursache für ihre Verarmung und soziale Ausgrenzung. Das Überschuldungsproblem betrifft nicht ausschließlich soziale Randlagen, sondern dehnt sich auf weite Bevölkerungsschichten aus (siehe dazu neue caritas Heft 19/2009, S. 9 f.). Verschuldungsprozesse, die in Überschuldung münden, kommen in allen sozialen Schichten vor. Überschuldung bedeutet für die Betroffenen eine völlige Destabilisierung ihrer Existenz. Sie sind Stress und psychischem Druck ausgesetzt und häufig gesundheitlich beeinträchtigt. Materielle und immaterielle Belastungen verstärken sich gegenseitig. Die kritischen Verhältnisse belasten Partnerschaften schwer und beschädigen die Entwicklung der Kinder. Zu Unrecht wird in der öffentlichen Diskussion Überschuldung regelmäßig auf materielle Probleme verkürzt.
Es wird heute von niemandem mehr bestritten, dass die Beratung überschuldeter Menschen eine dringend notwendige und sinnvolle Hilfe ist. Eine zunehmende Zahl überschuldeter Menschen hat ohne eine qualifizierte Schuldnerberatung kaum mehr eine Chance, ihre aus Überschuldung resultierenden Probleme zu lösen. Die soziale Schuldnerberatung der Wohlfahrts- und Verbraucherverbände hat die Funktion einer wirtschaftlichen und sozialen Stabilisierung. Zu ihren Aufgaben gehört neben der Existenzsicherung, dem Schuldnerschutz und der Schuldenregulierung auch die psychosoziale Beratung.
Zu wenig Beratungsstellen
Zurzeit gibt es in Deutschland etwa 1000 anerkannte Beratungsstellen. Gemessen an der Zahl der überschuldeten Haushalte ist der Bedarf bei weitem nicht gedeckt. Das zeigt sich unter anderem an den langen Wartezeiten, bis es zu einem ersten Gespräch kommt. Aufgrund der hohen Nachfrage können Beratungsstellen häufig nur eine existenzsichernde Kurzberatung und keine darüber hinausgehende Entschuldungsberatung anbieten. Wegen der ungenügenden Beratungskapazität ist es derzeit nur zehn bis 15 Prozent der überschuldeten Menschen möglich, in einer Schuldnerberatungsstelle kostenlose Hilfe zu erhalten.
Geschäfte mit der Armut
Die langen Wartezeiten bei den Beratungsstellen machen sich unseriöse gewerbliche "Schuldenregulierer" zunutze. Sie werben damit, dass es bei ihnen keine Wartezeiten gebe. Oftmals tappen Schuldner in diese Falle. Sie sind nicht in der Lage auf den ersten Blick zu erkennen, dass diese Firmen häufig nichts anderes tun, als gegen hohe Gebühren lediglich einfachste Bürodienste zu erledigen (Erfassen der Gläubiger und deren Forderung in einer EDV-Akte). Oder sie vermitteln an einen Anwalt, der zusätzlich Honorar verlangt.
Die derzeitige Finanzierung der Beratungsstellen wird von den Ländern, den Kommunen und mit dem Einsatz erheblicher Eigenmittel der Wohlfahrts- und Verbraucherverbände gewährleistet. Die Finanzierung ist in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt; "Schlusslicht" ist hier Hessen, wo es seit 2005 überhaupt keine Landesmittel mehr gibt. In einigen Bundesländern ist es gelungen, die Sparkassen- und Giroverbände in die Finanzierung einzubinden. Obwohl alle anderen Banken und Branchen von der Arbeit der Schuldnerberatung ebenso profitieren, lehnen sie bisher eine finanzielle Beteiligung ab.
Überschuldungsstatistik weiterentwickeln
Die Überschuldungsstatistik wurde gemeinsam vom Bundesfamilienministerium, den Bundesländern, der Wissenschaft, dem Statistischen Bundesamt und der Schuldnerberatung entwickelt. Im Jahr 2006 konnten die Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen auf freiwilliger Basis erstmals Daten über ihre Klientel und ihre Arbeit online zum Statistischen Bundesamt melden. Vorher erfassten die Beratungsstellen ihre Daten in unterschiedlichem Umfang und nach unterschiedlichen Kriterien. Eine Vergleichbarkeit der auf diese Weise gewonnenen Klientenstatistik war bis 2006 nur sehr schwer möglich.
Aus Gründen des Datenschutzes werden nur Daten von Klienten mit einer durch das Statistische Bundesamt zertifizierten Software erfasst und anonymisiert weitergeleitet, die schriftlich ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Datenerhebung selbst führt in den Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen zu keiner großen Mehrbelastung, da sich viele Eingabefelder der elektronischen Aktenführung mit den Angaben für die Überschuldungsstatistik decken. Die Daten ermöglichen Aussagen vor allem über die Soziodemografie der Klienten. Die Erkenntnisse können sowohl für die Beratungsarbeit genutzt werden als auch für die sozialpolitische Arbeit. Auch können mit ihrer Hilfe Regelungsvorschläge zur Verhinderung von Überschuldungssituationen entwickelt werden. Einschränkend muss aber gesagt werden, dass die Überschuldungsstatistik weder ein vollständiges Bild der überschuldeten Privathaushalte in Deutschland noch über die Leistung der Schuldnerberatungsstellen liefert. Das Instrument ist daher mit wissenschaftlicher Begleitung weiterzuentwickeln und zu evaluieren.
Erfreulicherweise hat sich die Beteiligung der Beratungsstellen an der Überschuldungsstatistik seit dem Beginn der bundesweiten Erhebung weiter verbessert. Ziel ist es, dass in naher Zukunft alle Beratungsstellen an der bundesweiten Erhebung teilnehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten die noch bestehenden Landesstatistiken an die Module der Bundesstatistik angeglichen werden. Denn das Führen mehrerer Statistiken bedeutet für die Beratungsstellen unnötige Doppelarbeit.
Die momentane gesetzliche Grundlage der Überschuldungsstatistik erlaubt nur eine bis zum Jahre 2010 befristete Befragung der Beratungsstellen. Angesichts des Ausmaßes der privaten Überschuldung und der damit einhergehenden enormen sozialen und auch wirtschaftlichen Probleme ist es aus Sicht der Schuldnerberatung notwendig, für eine gesicherte und vergleichbare Datenerhebung zu sorgen. Wir benötigen einerseits gesicherte statistische Angaben zu den beratenen Personen und andererseits Daten, die die Leistung der Beratungsstellen sinnvoll dokumentieren. Wir fordern daher die Politik auf, die gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen, dass die Überschuldungsstatistik über das Jahr 2010 hinaus unbefristet fortgesetzt werden kann.