"Am Leben in der Gemeinde teilhaben"
Für Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung in Deutschland wird das Leben in dezentralisierten Wohnformen, regionalen Wohnverbünden und ambulant betreuten Wohnformen mehr und mehr zum Normalfall. Gegenüber dem Wohnen in zentralisierten Großeinrichtungen setzt dies ein ungleich höheres Maß an Eigenverantwortung und selbstbestimmter Aktivität voraus: Die dezentral Wohnenden müssen ihren persönlichen Sozialraum entdecken, aufbauen, pflegen. Sie sollten ihn mitgestalten und ihre Bürgerrechte im lokalen Gemeinwesen einfordern.
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen1, von Bundestag und Bundesrat 2008 ratifiziert, fordert in ihren Artikeln 19 und 29 Barrierefreiheit - nicht nur auf bauliche Hindernisse bezogen. Mit Barrierefreiheit meint die Konvention den gleichberechtigten Zugang zu allen Lebensbereichen und volle Einbeziehung und Teilhabe an der Gemeinschaft. Um das Ziel uneingeschränkter gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu erreichen, bedarf es laut Artikel 19 der Konvention neuer Unterstützungsdienste. Hinter ihnen muss sich eine Werthaltung verbergen, die den Menschen als Subjekt der eigenen Lebensführung sowie den Aufbau von Beziehungen stärkt.
Mit seiner Initiative "Am Leben in der Gemeinde teilhaben - Lokaler Teilhabekreis" sucht der CBP im Projektverbund mit aktuell 14 mitwirkenden Trägern und 18 Teilhabekreisen konkrete Wege, Menschen in ihrem Wunsch nach einem "Leben in der Gemeinde" zu unterstützen. Seinen Mitgliedern - zum Beispiel Wohnheimen oder ambulanten Diensten - bietet der CBP mit dieser Initiative eine Handlungsidee für ihr weiteres Projektmanagement an.
Praxisstart vor zwei Jahren
Im nordrhein-westfälischen Nottuln, einer Gemeinde mit 20.000 Einwohnern, wurde im August 2007 der bundesweit erste lokale Teilhabekreis gegründet. Er hat bisher erfolgreich viele neue Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung zum Beispiel in örtlichen Gruppen und Vereinen geknüpft und bestehende Kontakte intensiviert. Initiiert hat diesen ersten lokalen Teilhabekreis die Stift Tilbeck GmbH, eine Komplexeinrichtung im Münsterland, die zurzeit 510 Menschen mit Behinderung in stationären und ambulanten Wohnformen in der Stammeinrichtung sowie in sechs umliegenden Gemeinden betreut.2
Was einen lokalen Teilhabekreis auszeichnet
Der lokale Teilhabekreis besteht in der Konzeption aus einer Runde von Menschen mit und ohne Behinderung.3 Alle Mitglieder des Kreises treffen sich regelmäßig, um Ideen zu sammeln und sich auszutauschen. Der lokale Teilhabekreis stellt sich die Aufgabe, einen selbstverständlichen Umgang in partnerschaftlichem Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung zu entwickeln, sowohl im Kreis selbst als auch im Gemeinwesen. Die Vision: Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung sind Bürger(innen), die das Gemeinwesen aktiv mitgestalten. Die örtliche Gemeinschaft - im Sinne einer Bürgergesellschaft - ist bereit, die Interessen und Bedürfnisse aller und somit auch der schwächeren und unterstützungsbedürftigeren Bürger(innen) zu sehen und einzubinden.
"Minister" kümmern sich
Im Kreis werden Aufgaben und Rollen klar verteilt, um die Komplexität für Menschen mit Behinderung zu verringern und durch Rollen- und Positionsklärung die Gruppe in ihrer Arbeitsfähigkeit zu unterstützen. So hat der/die "Innenminister(in)" die Aufgabe, die Wünsche, Hobbys und Interessen der Mitbewohner(innen) zu erfragen und sie im lokalen Teilhabekreis vorzutragen. Seine/ihre Fragen lauten zum Beispiel: "Wo würden Sie gerne mitmachen? Was wünschen Sie sich, damit Sie sich hier wohlfühlen können?"
Fürs Geld zuständig ist der/die Finanzminister(in). Er oder sie muss klären, wie teuer die einzelnen Angebote für gemeinsame Aktivitäten des lokalen Teilhabekreises sind und woher das Geld kommt - von der Einrichtung, den Beteiligten selbst oder aus Spenden.
Der/die Außenminister(in) ist für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Er/ sie soll vielen Menschen in der Gemeinde, dem Stadtteil erklären, was ein lokaler Teilhabekreis ist und was er erreichen will. Er oder sie informiert auch bei wichtigen Ereignissen die Presse.
Der/die Kulturminister(in) kennt viele Gruppen und Vereine und die Menschen im Ort. Er oder sie findet heraus, wo und mit wem die (Neu-)Bürgerinnen und -Bürger ihre Hobbys und Interessen (zum Beispiel Chor oder Sportverein) verwirklichen können.
Eine Ministerrolle kann jeder übernehmen, der dazu Lust hat. Mitarbeitende der Caritas haben die Aufgabe, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung nach einem "Teilhaben am Leben in der Gemeinde" aufzunehmen. Sie können dieser Aufgabe nachkommen, indem sie einen lokalen Teilhabekreis bewusst im Sinne der "Hilfe zur Selbsthilfe" als Angebot initiieren und als Beteiligungsmethode für und mit Klient(inn)en aus Einrichtungen und Diensten gründen.
Ein lokaler Teilhabekreis kann für Menschen mit Behinderung von besonderer Bedeutung sein, die aus (Komplex-) Einrichtungen in gemeindeintegrierte Wohnformen umziehen. Ebenso wichtig wird seine Unterstützung für Menschen, die in ihrem Gemeinwesen bereits wohnen, jedoch bisher noch nicht "angekommen" sind und noch keine oder wenige Kontakte in die Gemeinde haben.
Die Eigendynamik von Selbstbestimmung stützen
Kern des Konzepts der CBP-Initiative zur Teilhabe am Gemeinwesen ist es, "Menschen mit Behinderung als aktiv Beteiligte in die erforderlichen Prozesse einzubeziehen"4. Das Initiieren und die Begleitung von lokalen Teilhabekreisen ermöglichen es Einrichtungen und Diensten, in einer strukturierten Form person- und gemeindeorientierte Angebote im Gemeinwesen zu entwickeln. Außerdem unterstützen Einrichtungen und Dienste Menschen in der Vertretung ihrer Belange und stützen so ein Lobbying für ihre selbstbestimmte Teilhabe vor Ort. Nur so lassen sich ein selbstverständlicher Umgang und ein partnerschaftliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung im Gemeinwesen entwickeln: durch das Schaffen persönlicher Begegnungen und gemeinsamer Erlebnisse und nur durch konkretes eigenes Handeln von Menschen mit Behinderung vor Ort.
Die Initiative und alle Beteiligten fördern somit nicht ein "Management von Teilhabe" für Menschen mit Behinderung durch Fachkräfte - vielmehr unterstützen Fachkräfte aus Einrichtungen und Diensten der Caritas bürgerschaftliches Engagement von Menschen mit und ohne Behinderung im Gemeinwesen.
Die Projektidee birgt somit für Einrichtungen und Dienste der Behindertenhilfe und Psychiatrie eine komplexe innovative Aufgabenstellung. Denn Teilhabe am Leben der Gesellschaft von Menschen mit Behinderung bringt zum einen neue Herausforderungen der Sozialraumorientierung für die heilerzieherische oder heilpädagogische Fachkraft und ihre Fachlichkeit. Zum anderen erfordert die Verwirklichung selbstbestimmter Teilhabe die Bereitschaft zu umfangreichem Wandel einer Organisation und des Managements. Die Gespräche und eine Auswertung der letzten Vernetzungstreffen der Projektleitungen aus Einrichtungen und Diensten zeigen, dass verschiedene Handlungsfelder einer Sozialraumorientierung allesamt für die Begleitung eines lokalen Teilhabekreises Bedeutung haben (s. Tabelle).
Darüber hinaus fordert der lokale Teilhabekreis die Einrichtung heraus, nicht als alleiniger Akteur selbst gemeinwesenorientiert zu agieren, sondern einen Kreis aus Menschen mit und ohne Behinderung zu befähigen, selbstbestimmt ihren Sozialraum mitzugestalten. Ein wichtiges neues Handlungsfeld kommt damit in den Blick der Einrichtung: nicht nur Menschen mit Behinderung als primäre und alleinige Zielgruppe, sondern das Gemeinwesen und Gruppen aus Menschen mit und ohne Behinderung in ihrem selbstbestimmten und partnerschaftlichen Leben und Handeln zu stärken.
Die Initiative sucht weitere Akteure
Einrichtungen der Behindertenhilfe wandeln sich, neue gemeinwesenorientierte Handlungsfelder öffnen sich und müssen strukturiert und miteinander vernetzt werden. Die Initiative des CBP ist mit Einrichtungen und Diensten und mit Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam unterwegs, die Gemeinde zu entdecken und die für den Wandel der Organisation notwendigen Schritte zu gehen.
Die Projektbegleitung der Einrichtungen und Dienste im Rahmen der Initiative wird bis März 2011 durch die Aktion Mensch unterstützt. Sie zeigt, dass es im Rahmen des Projektes eine wichtige Aufgabe ist, den gemeinwesenorientierten Wandel der Organisation zu gestalten. Diesen Wandlungsprozess unterstützt die Initiative durch Vernetzung, Fortbildung und Moderation der Projektleitungen und aller Beteiligten.
Unter www.cbp.caritas.de gibt es weitere Informationen zum Einstieg in die Initiative. Auch die Leserinnen und Leser der neuen caritas können die Initiative "Am Leben in der Gemeinde teilhaben" unterstützen: mit der Gründung eines lokalen Teilhabekreises.
Anmerkungen
1. Unter www.bmas.de/portal/2888/ kann die deutsche Version heruntergeladen werden.
2. Gerlach-Wienke, Ute: Teilhaben am Leben in der Gemeinde : Nottuln im Münsterland macht sich auf einen neuen Weg. In: Behinderung & Pastoral /Themenschwerpunkt: Wohnen und Behinderung 11/Dezember 2008, S. 17-19.
3. Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie: Am Leben in der Gemeinde teilhaben - Lokale Teilhabekreise : Eine Initiative des Bundesfachverbandes Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP) - Projektskizze - Konzeption. Freiburg, 2008. Unter www.cbp.caritas.de/65365.asp kann das Dokument heruntergeladen werden.
4. Ebenda, S. 2.