Eingliederungshilfe muss Vorrang vor Pflege haben
Menschen mit Behinderung haben im Alter oft mit der Schwierigkeit zu tun, dass die Sozialverwaltungen unsicher sind. Diese wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen, dass auch Menschen mit Behinderung Pflegebedarf entwickeln und zugleich weiterhin Eingliederungshilfebedarf besteht.
Eingliederungshilfe soll Behinderung abwenden
Die Eingliederungshilfe hat die Aufgabe, Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mindern. Diese zentrale Aufgabe nennt § 10 SGB I. Sie hat dazu, wie es in § 43 Abs. 3 SGB XII konkretisiert wird, den Menschen mit Behinderung die Teilnahme am Leben der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Sie hat ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen Tätigkeit zu ermöglichen und sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Diese Aufgabenbeschreibung ist zielbezogen. Das Ziel ist die Eingliederung in die Gesellschaft und zugleich die Selbstbestimmung. Dieser zweifache Auftrag der Eingliederungshilfe geht von folgender Grundannahme aus: Alle Menschen wollen in die Gesellschaft eingegliedert sein und betrachten dies als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung. Hier liegen wichtige anthropologische Konsense zugrunde, die zu dem Zeitpunkt, an dem Ziele der Eingliederungshilfe formuliert wurden, wesentlich stärker waren, als sie heute in der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland sind. Die Grundannahme, dass der Gemeinschaftsbezug menschlichen Lebens anthropologisch essenziell ist, dürfte heute nur noch von Teilen der Gesellschaft mitgetragen werden. Soll bei der Umsetzung des geltenden Rechtes aber von den Bestimmungen der zitierten Vorschriften ausgegangen werden, muss sogleich davon ausgegangen werden, dass Kompromisslösungen wenigstens in weiten Teilen tragfähig sind. Dieses bedeutet für das Eingliederungsziel "Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft", dass allen Menschen in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland diese Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werden muss. Dieser Gedanke ist besonders dann von Bedeutung, wenn nach Auffassung vieler für Einzelne eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nur schwer vorstellbar ist. In Wahrheit stellt die Formulierung des Eingliederungszieles "Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft" einen Auftrag an die Fantasie der Gesellschaft. Denn Wege zur Teilhabe müssen stets neu erfunden werden, damit diejenigen eigene Teilhabechancen entwickeln können, die unter den aktuellen Bedingungen nicht teilhaben können. Mit dem Eingliederungsziel der Ermöglichung von Berufsausübung oder einer angemessenen Tätigkeit entsteht ein Teilhabeziel, das entgegen landläufiger Annahmen auch für ältere Menschen mit Behinderung zentrale Bedeutung hat. Auch sie möchten Vielfalt im Rahmen von beruflicher oder quasi beruflicher Tätigkeit anstreben. Auch sie wollen das Erlebnis sinnvoller Strukturierung ihres Alltags haben. Dieses entspricht im Übrigen gesellschaftlicher Normalität.
Regelbiografien mit festen Altersgrenzen zum Ausschalten der beruflichen Tätigkeit auf Knopfdruck lösen sich zunehmend auf. Daher muss auch älteren Menschen mit Behinderung nach Vollendung des 65. Lebensjahres ermöglicht werden, eine Tätigkeit, die sie beispielsweise bisher in einer Vollzeittätigkeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung ausgeübt haben, dort an einem anderen Ort in gleicher oder anderer Weise auszuüben. Vorausgesetzt die Betroffenen wollen es. Das Teilhabeziel der Unabhängigkeit von Pflege muss für ältere Menschen mit Behinderung dazu führen, dass sie die Chance bekommen, ihren behinderungsbedingten Eingliederungshilfebedarf unabhängig von der Frage decken zu können, ob sie auch oder sogar überwiegend pflegebedürftig sind. Eine Vorstellung, nach der beispielsweise überwiegend pflegebedürftige ältere Menschen mit Behinderung ihren Anspruch auf Eingliederungshilfe verlieren, ist mit geltendem Recht nicht vereinbar. Im Rahmen des in der Eingliederungshilfe offenen Hilfekataloges sind alle geeigneten und erforderlichen Hilfen zu ergreifen und zu gewähren, sofern der einzelne Mensch diese wünscht.
Aufgaben der Sozialversicherung
Der Umfang der Aufgaben der Sozialversicherung bestimmt sich nach § 4 SGB I. Nach dessen Abs. 2 hat derjenige, der in der Sozialversicherung versichert ist, im Rahmen der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung ein Recht auf die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit sowie zur wirtschaftlichen Sicherung bei Krankheit, Mutterschaft, Min- derung der Erwerbstätigkeit und im Alter. Konkretisiert wird die Aufgabe der gesetzlichen Pflegeversicherung in § 21a SGB I. Nach dessen Abs. 1 können im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung die Leistung der häuslichen Pflege als Pflegesachleistung, Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen, häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson, Pflegehilfsmittel, technische Hilfen sowie teilstationäre Pflege und Kurzzeitpflege, Leistungen durch Pflegepersonen und schließlich vollstationäre Pflegeleistungen in Anspruch genommen werden. Zuständige Leistungsträger sind gemäß Abs. 2 der Vorschrift die Pflegekassen, die bei den Krankenkassen eingerichtet wurden. Der Fokus der Leistung liegt also auf Gesundheit und der körperlichen Leistungsfähigkeit. Deren Erhalt, Besserung und Wiederherstellung stellen das Leistungsziel dar. Die wirtschaftliche Absicherung der Versicherten ist als eine damit verbundene Aufgabe genannt.
Eingliederungshilfe und Pflege sind grundverschieden
Zentraler Grund für Schwierigkeiten in der Koordinierung von Leistungen der Eingliederungshilfe und Leistungen der Pflege ist die Asymmetrie in der Aufgabenbeschreibung für die jeweiligen Sozialleistungen. Diese führt dazu, dass auch dann, wenn im Einzelfall tatsächlich identische oder fast identische Handlungen Leistungsinhalte sind, trotzdem nicht identische Hilfen entstehen können. Dies liegt daran, dass weder im Bereich der Eingliederungshilfe noch im Bereich der Pflege einzelne Verrichtungen als Sozialleistungen geschuldet sind, sondern diese Verrichtungen erst in Verbindung mit dem jeweiligen Hilfeziel ihren Sinn und damit ihre Bestimmung als Sozialleistung erhalten können. Wenn aber Handlungen mit unterschiedlichen Zielrichtungen ausgeführt werden, ist genau zu überprüfen, ob es sich überhaupt um identische Hilfegeschehen handelt. Dieses wird meist nicht der Fall sein.
Neben diesen Problemen in der Koordinierung zwischen Pflegeleistungen und Eingliederungshilfeleistungen besteht ein weiterer wichtiger Unterschied und zwar in der unterschiedlichen Organisation der Hilfen. Leistungen der Pflege werden durch Heil- und Hilfsmittelkataloge bestimmt. Für Leistungen der Eingliederungshilfe gilt hingegen ein offener Hilfekatalog. In diesem Sinne wird von den beiden Leistungssystemen auch von "Teilkasko-" oder "Vollkaskosystemen" gesprochen. In enger Verbindung damit steht die im Bereich der Pflege vielfach vorzufindende Orientierung an "Verrichtungen". Im Bereich der Eingliederungshilfe herrscht noch immer die Orientierung an Hilfezielen vor. Ein weiterer Unterschied findet sich in den Organisationsformen: Im Bereich der Pflege sind freigemeinnützige und privatgewerbliche Anbieter parallel und in offener Konkurrenz tätig. Im Bereich der Eingliederungshilfe können zwar neben Trägern der Wohlfahrtspflege auch privatgewerbliche Anbieter auftreten. Dies kommt praktisch jedoch nur selten vor. So ist der Bereich der Eingliederungshilfe fast ausschließlich ein Bereich der freien und öffentlichen Träger der sozialen Arbeit.
Wegen des unterschiedlichen Charakters der Leistung der Eingliederungshilfe und der Pflege ist es erforderlich, die beiden Leistungsbereiche in ein geordnetes Verhältnis zueinander zu bringen. Die erforderliche Klärung findet sich in § 13 Abs. 3 SGB XI.
Nach dieser Bestimmung gehen Pflegeversicherungsleistungen nach dem 12. Buch vor. Die Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung nach dem 12. Buch und weiteren Vorschriften bleiben jedoch unberührt. Sie sind im Verhältnis zur Pflegeversicherungsleistung nicht nachrangig. Die notwendige Hilfe in Einrichtungen ist einschließlich der Pflegeleistung zu gewähren.
Welche praktischen Lösungen sind möglich?
Der wichtigste Ansatz für eine praktische Lösung ist die Beschreibung von Eingliederungsbedarfen im Gesamtplan nach § 58 SGB XII. Dieses wirft in der Umsetzung regelmäßig die Schwierigkeit auf, dass die Eingliederungsbedarfe normalerweise als Summe von Defiziten beschrieben werden. Damit liegt eine Beschreibung des Hilfebedarfs nach dem SGB XII häufig in schwer zu unterscheidender Nähe zu den Hilfebedarfen nach dem SGB XI. Dieses verleitet häufig zu der Annahme, dass die Hilfebedarfe nach dem SGB XII durch die Hilfebedarfe nach dem SGB XI gewissermaßen mit abgedeckt würden. Soll dieser Eindruck vermieden werden, ist vor allem auf die Teilhabewünsche der Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfänger und deren Teilhabechancen zu schauen. Deren Schwierigkeiten sind dabei als zu überwindende Probleme im Rahmen eines konkreten Gestaltungsprozesses zu beschreiben.
Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass die Realisierung von Wünschen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auch zur Folge haben kann, dass sich der körperliche Zustand eines Hilfeempfängers verschlechtert. In diesen Fällen ist im Rahmen des Selbstbestimmungsrechtes des Hilfeempfängers oder der Hilfeempfängerin sorgfältig darauf zu achten, dass ihre Wünsche entweder nach einem möglichst schmerzfreien Zustand oder aber auch nach einer auch körperlich schädlichen Teilhabe realisiert werden. Die Orientierung an den Interessen der Betroffenen ist schon zur Wahrung von deren Würde geboten.
Eine andere Möglichkeit zu praktischen Lösungen zu kommen, ist die Beantragung der Hilfe in Form eines trägerübergreifenden persönlichen Budgets. Hierbei stellt sich allerdings die vielfältig diskutierte Frage nach der Finanzierung des notwendigen Budget-Managements und der notwendigen Budget-Assistenz. Zusätzlich ist zu beachten, dass das Pflegegeld nach § 37 SGB XI von vielen Fachleuten als insuffizient in seiner Höhe angesehen wird.
Wie sieht die Zukunft aus?
Wird der Versuch unternommen, Perspektiven zu beschreiben, so kann man sich dem Eindruck nicht verschließen, dass sich immer mehr Menschen mit Behinderung im Alter mit der Situation auseinandersetzen müssen, dass sie aus dem Bereich der Eingliederungshilfe in den Bereich der Pflege gedrängt werden, weil angenommen wird, dass der Pflegebedarf überwiege oder die Eingliederung nun des Alters wegen unmöglich geworden sei. Zur Vermeidung dieses Ergebnisses wird es darauf ankommen, dass von diesen Prozessen betroffenen Menschen die erforderliche Unterstützung von zum Beispiel freien Trägern in der Eingliederungshilfe gewährt werden wird.
Eine weitere Perspektive, ist die Verpflichtung der Einrichtung in der Eingliederungshilfe auf die Standards der Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste durch Heimaufsichten. Dies hat zur Folge, dass auch in der Eingliederungshilfe die Orientierung auf Verrichtungen erfolgt und die im Bereich der Pflege üblichen Dokumentationspflichten übertragen werden. Dieser Prozess wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge haben, dass die Erfolge in der Eingliederungshilfe weiter in den Hintergrund treten. Einrichtungsleitungen werden ihre Personalführung daran orientieren, dass möglichst umfassend Einzelhandlungen nachvollziehbar dokumentiert werden und damit Eingliederung als eine Quasi-Pflege aus dem Bereich sozialarbeiterisch verantwortenden Handels herausgelöst wird.
Schließlich lässt sich die Entwicklung beobachten, dass die Schaffung von Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung im Rentenalter erforderlich wird. Grund dafür sind im wesentlichen wirtschaftliche Prozesse sowohl bei der Gestaltung der Leistungs- und Entgeltvereinbarungen als auch bei der Gestaltung des Personaleinsatzes.
Es besteht Reformbedarf
Zentraler Orientierungspunkt für eine Reform ist das Menschenwürdeprinzip und damit die Ausrichtung der Hilfe am Einzelfall. Deshalb muss die Eingliederungshilfe in § 13 SGB XI als vorrangig normiert werden. Enthinderung geht körperlicher Funktionsfähigkeit vor. Für ältere Menschen mit Behinderung muss die Möglichkeit geschaffen werden, sich im Zuge von Gesamtplanung auch gegen optimale Pflege zugunsten von mehr Teilhabe zu entscheiden. Schließlich müssen Möglichkeiten entwickelt werden, die Berufstätigkeit und die ehrenamtliche Tätigkeit alter Menschen mit Behinderung möglich machen. Träger der Eingliederungshilfe können dies als Bestandteil modularisierter Leistungsangebote formulieren und umsetzen.