Wer arm ist, stirbt früher
"Die Zeit ist reif" für ein Präventionsgesetz. So lautete die Resolution des 13. Kongresses Armut und Gesundheit, der von "Gesundheit Berlin", der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung, veranstaltet wurde. Damals, im Winter 2007, zeichnete sich jedoch bereits ab, was heute Gewissheit ist. Auch in dieser Legislaturperiode wird es in Deutschland nicht zur Verabschiedung eines Präventionsgesetzes kommen.
Dabei gibt es mittlerweile ein breites gesellschaftliches Einvernehmen, dass Prävention einen wesentlich höheren Stellenwert in Deutschland haben muss. Oder wie Rolf Rosenbrock, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR), es formuliert: Prävention ist ein "need to have" und nicht bloß ein "nice to have" moderner Gesundheitspolitik.1 An fehlenden Argumenten für mehr Prävention kann es nicht liegen. Deutschland ist, wie alle Industrienationen, konfrontiert mit der Zunahme chronisch-degenerativer Erkrankungen, die enorme Kosten für das Gesundheitswesen verursachen - Erkrankungen, die in der Regel gut zu vermeiden wären. Es besteht eine ethische Verpflichtung für Prävention. Gesundheitschancen beziehungsweise das Risiko zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, sind auch in Deutschland in großem Umfang sozial bedingt ungleich verteilt. Männer, deren Einkommen zum unteren Fünftel in der Bevölkerung zählt, haben eine um acht Jahre geringere Lebenserwartung als Männer mit Einkommen innerhalb des oberen Fünftels.
Es gibt in Deutschland bereits eine Vielzahl von Akteuren und Aktivitäten im Bereich der Prävention. Allein die Datenbank www.gesundheitliche-chancengleichheit.de, die "Gesundheit Berlin" im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) betreibt, weist über 1700 Projekte aus, die sich mit Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten befassen. Kranken- und Unfallkassen unterhalten Programme, die neben individuellen Angeboten auch in Lebenswelten, Betrieben, Kitas und Schulen einen Beitrag zu mehr Bewegung, gesünderer Ernährung und Stressbewältigung leisten. Der Blick auf weitere Träger und Anbieter von Präventionsangeboten zeigt schnell, dass insgesamt eine Vielzahl von Partnern aktiv sind, die nicht zum klassischen Kreis der Gesundheitsakteure zählen. Wohlfahrtsverbände, Nachbarschaftszentren, Stadtteilinitiativen oder Volkshochschulen ergänzen den klassischen Kreis der Akteure aus Gesundheitsämtern, Krankenkassen oder Sportvereinen.
Dennoch fehlt es an einer klaren Orientierung für Prävention und einer Strategie, "die mit hinreichender Genauigkeit die Zielgruppen und Settings für Interventionen identifizieren und priorisieren kann. Auch bestehen nach wie vor große Unklarheiten im Hinblick auf Interventionsformen, Zuständigkeiten, Qualitätssicherung und Evaluation. Die Erschließung und Bearbeitung dieses Themenfeldes kann bislang als großes und dynamisch wachsendes Feld von Aktivitäten mit einem hohen Anteil an Experimenten beschrieben werden."2
Bund und Länder halten sich aus der Finanzierung heraus
Genau hier liegen die große Chance und die hohen Erwartungen, die sich mit dem Präventionsgesetz verbinden. Bislang haben nur die gesetzlichen Krankenkassen in § 20 SGB V einen entsprechenden gesetzlichen Auftrag erhalten. Indem formuliert wurde, dass sie mit ihren Aktivitäten im Bereich der Prävention auch einen Beitrag zur Verringerung sozial bedingter ungleicher Gesundheitschancen leisten sollen, wurden für einen Teil ihrer Präventionsangebote Zielgruppen und Zielorientierung bestimmt.
Es fehlt jedoch eine entsprechende Regelung, die weitere Sozialversicherungsträger und Akteure, insbesondere Bund und Länder, in die Finanzierung einbindet und Strukturen für eine koordinierte Umsetzung und Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung schafft. Auf Bundes- und Landesebene gibt es zwar Initiativen, die sich für mehr Abstimmung und Koordinierung engagieren. Neben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung und den Landesvereinigungen für Gesundheit sind hier vor allem die Prozesse zur Entwicklung von Gesundheitszielen auf Bundes- und Landesebene zu nennen (siehe zum Beispiel www.gesundheitsziele.de). Auch politische Initiativen wie der nationale Aktionsplan für gesunde Ernährung und mehr Bewegung "In Form" oder die Strategie der Bundesregierung für mehr Kindergesundheit zählen dazu. Gemeinsam ist diesen Prozessen, dass sie - basierend auf freiwilligen Übereinkünften - versuchen, Handlungs- und Zielorientierung zu entwickeln. Hinsichtlich der großen Herausforderungen der Prävention, Qualitätssicherung, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Prozesse transparent zu machen, bleibt jedoch weiterhin großer Handlungsbedarf.
Der Sachverständigenrat hat dazu im Jahr 2006 in seinem Gutachten formuliert: "Ein Mangel an auch für die Primärprävention geeigneten Konzepten und Instrumenten der Qualitätssicherung ist nicht festzustellen. Engpässe bestehen eher in der Bereitschaft und Motivation der Akteure, diese Instrumente an die Bedingungen der jeweiligen Interventionen anzupassen, unter Umständen auch in der Verfügbarkeit von Ressourcen."3
Erfolgreiche Prävention muss nicht nur die Voraussetzungen, sondern auch den Beleg für nachhaltige Wirksamkeit liefern. Dokumentation und Auswertung sowohl der positiven als auch der negativen Erfahrungen gehören zu den wichtigsten Aufgaben moderner Gesundheitspolitik.
Gesundheit für sozial benachteiligte Menschen
Hier setzt der von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung initiierte und maßgeblich getragene "Kooperationsverbund Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten" an. Er ist ein Zusammenschluss von mittlerweile 52 Partnern, darunter Bundes- und Landesvereinigungen für Gesundheit, die Verbände der gesetzlichen Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände, Deutscher Städtetag und Ärzteverbände. Ziel des 2003 gegründeten Kooperationsverbundes ist es, die insbesondere im Bereich der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten noch wenig vernetzten und nicht koordinierten Aktivitäten zu stärken und weiterzuentwickeln.
Neben der Vernetzung ist die Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung das vorrangige Anliegen des Kooperationsverbundes. Das haben die gesetzlichen Krankenkassen honoriert und nehmen in ihrem Leitfaden zur Umsetzung des § 20 SGB V ausdrücklich auf diese Qualitätskriterien Bezug.4
Im Kooperationsverbund wurden drei Arbeitsbereiche entwickelt, die eng miteinander verzahnt sind:
- Die Herstellung von Transparenz über Ansätze und Aktivitäten der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung im Zusammenhang mit der Internet-Plattform www.gesundheitliche-chancengleichheit.de. Unter dieser Adresse finden sich die bundesweit umfassendste Praxisdatenbank sowie weitere fachliche Inhalte und Hilfestellungen, Informationen zu aktuellen Entwicklungen und ein bundesweiter Veranstaltungsüberblick.
- Die Einrichtung von Koordinierungs- und Vernetzungsstellen in allen Bundesländern, sogenannte "Regionale Knoten". Angesiedelt bei den Landesvereinigungen für Gesundheit oder vergleichbaren Institutionen stärken sie Transparenz und Vernetzung auf Länderebene.
- Die Unterstützung der Qualitätsentwicklung in der Praxis. Dazu wurden zwölf Qualitätskriterien für gute Praxis in der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung entwickelt (siehe Abbildung Good Practice).5 Neben einem Auswahlverfahren für Beispiele guter Praxis wird ein Schulungskonzept entwickelt, dass den Projekten die Anwendung der Qualitätskriterien in ihrer täglichen Praxis erleichtert.
Der Good-Practice-Ansatz zeigt sich dabei als ein Modell, das dem Bedarf an flexiblen und kostengünstigen Konzepten der Qualitätsentwicklung Rechnung trägt. Finanzgeber und Entscheidungsträger finden im Good-Practice-Konzept einen klaren Kriterienrahmen für die Ausschreibung gesundheitsfördernder Aktivitäten, für die Bewertung und Auswahl von Anträgen sowie für die abschließende Bewertung der Projektarbeit. Aufgrund seiner modularen Struktur lässt es sich gut in andere Instrumente und Methoden der Qualitätssicherung integrieren.
Der ursprünglich in der gewerblichen Wirtschaft entwickelte Good-Practice-Ansatz ist darauf ausgerichtet, durch Lernen von den Erfahrungen anderer die eigene Praxis zu verbessern und berücksichtigt die Situation gesundheitsfördernder Praxisanbieter.
Ein weiteres Beispiel für die Anwendung dieses Konzepts stellen die Arbeitshilfen für Prävention und Gesundheitsförderung "Aktiv werden für Gesundheit" dar. Sie wurden im Rahmen von "In Form", dem nationalen Aktionsplan für gesunde Ernährung und mehr Bewegung im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums von Gesundheit Berlin entwickelt (siehe www.gesundheitliche-chancengleichheit.de, Arbeitshilfen). Die Arbeitshilfen enthalten viele Hinweise und Checklisten, wie in sozial benachteiligten Stadtteilen gemeinsam mit den Zielgruppen erfolgreiche Präventionsprojekte entwickelt werden können. Außerdem werden potenzielle Kooperationspartner und Finanzierungsmöglichkeiten, Methoden der Qualitätssicherung und Evaluation und eine Vielzahl erfolgreicher Projektideen vorgestellt.
Ein Präventionsgesetz, wie eingangs gefordert, könnte helfen, Rahmenbedingungen und Qualitätsentwicklung auch in der soziallagenbezogenen Prävention weiter zu verbessern.
Anmerkungen
1. Rosenbrock, Rolf: Primäre Prävention: Mehr Qualität durch ein Präventionsgesetz. In: Prävention, Heft 4/2007. Schwabenheim a.d. Salz : Fachverlag Peter Sabo, 2007. (Anm. d. Red. : sinngemäß übersetzt: Prävention ist ein "Muss" und nichts, was lässlich ist.)
2. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Kooperation und Verantwortung : Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung. Baden-Baden : Nomos, 2008, S. 777.
3. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Koordination und Qualität im Gesundheitswesen, Band 1: Kooperative Koordination und Wettbewerb, Sozioökonomischer Status und Gesundheit, Strategien der Primärprävention. Stuttgart : Kohlhammer, 2006, S. 375.
4. Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen: Stärkung der Prävention in Deutschland : Anstoß für einen neuen Dialog. Position der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen vom 13. Juni 2006, Bergisch-Gladbach.
5. BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung): Kriterien guter Praxis in der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten : Ansatz - Beispiele - Weiterführende Informationen. 3., erweiterte Auflage, Gesundheitsförderung Konkret 5, Köln : BZgA, 2007.