Die Geschichte vom falschen Lastwagenfahrer
Dies ist eine wahre Geschichte, aber sie liegt fast 28 Jahre zurück. Es existieren nur wenige Zeitdokumente. Deshalb ist es möglich, dass einige Teile nicht hundertprozentig korrekt sind, sondern der Verklärung der Erinnerung anheimgefallen sind ... Doch hier die Geschichte:
13. Dezember 1981: Plötzlich war sie da, die Nachricht von der Verhängung des Kriegsrechts in Polen. Die polnische Armee hatte über Nacht die Macht übernommen. Alle Kommunikationswege waren unterbrochen - also Telefon, Telexverkehr, mehr gab es damals nicht. Fernsehen und Radiostationen waren in der Hand der Militärs. Tausende Oppositionelle wurden interniert, Streiks niedergeschlagen. Es gab eine Ausgangssperre ab 22 Uhr, Polizeikontrollen an allen wichtigen Knotenpunkten, Panzer in den Städten und auf den Straßen.
Die Grenzen waren geschlossen, außer anscheinend für Hilfstransporte: Ein Transport der Caritas im Ruhrbistum, der sich zu der Zeit in Polen befand, hatte die Erlaubnis, das Land zu verlassen. Allerdings gab es keinerlei Kommunikation mit unseren polnischen Partnern - leider auch nicht mit dem Kattowitzer Weihbischof Ceslaw Domin, dem Vorsitzenden der Caritativen Kommission der Polnischen Bischofskonferenz, der alle Hilfen koordinierte.
Um zu erfahren, ob wir auch umgekehrt in das Land hineingelassen werden würden, planten wir einen weiteren Hilfstransport. Wir bekamen unsere Visa wie gewohnt bei der polnischen Botschaft in Köln mit dem Hinweis "Ohne Gewähr". Über die Zentrale des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg, die wir auf dem Laufenden hielten, wurde der Präsident von Caritas Internationalis (C.I.) im Vatikan in Rom informiert. Georg Hüssler, damals sowohl Präsident der deutschen Caritas als auch von Internationalis, meldete sich und hatte einen Fragenkatalog zur Situation der Kirche, der Caritas und der allgemeinen Lage in Polen während des Kriegsrechtes zusammengestellt, den ich nach der Rückkehr aus Polen sofort beantworten sollte. Als Ziel für den geplanten Transport aus Essen gab er auf Wunsch des damaligen Papstes Johannes Pauls II. den Ort Wadovice vor, den Geburtsort des Papstes.
Auch dieser zweite Transport klappte überraschenderweise. Bei der Rückkehr aus Polen, durch die DDR, an der deutsch-deutschen Grenze in Helmstedt wartete ein großer Pulk Journalist(inn)en auf uns, um Informationen zu bekommen. Aber auf Anordnung aus Rom gab es eine Nachrichtensperre. Keine Interviews, dafür sofort einen Bericht an C.I. (Präsident Georg Hüssler) über das Diensttelex der Helmstedter Autobahnpolizei. Danach durfte ich einige Erklärungen bei der Presse abgeben, ohne politische Aussagen, nur zur Situation.
Kurz vor Weihnachten bekam ich zu Hause einen Anruf von Georg Hüssler aus Rom: "Mach mir einen Transport, ich komme nur als Fahrer rein." So stellte ich einen kleinen Transport mit vier 7,5-Tonnen-Lkws zusammen - aber mit neun Fahrern, um Georg Hüssler zu entlasten (der nur ein kleines Stück selbst fahren musste). Wir hatten gerade einen eigenen Lastwagen gekauft, dazu drei Mietwagen, fertig war der Konvoi.
Der Führerschein lag noch in Rom
Georg Hüsslers Pass wurde aus Freiburg geschickt, zur schnellen Visumsbeschaffung im polnischen Konsulat in Köln. Von Vorteil war, dass wir früher immer kräftig geholfen hatten, die schwierige wirtschaftliche Situation der dort angestellten Diplomaten zu mildern. Als Georg Hüssler nach Essen kam und wir bei Bischof Hengsbach saßen, stellte er fest, dass er seinen Führerschein vergessen hatte. Ein Anruf vom Bischof beim Oberbürgermeister, und eine Stunde später hatte er einen internationalen Führerschein der Stadt Essen.
Der Winter 1981 war kalt, im Osten lag viel Schnee, in Polen wurde keine Straße geräumt, wir waren dort auch fast alleine unterwegs, sonst nur Militär, Polizei, ständige Kontrollen. Vorausgegangen waren stundenlange Wartezeiten bei der Ein- und Ausreise in die DDR. Viele polenfeindliche Bemerkungen der "Grenzkontrollorgane" waren zu hören. An der polnischen Grenze nach wie vor Soldaten und keine Zöllner. Das hatte den Vorteil, dass diese empfänglicher waren für kleine Aufmerksamkeiten und dadurch die Kontrolle spürbar schneller ging. Dies galt auch bei vielen Straßenkontrollen durch die Militärpolizei. Nur da, wo die ZOMO1, die Spezialpolizei, dabei war, wurde es unangenehm. Aber es ging vorwärts Richtung Oberschlesien, an Breslau vorbei, durch Oppeln, Hindenburg, immer im Schnee. Oft konnten wir den Straßenverlauf kaum erkennen. Nach über 30 Stunden erreichten wir in der Dunkelheit Kattowitz, unser Ziel.
Die Straßen waren wie leer gefegt
Es war gespenstisch, absolut leere Straßen, außer der Polizei und Militärpanzern. Wir wurden von der ZOMO bis zur Kurie gebracht. Dort mussten wir uns erst einmal bemerkbar machen, es gab ja keine Vorankündigung. Große Freude, Überraschung in den Gesichtern der polnischen Freunde und Partner. Aber sie durften die wahre Identität von Georg Hüssler angesichts der ZOMO nicht erkennen lassen.
Im warmen Speisesaal der Kurie erfuhren wir bei Tee, Brot und Bier dann erst einmal, dass kurz vor unserem Eintreffen neun Bergleute der Grube Wujek erschossen worden waren. Dort hatten viele Kumpel die Grube tagelang mit Sprengstoff besetzt. Sie wurden von der ZOMO belagert. Die Kattowitzer Bischöfe waren ständig vor Ort, beteten dort mit den Bergleuten, aber es half auch nicht, das Militär brach mit schwerem Gerät die Zechentore auf und die ZOMO schoss auf die "Aufständischen". Entsprechend war die Stimmung gedrückt.
Am nächsten Morgen - nach kurzer Nacht - luden wir die mitgeführten Hilfsgüter aus, die dringend benötigt wurden. Georg Hüssler sagte uns nach einem Vieraugengespräch mit Bischof Domin, er bliebe in Polen, wir sollten zurückfahren, sofort, um Weihnachten zu Hause zu sein. Er würde mit Bischof Domin mit dem Zug, (das ginge wohl wieder), nach Warschau fahren, um mit General Jaruzelski zu verhandeln, damit auch unter dem Kriegsrecht weitere Transporte erlaubt seien. Dass wir bisher ins Land durften, sei ein Zeichen, dass dies möglich sei. Zuvor kam er noch zu mir und meinte: "Die Caritas Polen braucht unbedingt einen Lastwagen. Wir verschenken euren Wagen, einverstanden!?" So fuhren wir mit nur drei Wagen, ein wenig enger in den Führerhäusern, durch Schnee und Eis zurück.
Hüssler und Domin fuhren nach Warschau und bekamen ihren Termin beim General. Dort wurde eine Vereinbarung unterzeichnet, die die Transporte weiterhin möglich machte. Georg Hüssler kam dann auf etwas verschlungenen Wegen, nämlich mit dem Zug bis Slubice (gegenüber Frankfurt/Oder), dann zu Fuß über die Grenze zur DDR, mit dem Zug bis Ost-Berlin, mit der S-Bahn nach Westberlin, dann mit dem Flieger nach Frankfurt/Main - dort gab er eine Pressekonferenz - zurück.
Übrigens: Für den verschenkten Lastwagen hat er uns entschädigt. Die historische Bedeutung dieser Tour aber, dass Hilfstransporte weiter möglich waren und sichtbar wurde, dass die Menschen in Polen nicht alleingelassen waren, sondern der "Weltpräsident" der Caritas quasi illegal eingereist war, um dies zu zeigen, wurde erst viel später deutlich. Für sein Engagement wird Georg Hüssler der "Krzyz Komandorski", eine der höchsten polnischen Auszeichnungen, verliehen.
Anmerkungen
1. Zmotoryzowane Odwody Milicji Obywatelskiej (ZOMO) (deutsch: Motorisierte Reserven der Bürgermiliz) war eine paramilitärische Organisation der polnischen Polizei.