"Bestens ausgebildet, gut bezahlt" - Migranten in Deutschland
Migrant(inn)en in Deutschland können zur neuen Elite des Landes werden, wie eine neue Studie dokumentiert."1 Mit diesen Worten skizziert Franz Walter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen, in "Spiegel Online" die neue Studie des Instituts "Sinus Sociovision" mit dem Titel "Repräsentativuntersuchung der Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland"2.
Viele Befunde der unter anderem vom Deutschen Caritasverband (DCV) und dem Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) in Auftrag gegebenen Untersuchung stützen diese Skizze: Der Anteil formal Hochgebildeter in den Gruppen der Migrant(inn)en liegt höher als beim Rest der Bevölkerung, ebenso die Quote der Besserverdienenden. Einen religiösen Fundamentalismus fanden die Forscher(innen) nur bei einer sehr kleinen Minderheit. Mehr als 80 Prozent äußern, dass sie "gerne" oder "sehr gerne" in Deutschland leben. Und übrigens: 33 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund sind katholisch getauft.
Das Institut hat auf der Basis einer im Jahr 2007 veröffentlichten qualitativen Studie3 nun im Dezember des vergangenen Jahres diese quantitative Studie vorgelegt. Orientiert an den Daten des statistischen Bundesamtes wurden 2072 Personen ausgewählt, die repräsentativ für die Grundgesamtheit der Menschen mit Migrationshintergrund ab 14 Jahren stehen. Aus den etwa zweistündigen persönlich-mündlichen Interviews mit diesen Personen hat das Institut ein Bild über die Alltagswirklichkeit der Migrant(inn)en entwickelt: Wie leben und erleben sie ihren Alltag? Welche Lebensziele verfolgen sie? Welche Wertvorstellungen haben sie? Und - und dies macht das Spezifikum des kultursoziologischen Sinus-Konzepts aus - sind die Migrant(inn)en eine homogene Gruppe beziehungsweise welche unterschiedlichen Gruppen gibt es? Trennen sich die verschiedenen Migrantenmilieus entlang ethnischer oder religiöser Grenzen?
Der differenzierte Blick des soziologischen Ansatzes führt zu Erkenntnissen, die das Gesamtbild relativieren. Auf der einen Seite sind viele Menschen mit Migrationshintergrund zu finden (die sich in unterschiedlich konturierten Milieus soziologisch zusammenfassen lassen, siehe Grafik 1), deren Lebenslogiken sich an Wertvorstellungen orientieren, die mit den Begriffen Integration, Aufklärung, multikulturelle Weltoffenheit beschrieben werden können - und die sich nicht signifikant von vergleichbaren Lebenswelten der Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland unterscheiden.
Auf der anderen Seite findet man mit der "Sinusbrille" zwei Milieus - mit insgesamt einem Viertel der Gesamtpopulation - deren Wertorientierungen anders liegen und die sich ebenfalls nicht signifikant unterscheiden von ähnlichen Milieus der Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland.
Auf diese beiden Milieus vor allem muss der Blick der Caritas fallen, lassen sich dadurch doch die Lebenswirklichkeiten und Wertorientierungen der Menschen besser beschreiben und verstehen, mit denen sie es vor allem zu tun hat: mit dem "entwurzelten Milieu" und dem "hedonistisch-subkulturellen Milieu".
Lebensrealität des entwurzelten Milieus
Das entwurzelte Milieu beschreibt die Lebenswelt von Menschen mit Migrationshintergrund
- vor allem aus der Altersgruppe der 20- bis 50-Jährigen;
- mit niedrigem Bildungsniveau, oft ohne Schulabschluss und Berufsausbildung;
- 75 Prozent sind nicht in Deutschland zur Schule gegangen;
- mit niedrigem Einkommensniveau;
- mit dem Zeitpunkt der Zuwanderung vor allem in den Neunzigern (38 Prozent) und ab 2000 (35 Prozent).
Die auf dem Wege einer Faktorenanalyse ermittelten zentralen Einstellungen weisen im Vergleich zu den anderen Milieus eine starke Betonung von "Autoritarismus" und "Entfremdung" auf.
Autoritarismus lässt sich fassen durch ein patriarchalisches Weltbild, eine autoritär-hierarchische Weltsicht und durch die Ablehnung moderner westlicher Rollen- und Lebensmuster. Entfremdung wird bestimmt durch Verunsicherung und Resignation, durch das Gefühl sozialer Isolation und den Verlust (kultureller) Identität und einem "Sich-Einnisten in der Verlierer-Ecke".
Das hedonistisch-subkulturelle Milieu beschreibt die Welt von Menschen mit Migrationshintergrund
- vor allem der unter 30-Jährigen (31 Prozent sind zwischen 14 und 19 Jahre alt);
- mit niedrigem Formalbildungsniveau, viele sind noch in der Ausbildung;
- 42 Prozent sind in Deutschland zur Schule gegangen;
- 30 Prozent haben noch kein eigenes Einkommen, ansonsten liegt das Haushaltsnettoeinkommen zwischen 2000 und 2500 Euro;
- mit Zeitpunkt der Zuwanderung vor allem in den Neunzigern (45 Prozent) und ab dem Jahr 2000 (21 Prozent).
Im Vergleich zu den anderen Milieus ist bei diesem der hohe Wert des Faktors Entfremdung auffallend (wie bei dem entwurzelten Milieu) und die deutliche Ablehnung von Pflicht- und Akzeptanzwerten (Pflichtwerte wie das Festhalten an traditionellen Tugenden wie Sparsamkeit, Bescheidenheit und Verlässlichkeit, eine hohe Bedeutung materieller und sozialer Sicherheit, Anti-Hedonismus und Einhalten sozialer Regeln).
Diese beiden Milieus haben vieles gemeinsam mit den jeweils "verwandten" Milieus der Menschen in Deutschland ohne Migrationshintergrund, den Konsum-Materialisten und den Hedonisten4. Dabei scheint vor allem die "Integration" zwischen den Hedonisten und dem hedonistisch-subkulturellen Milieu zu gelingen - in Abgrenzung zur Gesamtbevölkerung, zu den "Spießbürgern". Und auch umgekehrt lassen sich eine Fülle von Alltagserfahrungen ebenso wie soziologische Befunde finden, dass die Distinktionsgrenzen (besser: die "Ekelschranken") zwischen den bürgerlichen und den oberen Milieus einerseits und den Unterschichtmilieus andererseits funktionieren. Auch die Menschen mit Migrationshintergrund grenzen sich von ihren Landsleuten ab und ziehen, wenn möglich, in "bessere" Wohngegenden. "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" - das gilt für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Die Caritas will als Anwalt und als Dienstleister auf der Seite der "Schmuddelkinder" stehen. Dies macht sie in der alltäglichen Arbeit und in ihren Positionspapieren deutlich, zuletzt in den "Perspektiven des Deutschen Caritasverbandes zur Migrations- und Integrationspolitik"5. Die quantitative Milieustudie liefert eine Vielzahl von Belegen dafür, dass die Botschaft und die Forderungen nahe an der Alltagswirklichkeit von Migrant(inn)en sind.
Dicht an der Seite der Migrant(inn)en sein - die Studie von Sinus Sociovision ermöglicht dem DCV einen differenzierten Blick auf jene Migrant(inn)en, die vor allem anwaltliche und dienstleistende Hilfe benötigen. Ob diese Menschen die Caritas als Unterstützung wahrnehmen und sie an ihre Seite lassen - diese Chance muss sich die Caritas immer neu verdienen.
Anmerkungen
1. www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,594896,00.html
2. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie stehen im Internet unter: www.sinus-sociovision.de/Download/ZentraleErgebnisse09122008.pdf; weitere Informationen zu den Sinus-Milieus siehe auch Haimerl, Helmut: Sinus-Milieus: Wo bleibt die Kirche? In: neue caritas, Heft 18/2006, S.18ff.; Becker, Thomas: Wirksame Hilfe braucht Milieukenntnisse. In: neue caritas, Heft 16/2007, S. 9ff. und Fank-Landkammer, Barbara: Caritas und "Menschen am Rande" - wie werden sie gesehen? In: neue caritas, Heft 22/2008, S. 9ff.
3. Sinus-Studie: Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Zentrale Ergebnisse einer qualitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchung, siehe www.sinus-sociovision.de/Download/Zentrale_Ergebnisse_16102007.pdf
4. Das Milieu der Konsum-Materialisten besteht aus überdurchschnittlich vielen Arbeiter(inne)n, sie sind und fühlen sich sozial benachteiligt. Zu den Milieus der Unterschicht/unteren Mittelschicht gehören die Hedonisten. Sie wenden sich gegen "Spießertum", Motto: "Hauptsache Spaß".
5. Miteinander leben: Perspektiven des DCV zur Migrations- und Integrationspolitik, siehe neue caritas, Heft 18/2008, S. 30-39.