Spezial zur Kinderarmut
Zusammenfassung und Einleitung1
In Deutschland leben 1,9 Millionen Kinder unter 15 Jahren in Familien, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, das sogenannte Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld, erhalten. Damit ist jeder vierte der insgesamt 7,6 Millionen Hilfeempfänger ein Kind. Der Staat versucht, durch die Grundsicherungsleistungen Armut zu bekämpfen und den Menschen, die aus eigenem Einkommen ihre Existenz nicht oder nur teilweise sichern können (die sogenannten "Aufstocker"), ein Leben auf dem soziokulturellen Existenzminimum zu gewährleisten. Diese Funktion kann die Grundsicherungsleistung nur erfüllen, wenn ihre Höhe bedarfsgerecht festgelegt ist. Der Deutsche Caritasverband hinterfragt in der vorliegenden Studie die Regelsatzfestlegung für Kinder und unterbreitet Vorschläge einer verbesserten Politik für arme Familien. Dies ist Teil der Befähigungsinitiative des Verbandes für benachteiligte Kinder und Jugendliche. Familien mit Kindern brauchen Hilfen, die es ihnen ermöglichen, aus eigener Kraft als Familie zu leben und ihre Kinder in einem zukunfts- und perspektivenoffenen Umfeld zu erziehen.
Auch wenn eine ausreichende materielle Grundlage nicht alleine angemessene Rahmenbedingungen für das Heranwachsen von Kindern garantieren kann, sind die Entwicklungschancen von Kindern ohne diese materielle Sicherung deutlich eingeschränkt. Trotz der hohen Bedeutung der materiellen Sicherung wird derzeit der Bedarf von Kindern nicht eigens ermittelt. Der Regelsatz von Kindern wird mit einem willkürlich festgesetzten Prozentwert aus dem Regelsatz alleinstehender Erwachsener abgeleitet. Dies wird dem spezifischen Bedarf der Kinder und ihrer Familien nicht gerecht. Der Deutsche Caritasverband unterbreitet hiermit einen Vorschlag, wie ein eigenständiger Regelsatz für Kinder bestimmt werden kann.
Eine Politik für arme Familien kann sich nicht allein auf die Familien beschränken, deren Eltern arbeitslos oder auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Auch die Kinder, deren Eltern niedrige Einkommen beziehen, brauchen gute Entwicklungschancen. Es ist allgemeiner gesellschaftlicher Konsens, dass Eltern, die ohne Kinder ihren Lebensunterhalt verdienen könnten, nicht allein deshalb in die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) verwiesen werden sollen, weil ihr Einkommen für den Unterhalt ihrer Kinder nicht ausreicht. Deshalb muss den Kindern dieser Eltern eine Existenzsicherung außerhalb des SGB II ermöglicht werden. Der Staat versucht dies derzeit durch einen Kinderzuschlag für gering verdienende Familien und das Wohngeld. Diese Instrumente sind im Prinzip sinnvoll. Die vorliegende Untersuchung zeigt jedoch, dass die derzeitige Gesetzeslage Brüche und Widersprüche in den Einkommensverläufen der Familien erzeugt; auch belässt das Instrument in seiner heutigen Ausgestaltung Familien in der verdeckten Armut. Der Vorschlag des DCV für eine Modifizierung des Kinderzuschlags zielt darauf ab, in Kombination mit dem Wohngeld verdeckte Armut von Familien zu lindern. Außerdem wird in dem Vorschlag eine einkommensabhängige und eigenständige Kindergrundsicherung für Familien außerhalb des SGB II entwickelt. Sie verhindert nicht nur, dass Familien wegen der Bedarfe ihrer Kinder auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen sind, sondern unterstützt darüber hinaus Familien im Niedrigeinkommensbereich und sogar bis in die untere Mittelschicht. Und vor allem: Der Familie bleibt auch bei geringem Einkommen von jedem hinzuverdienten Euro ein guter Teil in der Haushaltskasse. Es lohnt sich also, mehr zu arbeiten oder sich weiterzuqualifizieren, um mehr zu verdienen.
Schließlich legt der DCV aufgrund der Erfahrungen aus der Befähigungsinitiative einen Vorschlag vor, wie benachteiligte Kinder befähigt werden können, ihre eigenen Lebenschancen zu entdecken und ihre Potenziale zu entfalten. Unter dem Leitwort der "befähigenden Sachleistungen" schlägt er für Kinder unter anderem vor: ein Schulmittagessen für einen Euro, ein Starterpaket für den Schulanfang, Lehrmittelfreiheit, Zuschüsse zu Lernmitteln zu Beginn des Schuljahres, kostenloser Nachhilfe-, Musik- und Sportunterricht, freie Vereinsbeiträge und schließlich das, was es früher schon einmal gab: die kostenlosen Schwimmbadkarten für arme Familien. Zusammen mit einer kostenlosen Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs im notwendigen Umfang müssen Kinder aus armen Familien dann nicht mehr außen vor bleiben.
Man muss ehrlich einräumen, dass es arme Kinder und Jugendliche geben wird, die nicht oder nur in geringem Maße von der hier vorgeschlagenen Verbesserung der materiellen Situation ihrer Familien profitieren werden, weil ihre Eltern ihrer Erziehungsverantwortung nicht nachkommen können, weil eine Suchterkrankung die Familienkasse belastet oder weil ausreichende Kompetenzen im Umgang mit knappen Ressourcen fehlen. Selbst befähigende Sachleistungen mögen wenig wirken, weil unter diesen besonders belasteten Bedingungen die Ermutigung fehlt, auch kostenfreie Angebote von Musik- oder Sportvereinen zu nutzen. Es ist aber unangemessen, deswegen die ausreichende materielle Ausstattung armer Familien für zweitrangig zu erklären. Damit würde man nicht den vielen Paaren und Alleinerziehenden gerecht, die auch unter belasteten Bedingungen wie einer lang andauernden Arbeitslosigkeit ihren Kindern gute Startchancen geben wollen. Die Befähigung von Kindern braucht auch angemessene materielle Bedingungen. Kindern und Jugendlichen aus besonders belasteten Verhältnissen und ihren Familien muss auf zusätzliche Weise geholfen werden. Die verbandliche Caritas bemüht sich, hierbei ihre Dienste und Einrichtungen als Netzwerk früher Hilfen bereitzustellen. Sie hat ein Haushaltsorganisationstraining entwickelt, um Familien in prekären Lebenslagen beizustehen, die durch die Vielfalt emotionaler, sozialer, finanzieller und erzieherischer Probleme überlastet sind. In diesem Training werden grundlegende Alltagskompetenzen vermittelt. Der DCV leistet seinen eigenen Beitrag zur Befähigung und zur Verbesserung der Teilhabe armer Kinder und Jugendlicher in der Gesellschaft: in katholischen Kindergärten, in der Schulsozialarbeit, mit dem Einsatz von Paten bei der Begleitung von benachteiligten Jugendlichen, in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Aber die Caritas braucht Mitstreiter, wenn es um die Existenzsicherung und die Armutsvermeidung von Familien geht. Bei dem jetzt beginnenden Wahlkampf dürfen arme Familien nicht außen vor bleiben, auch wenn sie kein organisiertes Wählerpotenzial stellen. Die hier unterbreiteten Vorschläge sind etwa so teuer wie die vieldiskutierte Pendlerpauschale oder andere politische Maßnahmen, die vorrangig auf die Mittelschicht zielen.
A. Der neue Kinderregelsatz
I. Derzeitige Bemessung der Kinderregelsätze
Nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ist der deutsche Staat verpflichtet, Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen. Dieses hat erforderlichenfalls durch Sozialleistungen zu erfolgen.2 Es reicht nicht, wenn der Staat allein für die zum Überleben notwendige Nahrung, Kleidung und Unterkunft sorgt, sondern er muss vielmehr das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum sichern. Dazu gehört zusätzlich zur materiellen Existenzsicherung die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist dies nur dann erfüllt, wenn die Hilfebedürftigen in der Umgebung von Nicht-Hilfeempfängern ähnlich wie diese leben können.3 Soweit sie gegenüber Beziehern niedriger Einkommen benachteiligt sind, müssen sie die Möglichkeit haben, dies durch Sparsamkeit auszugleichen; die Schlechterstellung darf nicht zu Ausgrenzung führen.4 Eine solche Ausgrenzung liegt aber zum Beispiel vor, wenn ein von Sozialhilfe oder Sozialgeld lebendes Kind aus finanziellen Gründen keine Schultüte bekommt5, nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen kann6 oder wenn jemand zu Weihnachten nur Geschenke erhält, aber eigene Geschenke nicht finanzieren kann.7
Die Sozialleistungen der Grundsicherung regelt der Staat im SGB II und SGB XII. Der Bedarf zum Lebensunterhalt von Hilfebedürftigen - außerhalb von Einrichtungen - wird pauschal durch Regelleistungen beziehungsweise Regelsätze erbracht. Dabei ist vorgesehen, dass Kosten für Unterkunft und Heizung sowie Mehrbedarfe separat übernommen werden. Die Bemessung der Regelsätze wird im Folgenden vorgestellt.
1. Regelsätze basieren auf Ausgaben eines alleinstehenden Erwachsenen
Die Höhe der Regelsätze - also des notwendigen Bedarfs zum Lebensunterhalt - wird mit Hilfe des sogenannten Statistikmodells ermittelt8: Dabei werden die Konsumausgaben der untersten 20 Prozent der nach ihren Nettoeinkommen geschichteten Haushalte von Alleinstehenden (ohne Sozialhilfeempfänger) erhoben. Von ihnen wird angenommen, dass sie mehr ausgeben, als sie zur Deckung ihres notwendigen Lebensunterhalts brauchen würden.9 Auf Basis dieser Ausgaben wird dann - nach den in den folgenden Punkten erläuterten Regeln - der sogenannte Eckregelsatz ermittelt, der die Grundlage für alle anderen Regelsätze bildet. Statistisch ist der durchschnittliche Haushalt in der Referenzgruppe der Haushalt eines älteren Alleinstehenden.10
2. Bereinigung der Referenzgruppe um Sozialhilfeempfänger
Aus der Referenzgruppe werden die Sozialhilfeempfänger herausgenommen. Die Herausnahme der Sozialhilfeempfänger ist wichtig, da bei ihnen nicht vermutet werden kann, dass sie mehr ausgeben als sie für ihren notwendigen Lebensunterhalt brauchen. Eine Bereinigung der Referenzgruppe um weitere Personengruppen erfolgt nicht.
3. Abschläge auf die Ausgaben eines alleinstehenden Erwachsenen
Die Ausgaben werden durch die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) ermittelt. Sie sind in unterschiedliche Abteilungen gegliedert, die in § 2 Abs. 2 der Regelsatzverordnung (RSVO) genannt sind. Zum Beispiel werden in Abteilung 01 die Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke eingestellt, in Abteilung 02 die Ausgaben für alkoholische Getränke, Tabakwaren und Ähnliches, und in Abteilung 03 finden sich die Ausgaben für Bekleidung und Schuhe etc.
In einem zweiten Schritt wird gewertet, welche dieser Ausgaben nicht zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des soziokulturellen Existenzminimums zählen. So werden bei der Bestimmung des Eckregelsatzes für den erwachsenen Alleinstehenden die Ausgaben, die in Abteilung 10 (Bildungswesen) eingestellt wurden, allesamt nicht berücksichtigt, da sie nicht regelsatzrelevant seien. Auch bei den einzelnen Untergruppen von Konsumgütern in den Abteilungen wird entsprechend gewertet. Durch die vollständige oder teilweise Herausrechnung bestimmter Ausgaben ergeben sich bezogen auf die Gesamtausgaben in den Abteilungen entsprechende Abschläge. So wird zum Beispiel in Abteilung 09 "Freizeit, Unterhaltung und Kultur" ein Abschlag von 45 Prozent vorgenommen (55 Prozent werden anerkannt), weil zum Beispiel Ausgaben für "Haustiere einschließlich Veterinär- und andere Dienstleistungen" enthalten sind, die nicht als regelsatzrelevant angesehen werden.11
In einem letzten Schritt werden alle als regelsatzrelevant anerkannten Ausgaben zusammengerechnet. Diese Summe ergibt den Regelsatz des alleinstehenden Erwachsenen (Eckregelsatz). Er beträgt derzeit 351 Euro.
4. Festlegung der Prozentsätze für den Kinderregelsatz
Die Regelleistungen beziehungsweise Regelsätze für Kinder werden prozentual vom Eckregelsatz abgeleitet: Sie betragen für Kinder bis 13 Jahre 60 Prozent und für ältere Kinder 80 Prozent des Eckregelsatzes.12 Aktuell erhalten Kinder bis zum Alter von 13 Jahren damit 211 Euro als Regelsatz und im Alter von 14 bis 17 Jahren einen Regelsatz in Höhe von 281 Euro.
Zur Begründung der unterschiedlichen Prozentsätze von 60 Prozent beziehungsweise 80 Prozent des Eckregelsatzes für die beiden Altersklassen wird auf die Ergebnisse einer statistischen Untersuchung aus dem Jahre 2003 verwiesen, nach der 14-jährige und ältere Kinder nach den Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 etwa um ein Drittel höhere Kosten als jüngere Kinder verursachen.13
5. Wahl der Altersklassen
Im früheren Bundessozialhilfegesetz (BSHG) wurde hinsichtlich der Regelsatzhöhe unterschieden nach Kindern unter sieben Jahre, zwischen sieben und 13 Jahren, zwischen 14 und 17 Jahren und jungen Erwachsenen ab 18 Jahren.14 Seit 1.1.2005 wird nur noch in die Altersklassen unter 14 Jahren und über 14 Jahren unterteilt. Dies wird mit "international anerkannten wissenschaftlichen Verfahren, zum Beispiel der modifizierten OECD-Skala" begründet.15 Zugleich wird darauf hingewiesen, dass sich eine genauere Differenzierung bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise nicht durch allgemein geltende Regelungen abbilden lasse.16
6. Anpassung des Regelsatzes an die Rentenentwicklung
Nach § 28 Abs. 3 SGB XII muss die Regelsatzbemessung Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten berücksichtigen. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, aus der der Eckregelsatz ermittelt wird, wird alle fünf Jahre erhoben. Zwei Jahre später liegen die Ergebnisse ihrer Auswertung vor. Der Regelsatz wird dann im darauffolgenden Jahr neu festgestellt. In den Jahren zwischen den Regelsatzfestsetzungen wird der Regelsatz jeweils zum 1. Juli eines Jahres an die Veränderung des Rentenwerts in der gesetzlichen Rentenversicherung angepasst.17 Die letzte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wurde im Jahr 2003 erhoben. Die Ergebnisse lagen 2005 vor. Der Regelsatz wurde 2006 darauf hin neu errechnet. Die nächste Erhebung läuft aktuell im Jahr 2008. Die Ergebnisse werden für 2010 erwartet.
7. Verkehr
In Abteilung 07 der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe werden die Ausgabenpositionen im Bereich "Verkehr" eingestellt. Als regelsatzrelevant werden nur folgende Positionen anerkannt:
a. Kauf von Fahrrädern
b. Zubehör, Einzel- und Ersatzteile für Fahrräder
c. Fremde Verkehrsdienstleistungen (ohne "im Luftverkehr/auf Reisen")
Hingegen werden die Ausgaben für den Kauf und die Nutzung eines Pkws nicht in den Regelsatz aufgenommen.
8. Abweichende Bedarfe
Der Regelsatz ist eine Pauschale, die sich an den Bedarfen eines Durchschnittsbürgers orientiert. Abweichende Bedarfe werden nicht berücksichtigt. Im SGB XII gibt es diese Möglichkeit einer abweichenden Festsetzung des Regelsatzes in § 28 Abs. 1 Satz 2. Im SGB II ist sie indes ausdrücklich gemäß § 3 Abs. 3 Satz 2 ausgeschlossen.
II. Kritik an der derzeitigen Bemessung der Kinderregelsätze
Die dargestellte Bemessung der Regelsätze für Kinder hat viele Schwachpunkte:
1. Orientierung am Ausgabeverhalten von alleinstehenden Erwachsenen unzureichendDie Regelsätze für Kinder orientieren sich in ihrer Bemessung nicht am Ausgabeverhalten der Familien für ihre Kinder im Niedrigeinkommensbereich, sondern am Ausgabeverhalten eines alleinstehenden Erwachsenen. Unberücksichtigt bleibt daher die Tatsache, dass Kinder spezifische Bedarfe haben, für die Familien Ausgaben tätigen, zum Beispiel Kosten für Bildung, Spielzeug, Kinder- betreuung etc. Die Ausgaben von Familien für Kinder unterscheiden sich damit deutlich von denen alleinstehender Erwachsener.
2. Verdeckt Arme werden nicht berücksichtigt
Bei der Festlegung der Referenzgruppe, deren Ausgabeverhalten für die Regelsatzberechnung herangezogen wird, werden die Haushalte mit Empfängern von Leistungen der Sozialhilfe herausgenommen. Dies ist insofern schlüssig, als sich der Regelsatz allein am Ausgabeverhalten der Niedrigeinkommensbezieher orientieren soll. Würde man die Haushalte von Sozialhilfeempfängern in die Berechnung einbeziehen, würde ihr eigenes Ausgabeverhalten den zukünftigen Regelsatz beeinflussen. Das wäre ein Zirkelschluss.
Ein ähnliches Problem ergibt sich aber auch bei den sogenannt verdeckt armen Menschen, die - zum Beispiel aus Scham - keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen, obwohl sie aufgrund ihres geringen Einkommens dazu berechtigt wären. Da sie keine Sozialhilfeempfänger sind, werden sie nach geltendem Recht auch nicht aus der Referenzgruppe herausgenommen. Das wäre aber erforderlich, da ihr Einkommen unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums liegt.
3. Abschläge bei Ausgaben des alleinstehenden Erwachsenen nicht ohne weiteres auf die Ausgaben für Kinder übertragbar
Die Abschläge, die bei der Bemessung des Eckregelsatzes auf die Ausgaben eines alleinstehenden Erwachsenen in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erhoben werden, lassen sich nicht ohne weiteres auf die Ermittlung der Regelsätze für Kinder übertragen. Die Abschläge sind das Resultat einer Wertung, die bei den einzelnen Verbrauchsposten in der jeweiligen Abteilung vorgenommen worden ist. So wäre es bei Kindern geboten, die in Abteilung 10 (Bildungswesen) eingestellten Ausgaben für Nachhilfeunterricht, Kinderbetreuung, Kurse etc. als regelsatzrelevant anzusehen und in die Berechnung der Regelsätze für Kinder einzustellen.
Darüber hinaus sind auch die weiteren innerhalb der Abteilungen vorgenommenen Abschläge zu überprüfen. So wird in Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung, Kultur) die Ausgabeposition "Außerschulischer Unterricht in Sport oder musischen Fächern" mit einem durchschnittlichen Ausgabenbetrag von 0,75 Euro im Haushalt eines alleinstehenden Erwachsene nicht in die Regelsatzberechnung eingestellt. Bei Kindern könnte hier allerdings eine andere Wertung gerechtfertigt sein. Damit würde sich auch ein anderer Abschlag auf die gesamte Abteilung 09 ergeben. Überdies ist zu beachten, dass sich bei Familien auch andere Ausgabenbeträge in den einzelnen Positionen ergeben können: Beispielsweise haben Familien wohl höhere Ausgaben für "Außerschulischen Unterricht in Sport oder musischen Fächern" als Alleinstehende. Falls Familien einen höheren Anteil ihrer Gesamtausgaben in einer Abteilung auf regelsatzrelevante Güter verwenden, würde sich für die gesamte Abteilung auch ein anderer Abschlag ergeben.
Die in der Regelsatzverordnung (§ 2 RSVO) aufgeführten Abschläge lassen sich daher nicht ohne weiteres auf die Regelsatzberechnung für Kinder übertragen.
4. Pauschale Festsetzung der Kinderregelsätze ohne Begründung
Nicht nachvollziehbar ist die Begründung der für Kinder pauschal festgesetzten Prozentsätze vom Erwachsenenregelsatz. Zunächst fehlt eine Begründung, warum für jüngere Kinder 60 Prozent des Regelsatzes eines alleinstehenden Erwachsenen angesetzt werden. Dieser Wert ist willkürlich gesetzt. Auch der Verweis darauf, dass nach einer statistischen Untersuchung aus dem Jahre 2003 14-jährige und ältere Kinder nach den Ergebnissen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 etwa um ein Drittel höhere Kosten als jüngere Kinder verursachen sollen, überzeugt nicht. So wird in der angegebenen Untersuchung gar nicht in die Altersklassen 0-13 und 14-17 Jahre unterteilt, sondern mit den Altersklassen 0-6, 6-12 und 12-18 Jahre gerechnet.18 Die Höhe der Prozentsätze steht daher in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang zum Konsumverhalten von Familien mit Kindern im Niedrigeinkommensbereich.
5. Wahl der Altersklassen ist undurchsichtig
Der pauschale Verweis auf "international anerkannte wissenschaftliche Verfahren" zur Begründung der Wahl der Altersklassen, zum Beispiel die OECD-Skala, überzeugt nicht. Maßgeblich für die Bestimmung des Regelsatzes von Kindern muss sein, in welcher Höhe die Familien der Referenzgruppe - je nach Alter des Kindes - Ausgaben tätigen. Erst anhand einer solchen Untersuchung lassen sich eigene Altersklassen rechtfertigen. Den entwicklungsbedingten Besonderheiten im Ausgabeverhalten ist gerade bei Kindern Rechnung zu tragen, weil ansonsten eine Bedarfsunterdeckung droht. Vor dem Hintergrund des Bedarfsdeckungsprinzips können diese besonderen Bedarfe nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die "gebotene typisierende Betrachtung" abgetan werden.
6. Mangelnder Inflationsausgleich führt zu faktischer Bedarfsunterdeckung
Die Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe dauert jeweils zwei Jahre. Die Ausgaben, die dem Eckregelsatz zugrunde liegen, sind also immer auf einem Preisniveau von vor mindestens zwei Jahren entstanden. Der Eckregelsatz wird zwar jeweils zum 1.7. eines Jahres an den Rentenwert angepasst. Dieser hat sich jedoch weder 2004 noch 2005 oder 2006 verändert. Dies ist auch auf den sogenannten Nachhaltigkeitsfaktor zurückzuführen, um den die Formel zur Berechnung des Rentenwerts ergänzt worden ist. Erst zum 1.7.2007 erfolgte eine Rentenanpassung in Höhe von 0,54 Prozent und zum 1.7.2008 in Höhe von 1,1 Prozent. Im Jahr 2003 betrug allerdings die Inflationsrate gemessen am Verbraucherpreisindex circa 1,7 Prozent, im Jahr 2004 1,5 Prozent, im Jahr 2005 1,6 Prozent und im Jahr 2006 2,3 Prozent. Insgesamt ergab sich daher von 2003 bis 2007 gemessen am Verbraucherpreisindex eine Preissteigerung von 7,2 Prozent. Diese Preissteigerung wurde durch die Anpassung des Regelsatzes an die Entwicklung des Rentenwertes nicht aufgefangen. Das bedeutet, dass mit dem Regelsatz heutzutage weniger konsumiert werden kann, als nach den Berechnungen im Jahr 2003 an Bedarfen abgedeckt werden sollte. Die Bedarfe sind daher infolge der fehlenden Inflationsanpassung nicht gedeckt.
7. Systematischer Fehler bei den Verkehrsausgaben
Die Wertung, welche Ausgabepositionen in der Abteilung "Verkehr" regelsatzrelevant sind, erzeugt einen systematischen Fehler. Die vom Deutschen Caritasverband in Auftrag gegebenen Untersuchungen zeigen, dass die Haushalte in der Referenzgruppe regelmäßig ein Kraftfahrzeug besitzen.19 Daher sind sie in nur geringem Maße auf die Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen. Folglich sind ihre Ausgaben in diesem Bereich geringer, als wenn sie ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel nutzen würden.
Erkennt man bei Empfängern von Regelsätzen Ausgaben für ein Kraftfahrzeug nicht als regelsatzrelevant an, werden sie ausschließlich auf die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs verwiesen. Hierfür können die entsprechenden Ausgaben der Referenzgruppe aber nicht bedarfsdeckend sein.
8. Abweichende Bedarfe führen in die Armut
Abweichende Bedarfe werden in der Grundsicherung im SGB II nicht berücksichtigt. Das ist aber mit dem Bedarfsdeckungsprinzip nicht vereinbar. Es gibt Personen, deren individuelle Bedarfslagen sich so erheblich vom "Normalbedarf" unterscheiden, dass hier eine abweichende Festsetzung des Regelsatzes unter Einbeziehung der jeweiligen Besonderheiten geboten wäre. So gibt es Kinder, die zum Beispiel wegen einer schweren Neurodermitis regelmäßig auf nicht verschreibungspflichtige Medikamente angewiesen sind. Deren Kosten werden regelmäßig ab einem Alter von zwölf Jahren nicht von der Krankenkasse übernommen.20 Um diese Bedarfe decken zu können, muss der Hilfebedürftige bei anderen Bedarfen die Ausgaben reduzieren. So muss der Jugendliche, der regelmäßig auf nicht verschreibungspflichtige Medikamente angewiesen ist, diese aus dem normalen Regelsatz bezahlen, der eigentlich für Ernährung etc. vorgesehen ist. Sein soziokulturelles Existenzminimum ist folglich nicht sichergestellt.
Eine ähnliche Situation besteht bei Kindern, bei denen regelmäßig Kosten entstehen, wenn sie ihren von der Familie getrennt lebenden Elternteil besuchen. Speziell für die Kosten des Umgangsrechts hat die Rechtsprechung immerhin festgelegt, dass sie vom Sozialhilfeträger übernommen werden müssen.
III. Forderungen zur Neubemessung
1. Regelsätze von Kindern am Ausgabeverhalten von Familien für ihre Kinder ausrichten
Um die derzeitigen Defizite in der Ermittlung der Regelsätze für Kinder zu beheben, müssen diese sich zukünftig an den Konsumausgaben von Familien im unteren Einkommensbereich für Kinder ausrichten. Als Referenzgruppe können die in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erfassten, nach Nettoeinkommen geschichteten untersten 20 Prozent der Haushalte mit Kindern - ohne Sozialhilfeempfänger - herangezogen werden.
2. Verdeckt Arme aus der Referenzgruppe herausnehmen
Die Ausgaben der Referenzgruppe sind zudem um die Ausgaben der sogenannten verdeckt Armen zu bereinigen. Die Gruppe der verdeckt Armen ist statistisch nicht erfasst. Es liegen aber Schätzungen vor.21
3. Abschläge für Kinder neu ermitteln
Die in § 2 Abs. 2 RSVO vorgesehenen Abschläge müssten bei einer Berechnung von Regelsätzen für Kinder in ihrer Wertung überprüft und neu berechnet werden.
4. Prozentsätze abschaffen - Regelsätze für Kinder eigenständig herleiten
Da ein eigenständiger Kinderregelsatz zu ermitteln ist, sind die Prozentsätze, die sich auf den Eckregelsatz eines Alleinstehenden beziehen, abzuschaffen.
5. Altersklassen neu bestimmen
Um den entwicklungsbedingten Bedarf von Kindern unterschiedlichen Alters zu decken, ist es geboten, das Ausgabeverhalten für Kinder unterschiedlichen Alters zu ermitteln. Sofern sich das Ausgabeverhalten je nach Altersstufen erheblich unterscheidet, sind unterschiedlich hohe Regelsätze festzusetzen.
6. Regelsätze an einen regelsatzspezifischen Preisindex anpassen
Die Regelsätze für Kinder müssen an die Preissteigerungen der regelsatzrelevanten Güter angepasst werden. Dazu ist ein regelsatzspezifischer Preisindex zu erstellen, nach dem sich die jährliche Anpassung der Regelsätze richtet. Wünschenswert wäre darüber hinaus ein geringerer zeitlicher Abstand zwischen den EVS-Erhebungen, zum Beispiel drei Jahre.
7. Verkehrsausgaben neu zuordnen
Die Abschläge und Zuordnungen in der Abteilung 12 (Verkehr) müssen neu festgesetzt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Referenzgruppe regelmäßig ein Kraftfahrzeug zur Fortbewegung nutzt und unterhält. Das Statistikmodell stößt hier an seine Grenzen. In Betracht kommen im Prinzip folgende Alternativen:
- In den Regelsatz werden die durchschnittlichen Kosten einer Netzkarte für den öffentlichen Nahverkehr eingestellt.
- Für jedes Kind aus armen Familien wird eine kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs im notwendigen Umfang ermöglicht. Dies ist die bessere Alternative.
8. Abweichende Bedarfe berücksichtigen
Der Deutsche Caritasverband fordert, dass im SGB II für regelmäßige atypische Bedarfe eine Öffnungsklausel eingeführt wird, die eine abweichende Festsetzung der Regelleistung ermöglicht.
IV. Erste Abschätzungen einer Neubemessung des Kinderregelsatzes
Der DCV hat in einer ersten Abschätzung die Kinderregelsätze nach diesem Vorgehen neu bemessen. Die Untersuchung wird im Folgenden in einzelnen Schritten vorgestellt. Die grundlegenden Berechnungen wurden vom Statistischen Bundesamt nach einem im Auftrag des DCV erarbeiteten Konzept von Irene Becker1 durchgeführt.
1. Regelsätze am Konsum von Kindern ausgerichtet
Die Ableitung der Kinderregelsätze vom Konsum eines Alleinstehenden ist aus mehreren Gründen problematisch (siehe Kritik und Handlungsbedarf). Deswegen werden die tatsächlichen Konsumausgaben von Kindern aus Familien unterer Einkommensgruppen ermittelt, um so einen eigenständigen Kinderregelsatz zu berechnen. Dabei ist die Vorgehensweise methodisch dieselbe wie bei der Bemessung des Eckregelsatzes eines Alleinstehenden:
Als Referenzgruppe dienen die unteren 20 Prozent der nach ihrem Einkommen geschichteten Ein-Kind-Familien ohne Sozialhilfeempfänger. Deren Konsumausgaben werden ermittelt und nach einem wissenschaftlich untermauerten Schlüssel auf Eltern und Kinder verteilt.22 Damit erhält man die Elternkonsumausgaben und die Kinderkonsumausgaben der Familien. Die Ausgaben, die nicht zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des soziokulturellen Existenzminimums zählen, werden herausgerechnet. Auf die Konsumausgaben werden dazu dieselben Abschläge erhoben, die schon im Verfahren der Regelsatzbemessung für den Alleinstehenden verwendet wurden (siehe dazu I.3). Diese Abschläge müssen allerdings bei einer endgültigen Berechnung überprüft werden. Sie könnten zu hoch sein, wenn Familien mehr Geld für Dinge verwenden, die zum Lebensunterhalt im Sinne des soziokulturellen Existenzminimums gehören, als Alleinstehende.
Darüber hinaus wurden weitere Berechnungsschritte gegangen, um den generellen Kritikpunkten an der Berechnung der Regelsätze Rechnung zu tragen:
2. Verdeckt Arme aus der Berechnung herausgenommen
Damit die verdeckt armen Familien - das sind Familien, die eigentlich hilfebedürftig sind, aber keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen - nicht in der Referenzgruppe bleiben, wurden sie herausgenommen. Dies entspricht dem Vorgehen bei den Sozialhilfeempfängern. Verdeckte Armut wurde dabei nach einer Schätzung von Irene Becker pauschal bei einem Einkommen unterhalb von zwei Dritteln der Quintilsgrenze angenommen. Bei einer endgültigen Berechnung müsste man die Haushaltseinkommen mit den entsprechenden Arbeitslosengeld-II-Sätzen der Familien vergleichen, um die verdeckte Armut genau abzugrenzen.
3. Abschläge für Kinder bei Bildungsausgaben verändert
Es wurde keine normative Neubewertung der Abschläge auf die Ausgaben für Kinder vorgenommen. Dies würde eine gesamtgesellschaftliche, auch sozialethisch fundierte Diskussion voraussetzen.
Eine Ausnahme wurde allerdings bei den Ausgaben für Bildung gemacht. Bildungsausgaben werden derzeit bei der Regelsatzbemessung nicht berücksichtigt. Da der DCV Bildung und Befähigung als zentral für die Überwindung von Armut ansieht, wurden die Bildungsausgaben der Vergleichsfamilien in voller Höhe, das heißt zu 100 Prozent, in die Berechnung der Kinderkonsumausgaben einbezogen. Allerdings muss man dabei betonen, dass die Bildungsausgaben der Vergleichsfamilien im Durchschnitt nur 19 Euro betrugen.
4. Willkürliche Prozentsätze abgeschafft
Der eigenständige Kinderregelsatz macht die willkürlichen Abschläge vom Eckregelsatz obsolet.
5. Neue Altersklassen eingeführt
Die Konsumausgaben der Kinder von Ein-Kind-Familien wurden in drei unterschiedlichen Altersgruppen ermittelt: 0- bis 5-Jährige, 6- bis 13-Jährige, 14- bis 17-Jährige. Durch einen Vergleich kann die Altersgruppenaufteilung beim derzeitigen Kinderregelsatz (Kinder unter und über 14 Jahren) überprüft werden.
6. Regelsätze an Inflation angepasst
Um die Preissteigerungen seit Erhebung der Konsumausgaben im Jahr 2003 zu berücksichtigen, wurden die Konsumausgaben um die Inflation korrigiert. Dabei wurde die Inflation anhand des Verbraucherpreisindexes geschätzt (7,2 Prozent von 2003 bis 2007). Bei der endgültigen Berechnung müsste man - wie auch von der BAGFW gefordert23 - die Inflation über einen regelsatzspezifischen Preisindex ermitteln, da im Regelsatz einige Güter gar nicht und andere überproportional repräsentiert sind.
7. Verkehrsausgaben als Sachleistung gefordert
Um die Fehleinschätzung der Verkehrsausgaben zu beheben, fordert der Deutsche Caritasverband für Kinder aus armen Familien die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs im notwendigen Umfang.24
V. Ergebnisse der Abschätzung und Kosten
Die Untersuchung ergab, dass die heutigen Kinderregelsätze deutlich unter den abgeschätzten eigenständigen Kinderregelsätzen liegen: Bei einem Kind von null bis fünf Jahren lag der geschätzte eigenständige Kinderregelsatz 39 Euro über dem derzeitigen Regelsatz, bei einem Kind von sechs bis 13 Jahren sogar 54 Euro und bei einem Kind von 14 bis 17 Jahren 21 Euro über dem Regelsatz. Das bedeutet, dass ein Kind derzeit als Regelsatz deutlich weniger Geld bekommt, als es erhalten würde, wenn man ihm einen eigenen Regelsatz nach dem gleichen Verfahren wie für Erwachsene berechnete. Legt man unsere Abschätzungen zugrunde, muss der Kinderregelsatz deutlich erhöht werden. Danach würden sich folgende eigenständige Kinderregelsätze ergeben:
- 0- bis 5-Jährige: 250 Euro
(Regelsatzerhöhung um 39 Euro) - 6- bis 13-Jährige: 265 Euro
(Regelsatzerhöhung um 54 Euro) - 14- bis 17-Jährige: 302 Euro
(Regelsatzerhöhung um 21 Euro)
Die Untersuchung zeigt auch grundsätzliche Fehler der derzeitigen Regelsatzbemessung auf:
- Die Ableitung der Kinderregelsätze vom Konsum eines Alleinstehenden mit willkürlichen rozentsätzen ist nicht gerechtfertigt.
- Die heutige Altersgruppenaufteilung in Kinder von 0 bis unter 14 Jahren und Kinder über 14 Jahren benachteiligt Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren. Die Konsumausgaben wachsen mit dem Alter der Kinder. So haben die 6- bis 13-jährigen Kinder deutlich mehr Konsumausgaben als 0- bis 5-Jährige und können deswegen nicht mit ihnen gleichgesetzt werden. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass diese Kinder Schulanfänger sind und gerade anfangen, ihre ersten selbstständigen Schritte im Leben zu gehen. Gerade auf ihnen muss das gesellschaftliche Augenmerk liegen.
Die Erhöhung der Regelsätze führt nicht zu einer "übermäßigen" Förderung. Das veranschaulicht der Vergleich mit den Konsumausgaben der Vergleichsfamilien ohne Abschläge (siehe Grafik 1).25 Hier werden die Gesamtausgaben der Vergleichsfamilien (die unteren 20 Prozent der nach dem Einkommen geschichteten Familien ohne Sozialhilfeempfänger und verdeckt Arme) den Regelsätzen gegenübergestellt. Dabei wird angenommen, dass die Eltern ihren derzeitigen Regelsatz bekommen und die Kinder den geschätzten eigenständigen Kinderregelsatz: Den Eltern wird also der derzeitige Regelsatz gezahlt (für beide Elternteile zusammen 632 Euro). Den Kindern werden die geschätzten eigenständigen Regelsätze zugestanden (je nach Alter des Kindes 250, 265 oder 302 Euro). Man erkennt, dass die Gesamtausgaben der Vergleichsfamilien für Konsum zwischen 446 und 563 Euro über den Regelsätzen für die Gesamtfamilie liegen (helle Säulen).
Beispiel: Eine Familie mit zwei Kindern zwischen 6 und 13 Jahren bekommt im Regelsatz bei Berücksichtigung des geschätzten eigenständigen Kinderregelsatzes 508 Euro weniger als ihre Vergleichsfamilie in der Referenzgruppe für den Konsum ausgibt. Bei den Kindern ist der Unterschied zwischen Gesamtausgaben für Konsum der Vergleichsfamilie und geschätzten eigenständigen Kinderregelsätzen 72 Euro (beide Kinder zusammen, graue Säule). Bei den Erwachsenen beträgt der Unterschied zwischen Gesamtausgaben für Konsum der Vergleichsfamilie und ihren Regelsätzen 436 Euro (dunkle Säule).
Kinder aus Zwei- und Drei-Kind-Familien haben etwas geringere Differenzen zwischen Regelsätzen und Gesamtaufwendungen für den Konsum. Das kann zum einen an Synergieeffekten, zum anderen aber auch an schwächeren Einkommenspositionen oder bewussten Einschränkungen der Haushalte mit mehreren Kindern liegen. Insgesamt gibt es Hinweise darauf, dass Synergieeffekte in Haushalten unterer Einkommensgruppen niedriger sind als in Haushalten höherer Einkommensgruppen, da sie bestimmte Ausgaben mit hohem "Synergiepotenzial" (zum Beispiel Auto) nicht oder nur in geringerem Umfang tätigen.
Kosten:
Eine Regelsatzerhöhung in dem oben beschriebenen Ausmaß würde geschätzt folgende Kosten mit sich bringen:
Direkte Kosten der Regelsatzerhöhung:
Wenn man die Kinderregelsätze in der oben beschriebenen Weise erhöht, kostet das circa 1,2 Milliarden Euro jährlich. Der Berechnung liegt Folgendes zugrunde: Derzeit empfangen circa 2,2 Millionen Kinder Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.26 Der Regelsatz für Kinder wird im gewichteten Mittel um circa 46 Euro erhöht.27 Auf das Jahr gerechnet ergeben sich daraus Kosten in Höhe von circa 1,2 Milliarden Euro.
Indirekte Kosten der Regelsatzerhöhung:
1. Erhöhung des Kinderzuschlags
Der Kinderzuschlag muss in Folge der Regelsatzerhöhung erhöht werden. Der Kinderzuschlag soll die Hilfebedürftigkeit der Familie vermeiden, wenn die Eltern allein nicht hilfebedürftig sind. Er soll also - vereinfacht gesagt - zusammen mit Kinder- und Wohngeld die Bedarfe der Kinder decken. Wenn der Kinderregelsatz steigt, muss auch der Kinderzuschlag angepasst werden, um zu gewährleisten, dass Hilfebedürftigkeit von Familien vermieden wird. Denn sonst wären mehr Familien auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Die Erhöhung des Kinderregelsatzes führt - unter der Voraussetzung, dass zeitgleich auch der Kinderzuschlag erhöht würde - folglich nicht zu einer Ausweitung der Bezieher von Arbeitslosengeld II.
Zur genauen Wirkung des Kinderzuschlags, zu seiner notwendigen Erhöhung und den daraus resultierenden Kosten siehe den Vorschlag zum neuen Kinderzuschlag in Teil B.
2. Erhöhung des sächlichen Existenzminimums und damit des Steuerfreibetrags für Kinder
Weiterhin erhöhen sich durch die Erhöhung der Kinderregelsätze das sogenannte sächliche Existenzminimum und damit auch die Steuerfreibeträge: Das sächliche Existenzminimum wird neben den Wohn- und Heizkosten über die gewichteten Kinderregelsätze bestimmt (siehe Existenzminimumsbericht der Bundesregierung). Wenn man die Kinderregelsätze nach unseren Abschätzungen erhöht, ergibt sich ein Anstieg des sächlichen Existenzminimums um 552 Euro pro Jahr (46 Euro pro Monat). Zusammen mit dem Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf (2160 Euro) ist die Summe der steuerlichen Freibeträge neu 6360 Euro pro Jahr (530 Euro im Monat). Legt man den Spitzensteuersatz zugrunde, ist die maximale steuerliche Entlastungswirkung circa 223 Euro gegenüber 203 Euro vorher. Die steuerliche Entlastung steigt also (maximal) um 20 Euro pro Monat (240 Euro pro Jahr).
2008 haben rund 3,2 Millionen Kinder über die Kindergeldzahlung hinaus vom steuerlichen Freibetrag profitiert. Bei diesen Kindern war die Inanspruchnahme des Freibetrags günstiger als der Bezug des Kindergelds. Legt man diese Zahl der Kinder zugrunde, würde die Erhöhung des steuerlichen Existenzminimums circa 770 Millionen Euro jährlich kosten. Mit einer Erhöhung des Kinderexistenzminimums ist auch eine steuerliche Entlastung höherer Einkommen verbunden, da das Existenzminimum verfassungsrechtlich nicht der Besteuerung unterworfen werden darf.
Bandbreite der Kostenabschätzung: Die Zahl der Kinder, die vom steuerlichen Freibetrag profitieren, ist etwas unterschätzt. Durch die Erhöhung des Freibetrags würden hier noch einige Kinder hinzukommen. Die steuerliche Entlastung der Familien ist aber überschätzt, weil es viele Familien gibt, bei denen die Entlastungswirkung zwar über 154 Euro (Kindergeld) liegt, aber unter 223 Euro, der höchsten steuerlichen Entlastung. Insofern sind die Kosten der Erhöhung des steuerlichen Existenzminimums insgesamt wohl etwas überschätzt.
B. Neugestaltung des Kinderzuschlags
I. Derzeitige Ausgestaltung des Kinderzuschlags
Der Kinderzuschlag soll - vereinfacht gesprochen - vermeiden, dass Eltern allein aufgrund ihrer Kinder hilfebedürftig werden und Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Arbeitslosengeld II - ALG II) beziehen müssen: Eltern, die mit ihrem Einkommen ihren eigenen Lebensunterhalt decken können, werden bei der Deckung der Lebenshaltungskosten ihrer Kinder unterstützt. Der Kinderzuschlag wird von der Familienkasse ergänzend zum Kindergeld ausgezahlt.
Der Kinderzuschlag beträgt maximal 140 Euro pro Kind. Kinderzuschläge für mehrere Kinder in einer Familie summieren sich und bilden den Gesamtkinderzuschlag. Um den Kinderzuschlag zu beziehen, muss das Einkommen der Familie einige Voraussetzungen erfüllen: Zum einen müssen die Eltern ein bestimmtes Mindesteinkommen beziehen. Bei Paaren liegt die sogenannte Mindesteinkommensgrenze bei 900 Euro brutto, bei Alleinerziehenden bei 600 Euro brutto.28 Das genügt aber nicht, um den Kinderzuschlag zu bekommen: Die Hilfebedürftigkeit der Familie muss durch den Bezug des Kinderzuschlags vermieden werden. Das Einkommen der Familie darf mit dem Kinderzuschlag und allen sonstigen Leistungen (Wohngeld, Kindergeld) also nicht unter dem Arbeitslosengeld-II-Anspruch der Familie liegen (siehe dazu auch unten unter 1.).29 Wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, wird der Kinderzuschlag so lange in voller Höhe von 140 Euro pro Kind bezahlt, wie das Nettoeinkommen der Eltern unter ihrem Arbeitslosengeld-II-Anspruch liegt.30 Dieses Einkommen, bis zu dem der Kinderzuschlag in voller Höhe gezahlt wird, wird Bemessungsgrenze genannt und ist für jede Familie unterschiedlich. Der Kinderzuschlag wird nur bis zu einer, ebenfalls nach Familienkonstellation differierenden, Höchsteinkommensgrenze gezahlt (siehe dazu auch 3.).
Durch die Kopplung an den Arbeitslosengeld-II-Anspruch der Familie ist der Kinderzuschlag ein komplex zu berechnendes Instrument und ganz individuell auf die einzelne Familiensituation zugeschnitten. Deswegen ist auch die Wirkung des Kinderzuschlags auf die einzelnen Familien sehr unterschiedlich. Unter 5. wird ein Beispiel für den Einkommensverlauf einer Familie gegeben.
Die Kosten des Kinderzuschlags lagen im Jahr 2007 bei 108,8 Millionen Euro. Nach der Reform, die am 1. Oktober 2008 in Kraft tritt, werden sich die Kosten um geschätzt 98 Millionen Euro jährlich erhöhen.31
Im Folgenden werden einige Merkmale des Kinderzuschlags zur Erläuterung einzeln dargestellt.
1. Vermeidung von Hilfebedürftigkeit der Familie, kein Wahlrecht zwischen Kinderzuschlag und Arbeitslosengeld II
Wer mit seinem Einkommen die Mindesteinkommensgrenze erreicht, bekommt - wie oben beschrieben - nicht automatisch einen Kinderzuschlag. Die zweite, wesentliche Voraussetzung für den Bezug des Kinderzuschlags ist, dass die Hilfebedürftigkeit der gesamten Familie im Sinne des SGB II vermieden wird. Das heißt konkret, dass das Familieneinkommen - bestehend aus eigenem (Erwerbs-)Einkommen, Kinderzuschlag, Kindergeld und (potenziellem) Wohngeld - über dem Arbeitslosengeld-II-Anspruch der Familie liegen muss. Mit der Regelung soll nach Auffassung der Bundesregierung32 sichergestellt werden, dass die Familien immer die für sie günstigere Leistung in Anspruch nehmen und ihr soziokulturelles Existenzminimum decken. Allerdings wurde diese Intention bereits durchbrochen. So dürfen Personen mit Mehrbedarfen, insbesondere Alleinerziehende, den Kinderzuschlag in Anspruch nehmen, auch wenn sie dann (in der Höhe des Mehrbedarfs) unter dem für sie geltenden Grundsicherungsniveau leben.
Diese Regelung hat folgende Auswirkungen: Bei niedrigen Einkommen, die zwar oberhalb der Mindesteinkommensgrenze, aber unterhalb der Bemessungsgrenze liegen, hat die Familie oft keinen Anspruch auf Kinderzuschlag, sondern wird auf Arbeitslosengeld II verwiesen. Das betrifft insbesondere Familien mit älteren Kindern oder mit hohen Mietaufwendungen. So bekommt zum Beispiel ein Ehepaar mit einem 16-jährigen Kind, einem Erwerbseinkommen von 1500 Euro brutto und angemessenen Unterkunfts- und Heizkosten in Höhe von insgesamt 520 Euro33 keinen Kinderzuschlag, weil es in diesem Fall circa 180 Euro weniger Einkommen zur Verfügung hätte als beim Bezug von Arbeitslosengeld II. Bei Einkommen, die über der Bemessungsgrenze liegen, wird der Bedarf der Familie hingegen in aller Regel durch die Kombination mit dem Kinderzuschlag, Kindergeld und Wohngeld abgedeckt (zur Veranschaulichung siehe auch die Einkommensverlaufsgrafik unter 5.).
2. Kinderzuschlag schmilzt bei steigendem Einkommen zu 50 Prozent ab
Überschreitet das Netto(erwerbs)einkommen34 der Eltern die Bemessungsgrenze, wird der Kinderzuschlag nicht mehr in voller Höhe gezahlt. Vielmehr reduziert sich der Gesamtkinderzuschlag um jeweils fünf Euro, wenn das Nettoerwerbseinkommen um jeweils zehn Euro steigt. Das bedeutet, dass den Eltern von je zehn Euro, die sie mehr verdienen, durch den Verlust an Kinderzuschlag nur fünf Euro übrig bleiben. Dadurch entsteht bei steigendem Erwerbseinkommen und Bezug des Kinderzuschlags eine Transferentzugsrate von 50 Prozent. Andere Einkommensarten, zum Beispiel Einnahmen aus Vermögen, werden in voller Höhe auf den Kinderzuschlag angerechnet.
3. Höchsteinkommensgrenze festgesetzt
Zusätzlich zur Abschmelzrate gibt es beim Kinderzuschlag die Höchsteinkommensgrenze, ab der er nicht mehr gezahlt wird: Die Höchsteinkommensgrenze liegt bei einem Nettoeinkommen, das sich aus der Summe der Bemessungsgrenze35 und des Gesamtkinderzuschlags ergibt. Der Einkommenskorridor, in dem Anspruch auf Kinderzuschlag besteht, ist demnach sehr eng. Bei einem Kind ist er auf die Nettoeinkommensdifferenz von maximal 140 Euro beschränkt, bei zwei Kindern von maximal 280 Euro.
Das Besondere an der Höchsteinkommensgrenze ist, dass sie regelmäßig erreicht wird, bevor der Kinderzuschlag vollständig abgeschmolzen ist. Die Transferleistung "Kinderzuschlag" entfällt also direkt bei Überschreiten der Höchsteinkommensgrenze in voller Höhe. Als Begründung für die Höchsteinkommensgrenze wird angeführt, dass ab diesem Netto(erwerbs)einkommen das verfügbare Einkommen einer Familie schon ohne den Kinderzuschlag über dem Arbeitslosengeld II liegt, das die Familie bekommen würde. Daher könne die Familie ihren Bedarf auch ohne Kinderzuschlag decken und solle nicht noch zusätzlich unterstützt werden.36 Die Familie würde also auch ohne den Kinderzuschlag nicht auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sein.
4. Höhe des Kinderzuschlags und des Wohngelds
Der Kinderzuschlag beträgt derzeit 140 Euro pro Kind. Die Höhe des Kinderzuschlags ist so gewählt, dass er zusammen mit dem Kindergeld und dem auf das Kind entfallenden Wohngeldanteil den durchschnittlichen Bedarf des Kindes an Arbeitslosengeld II und Sozialgeld abdeckt.37
Das Wohngeld wird in Abhängigkeit von Miethöhe, Wohngegend (repräsentiert durch die Mietstufen der jeweiligen Gemeinde), Baualtersklasse38, Anzahl der Personen im Haushalt und ihrem Einkommen berechnet. Dabei existieren Freibeträge beim Einkommen, die in ihrer Höhe nach Sozialversicherungs- und Steuerpflicht variieren. Das Wohngeld ist immer nur ein Zuschuss zur Miete, deckt diese also nicht vollständig ab. Die Mieten werden nur bis zu einer bestimmten Höhe39 berücksichtigt. Mit wachsendem Einkommen sinkt die Höhe des Wohngelds. Der Wohngeldanspruch entfällt, wenn das Einkommen so hoch ist, dass Wohngeld von weniger als zehn Euro zu zahlen wäre. Die einzelnen Beträge des Wohngelds werden nach der Wohngeldformel des § 2 Abs. 1 Satz 1 WoGG berechnet und sind den sogenannten Wohngeldtabellen zu entnehmen.
5. Beispiel für den Einkommensverlauf einer Familie
Im Folgenden wird ein Beispiel für den Einkommensverlauf eines Paares mit zwei Kindern vorgestellt (siehe Grafik 2 "Status quo").40 Ein Kind ist unter 14 Jahre alt, das andere über 14 Jahre. Ein Partner ist Alleinverdiener. Die Miete der Familie beträgt 545 Euro, zusätzlich zahlt die Familie 60 Euro Heizkosten.41
Die Einkommenssituation der Familie wird in Abhängigkeit des monatlichen Bruttoeinkommens aus Arbeit dargestellt. Es wird angenommen, dass die Familie keine anderen Einkünfte als Arbeitseinkommen hat.
Die Familie hat bei Erwerbslosigkeit einen Arbeitslosengeld-II-Anspruch von 1729 Euro. Davon entfallen 605 Euro auf die Erstattung der Kosten für Unterkunft und Heizung. Für die Deckung ihres gesamten sonstigen Lebensunterhalts hat die Familie 1124 Euro zur Verfügung (dies ist in der untersten horizontalen Begrenzungslinie als Referenzwert dargestellt).
Wenn ein Partner erwerbstätig wird, kann er in unteren Einkommensbereichen ergänzendes Arbeitslosengeld II beziehen (Zuverdienstregelung im SGB II42). Die orangefarbene Kurve beschreibt das Familieneinkommen in diesem Fall. Sie beginnt beim Grundwert des ALG II und steigt dann langsam an, wenn das Bruttoeinkommen steigt. Die Familie profitiert also von der Arbeitsaufnahme.43 Ab einem bestimmten Einkommen besteht kein Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II mehr.
Die rote Kurve der Grafik zeigt den Verlauf des Nettoerwerbseinkommens bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. An der 400-Euro-Grenze sinkt das Nettoerwerbseinkommen kurzfristig ab, weil dann der Minijob-Bereich verlassen wird und die Sozialversicherungspflicht beginnt.
In der blauen Kurve wird die Summe von Nettoerwerbseinkommen und Kindergeld beschrieben. Die Familie bezieht insgesamt 308 Euro Kindergeld, 154 Euro pro Kind. Sie verläuft damit parallel zur Nettoerwerbseinkommenskurve.
Die grüne Kurve beschreibt die Summe von Nettoerwerbseinkommen, Kindergeld und Wohngeld. Dabei sieht man, dass das Wohngeld mit steigendem Einkommen sinkt und irgendwann vollends ausläuft. Die Sprünge der Wohngeldkurve ergeben sich durch das Einsetzen der Sozialversicherungs- und der Steuerpflicht (im Beispiel bei 400 Euro beziehungsweise circa 1700 Euro), weil dort andere Freibeträge beim anrechenbaren Einkommen vorgesehen sind. Ab einem bestimmten Einkommen hat die Familie keinen Anspruch auf Wohngeld mehr (die Kurven "Nettoerwerbseinkommen + Kindergeld + Wohngeld" und "Nettoerwerbseinkommen + Kindergeld" werden deckungsgleich).
Die violette Kurve, die nach dem Enden des ALG-II-Anspruchs beginnt, beschreibt die Summe von Nettoerwerbseinkommen, Kindergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag. Der Kinderzuschlag setzt faktisch an dem Punkt ein, wo durch ihn die Hilfebedürftigkeit der Familie vermieden wird. Ab der Bemessungsgrenze schmilzt der Kinderzuschlag ab: Dadurch steigt das verfügbare Nettoeinkommen der Familie trotz steigenden Bruttoeinkommens kaum an. Das liegt daran, dass Kinderzuschlag und Wohngeld zusammen stark abschmelzen. Die Familie profitiert kaum von Gehaltserhöhungen. Wenn die Familie die Höchsteinkommensgrenze erreicht hat, endet der Kinderzuschlag und es entsteht eine Abbruchkante im Familieneinkommen: Der Erwerbstätige muss circa 400 Euro mehr brutto verdienen, um den Verlust an verfügbarem Familieneinkommen wieder zu kompensieren.
II. Kritik am derzeitigen Kinderzuschlag
Der Deutsche Caritasverband hält den Kinderzuschlag grundsätzlich für ein geeignetes (Teil-)Instrument zur Bekämpfung von Kinderarmut. Allerdings zeigen folgende Kritikpunkte, dass der Kinderzuschlag noch nicht zielgerichtet genug ausgestaltet ist und Familien im und auf ihrem Weg aus dem Niedrigeinkommensbereich noch nicht ausreichend unterstützt werden.
1. Paradox: Indem der Staat Hilfebedürftigkeit vermeiden will, schadet er Familien in verdeckter Armut
Familien, die mehr als 900 Euro brutto verdienen (Mindesteinkommensgrenze, 600 Euro brutto bei Alleinerziehenden), sind vom Kinderzuschlag ausgeschlossen, wenn sie durch den Bezug von Kinderzuschlag nicht ihre Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II vermeiden können. Diese Familien haben Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II. Einige Familien machen ihren Anspruch aber aus Scham oder Unkenntnis nicht geltend.44 Es ist daher gerade nicht so, dass Familien immer die für sie ökonomisch sinnvollste Leistung in Anspruch nehmen (wollen). Diese Familien sind vielmehr verdeckt arm, das heißt sie leben mit einem Einkommen unterhalb von Arbeitslosengeld II. Unter dieser verdeckten Armut leiden in den Familien auch die Kinder.
Ein Beispiel macht das Problem besonders deutlich: Familien, die ein Einkommen haben, das gerade an der Grenze dessen liegt, was nötig wäre, um Kinderzuschlag beziehen zu dürfen. Bei diesen Familien kann eine Nettoerwerbseinkommensänderung in Höhe von wenigen Euro darüber entscheiden, ob sie Kinderzuschlag bekommen oder nicht. Die Folge davon sind Nettoeinkommensdifferenzen von bis zu 140 Euro pro Kind.
2. Kumulierende Abschmelzraten beim Kinderzuschlag und Wohngeld führen zu unvertretbar hohen Transferentzugsraten bei steigendem Einkommen
Nicht nur der Kinderzuschlag nimmt mit steigendem Einkommen ab, sondern auch das Wohngeld. Deswegen kumulieren bei den Familien bei steigendem Einkommen die Abschmelzraten. Waren es beim Kinderzuschlag bereits 50 Prozent Transferentzug (für je zehn Euro mehr netto gehen fünf Euro vom Kinderzuschlag ab), sind es mit dem sinkenden Wohngeldanspruch schon circa 80 Prozent (bis zur Grenze, ab der das Wohngeld ausläuft). Vereinfacht gesagt, hat die Familie in bestimmten Einkommensbereichen von jedem Euro mehr Nettoverdienst nur circa 20 Cent mehr verfügbares Einkommen, weil Kinderzuschlag und Wohngeld stark zurückgehen.
Die Kombination der Abschmelzraten bei Kinderzuschlag und Wohngeld in Höhe von insgesamt circa 80 Prozent kann Familien erheblich demotivieren, durch steigendes Erwerbseinkommen ihre Familieneinkommen zu verbessern. Zugleich bedeutet sie, dass Familien trotz intensiver Bemühungen und Erfolge im Erwerbsleben im Niedrigeinkommensbereich verbleiben.
3. Höchsteinkommensgrenze führt zu Einbußen im Familieneinkommen trotz höherer Erwerbseinkommen
Die Höchsteinkommensgrenze verursacht bei einer grafischen Veranschaulichung der Transferkurve eine deutliche "Abbruchkante" des verfügbaren Familieneinkommens (siehe Beispielgrafik unter I.5). Für die Familien bedeutet das, dass ihr verfügbares Einkommen deutlich sinkt, sobald ihr Netto(erwerbs)einkommen die Höchsteinkommensgrenze überschreitet. Die Höchsteinkommensgrenze unterläuft daher die Bemühungen von Familien in einem bestimmten Einkommensbereich, ihr Familieneinkommen durch ein steigendes Erwerbseinkommen zu erhöhen. Steigt das Bruttoerwerbseinkommen eines Alleinverdieners in oben genannter vierköpfiger Beispielfamilie (vgl. I.5) zum Beispiel von 2300 auf 2400 Euro, steigt sein Nettoerwerbseinkommen zwar um circa 60 Euro, aber infolge der Höchsteinkommensgrenze verringert sich das verfügbare Familieneinkommen letztlich um circa 115 Euro, da der Kinderzuschlag abrupt wegfällt. Die Familie hat daher trotz steigenden Erwerbseinkommens weniger Geld zur Verfügung. Erst bei einer Erhöhung des Bruttoeinkommens um circa 400 Euro hätte die Familie dasselbe Geld wie zuvor zur Verfügung.
Zudem ist eine Höchsteinkommensgrenze auch nicht notwendig, um den Anspruch auf Kinderzuschlag bei höheren Einkommen zu begrenzen, da der Kinderzuschlag durch die Abschmelzrate automatisch auslaufen würde.45 Das Argument, dass der Kinderzuschlag dort enden soll, wo er nicht mehr erforderlich ist, um den Bezug von Arbeitslosengeld II zu vermeiden, ist zwar nachvollziehbar. Einer Förderung von Familien im Niedrigeinkommensbereich, die notwendig ist, um ihnen den Weg zu einem Leben auf einem Einkommensniveau oberhalb des Arbeitslosengeldes II zu ebnen, ist jedoch demgegenüber der Vorzug zu geben.
4. Höhe des Kinderzuschlags
Der Ausrichtung der Höhe des Kinderzuschlags (in Kombination mit Kindergeld und anteiligem Wohngeld) an dem durchschnittlichen Bedarf, den Kinder an Sozialgeld oder Arbeitslosengeld II haben, ist grundsätzlich zuzustimmen.
III. Forderungen zur Anpassung des Kinderzuschlags
Vor dem Hintergrund dieser Kritikpunkte hält der Deutsche Caritasverband folgende Reformen beim Kinderzuschlag für geboten:
1. Es muss ein Wahlrecht zwischen Kinderzuschlag und Arbeitslosengeld II geben.
Der Deutsche Caritasverband fordert, die Situation verdeckt armer Kinder zu verbessern, deren Familien ein Einkommen über der Mindesteinkommensgrenze haben, aber durch den Bezug von Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld Hilfebedürftigkeit nach SGB II nicht vermeiden können. Um die finanzielle Ausstattung dieser Familien zu verbessern, ist es geboten, für sie den Zugang zum Kinderzuschlag zu eröffnen, auch wenn sie damit nur ein Einkommen unterhalb des Arbeitslosengeldes II haben. Durch diese Maßnahme wird die verdeckte Armut nicht beseitigt, aber wesentlich gelindert. So käme es bei einer Familie mit einem Erwerbseinkommen an der Grenze zur Hilfebedürftigkeit im SGB II im Falle eines Rückgangs des Nettoerwerbseinkommens um einen Euro nicht zu einem Einkommensverlust von 140 Euro pro Kind, sondern nur zu einem Verlust um einen Euro.
Wichtig ist in diesem Fall auch eine qualifizierte Beratung der Familien bei der Behörde, bei der sie Leistungen beantragt. Nur wenn der Familie die Unterschiede in der Höhe der beiden Leistungen bewusst sind, ist sie in der Lage, verantwortlich zu wählen, welche Leistung sie in Anspruch nimmt.
2. Die Abschmelzrate muss auf 30 Prozent gesenkt werden.
Der Deutsche Caritasverband hält es für geboten, dass Familien, die Kinderzuschlag erhalten, von einem steigenden Erwerbseinkommen mehr profitieren als bisher. Die Abschmelzrate beim Kinderzuschlag ist daher von derzeit 50 Prozent auf 30 Prozent abzusenken. Damit wird in Kombination mit dem ebenfalls abschmelzenden Wohngeld eine Abschmelzrate in Höhe von circa 60 Prozent statt derzeit 80 Prozent erreicht.
3. Die Höchsteinkommensgrenze muss fallen.
Der Deutsche Caritasverband fordert die Abschaffung der Höchsteinkommensgrenze, um wesentliche Einkommensverluste der Familien bei Überschreiten dieser Grenze zu vermeiden und auch Familien im Niedrigeinkommensbereich und in der unteren Mittelschicht mit dem Kinderzuschlag zu erreichen.
4. Der Kinderzuschlag ist nach der Neuberechnung der Regelsätze für Kinder anzupassen.
Durch die vom Deutschen Caritasverband geforderte Neuberechnung der Regelsätze für Kinder (siehe Teil A) wird eine Anpassung der Höhe des Kinderzuschlags erforderlich. Dabei sind zwei Szenarien vorstellbar:
a. Anpassung an das sächliche Existenzminimum:
Nach dieser Vorstellung muss der Kinderzuschlag zusammen mit dem Kindergeld und dem Wohngeldanteil des Kindes das sächliche Existenzminimum decken. Ausgehend von der Annahme, dass dies derzeit erfüllt ist, muss der Kinderzuschlag dann um den Betrag erhöht werden, um den das Existenzminimum durch die Erhöhung der Kinderregelsätze steigt. Das sind nach unseren Abschätzungen 46 Euro.
b. Gewährleistung der Funktion des Kinderzuschlags:
Auch in diesem Szenario muss der Kinderzuschlag erhöht werden, damit er seine Funktion erfüllt, Familien vor Hilfebedürftigkeit zu schützen, wenn die Eltern alleine nicht hilfebedürftig wären: Kindergeld und Kinderzuschlag zusammen (294 Euro) könnten die Ansprüche eines Kindes über 14 Jahren aus dem eigenständigen Kinderregelsatz (302 Euro) nicht decken. Es können also Konstellationen auftreten, in denen die Familie trotz Kinderzuschlags noch hilfebedürftig ist. Orientiert man sich an dem heutigen Abstand des Kinderzuschlags (plus Kindergeld) vom Kinderregelsatz für Kinder über 14 Jahren, müsste der Kinderzuschlag um 21 Euro erhöht werden.
5. Beispiel für den Verlauf des Kinderzuschlags nach den geforderten Reformen
Im Folgenden wird dargestellt, wie sich das Familieneinkommen verändern würde, wenn die Forderungen des Deutschen Caritasverbandes umgesetzt würden. Die Grafik 3 stellt wieder den Verlauf der Einkommenskurven für die Beispielfamilie dar. Die Grafik erklärt sich dabei wie unter I.5 beschrieben.
Die vom DCV beschriebene Reform hat dabei folgende Auswirkungen auf den Einkommensverlauf:
- Wahlrecht zwischen Kinderzuschlag und Arbeitslosengeld II: Das Wahlrecht bewirkt, dass Familien, die kein Arbeitslosengeld II beziehen wollen, den Kinderzuschlag beziehen können. Für diese Familien verbessert sich ab einem Mindesteinkommen von 900 Euro brutto (600 Euro brutto bei Alleinerziehenden) ihre finanzielle Situation erheblich. Das Wahlrecht sorgt so für ein höheres Einkommen der verdeckt Armen.
- Änderung der Abschmelzrate auf 30 Prozent: Die Transferentzugsrate von 30 Prozent sorgt für einen stärkeren Anstieg des verfügbaren Familieneinkommens im Bereich des Kinderzuschlags. Familien können so von besser bezahlten Jobs oder einer Ausweitung der Arbeitszeit profitieren und es lohnt sich, in Qualifizierung zu investieren.
- Wegfall der Höchsteinkommensgrenze: Der Wegfall der Höchsteinkommensgrenze sorgt dafür, dass keine Abbruchkanten im verfügbaren Familieneinkommen mehr bestehen. Damit lohnt sich die Annahme einer besser bezahlten Arbeit, eine Ausweitung der Arbeitszeit oder eine Gehaltserhöhung für die Familien immer. Geringfügig besser verdienende Familien werden nicht mehr benachteiligt. Der Kinderzuschlag wird damit nicht nur zur Vermeidung des ALG-II-Bezugs eingesetzt. Er unterstützt auch Familien im Niedrigeinkommensbereich und in der unteren Mittelschicht.
IV. Kosten der Neugestaltung des Kinderzuschlags und Gesamtkosten des DCV-Vorschlags
Die Kosten für die Neukonzeption des Kinderzuschlags nach den vorangegangenen Forderungen des DCV wurden von der Prognos AG und dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung berechnet.
Wenn die Kinderregelsätze nicht erhöht würden und nur die Abschmelzrate auf 30 Prozent sänke und die Höchsteinkommensgrenze aufgehoben würde, stiegen die Ausgaben für den Kinderzuschlag um 1,03 Milliarden Euro. 1,46 Millionen Kinder könnten so zusätzlich vom Kinderzuschlag profitieren.
Entsprechend dem Vorschlag des DCV sollen die Regelsätze erhöht werden. Deswegen muss in der Folge auch der Kinderzuschlag erhöht werden (siehe Teil A). Es ist eine offene Frage, ob der Kinderzuschlag an das sächliche Existenzminimum gekoppelt wird oder ausschließlich an die Vermeidung der Hilfebedürftigkeit. Wenn der Kinderzuschlag an das sächliche Existenzminimum gekoppelt wird, muss er um 46 Euro erhöht werden. Die Kosten für die Neugestaltung belaufen sich dann auf 2,25 Milliarden Euro. Es würden 2,27 Millionen Kinder zusätzlich vom Kinderzuschlag profitieren.
Mindestens jedoch muss der Kinderzuschlag um 21 Euro erhöht werden, damit weiterhin die Hilfebedürftigkeit von Familien vermieden werden kann. Die Kosten in diesem Modell betragen 1,53 Milliarden Euro. 1,82 Millionen Kinder zusätzlich hätten Anspruch auf den Kinderzuschlag.
In der Summe belaufen sich die Kosten auf:
- Erhöhung des Kinderregelsatzes (siehe Teil A):
1,2 Milliarden Euro - Erhöhung und Neugestaltung des Kinderzuschlags:
mindestens 1,53 Milliarden Euro
(höchstens 2,25 Milliarden Euro) - Gesamtkosten:
mindestens 2,73 Milliarden Euro
(höchstens 3,45 Milliarden Euro)
Aufgrund der höheren Regelsätze erhöhen sich das sächliche Existenzminimum und der Steuerfreibetrag. Dadurch entstehen zusätzliche Kosten in Höhe von 770 Millionen Euro. Die Gesamtkosten des DCV-Vorschlags werden sich durch geplante Maßnahmen der Bundesregierung verringern. Die geplante Wohngeld- und die Kindergelderhöhung vermindern den Betrag, um den der Kinderzuschlag jeweils erhöht werden müsste. Damit sinken die Kosten der Neugestaltung des Kinderzuschlags.
C. Stärkung der Teilhabechancen von Kindern durch befähigende Sachleistungen
Kinder und Jugendliche in Deutschland leiden nicht nur materiell. Die Zukunftschancen von Benachteiligten werden auch durch ungenügende Förderung und mangelnde Bildungschancen eingeschränkt. Gravierend ist folgende Beobachtung: Der Anteil der Personen, die im Alter von 25 bis 30 Jahren keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben und sich nicht in Ausbildung befinden, ist von 12,7 Prozent im Jahr 1996 auf 17,0 Prozent im Jahr 2006 gestiegen. Im Alter von 35 Jahren schließlich bleiben 15 Prozent der Bevölkerung dauerhaft ohne abgeschlossene berufliche Ausbildung (3. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 64).
Wenn über die Bekämpfung der Kinderarmut nachgedacht wird, müssen sowohl materielle als auch befähigende Gesichtspunkte beachtet werden. Neben der Existenzsicherung müssen die Teilhabechancen der Kinder gesichert sein. Das heißt Verbesserung von Bildungschancen, um Chancengerechtigkeit herzustellen. Es ist nicht akzeptabel, dass der Bildungsstand eines Kindes bei uns immer noch deutlich stärker von der sozialen Herkunft abhängt als in vielen anderen Ländern. Fehlende Bildungsabschlüsse bedeuten ein langfristiges Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko. Aus Armut resultieren häufig ein schlechterer Gesundheitszustand beziehungsweise langfristige Gesundheitsrisiken. Neben den monetären Leistungen brauchen Kinder also auch gute strukturelle Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung. Hierzu gehört ein flächendeckendes Angebot von Betreuungs-, Bildungs- und kulturellen sowie sportlichen Angeboten. Um diese Angebote wahrnehmen zu können, ist es erforderlich, dass Kinder und Jugendliche einen Zugang dazu erhalten. Hier sind die Länder und Kommunen gefragt. Sie dürfen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden.
Der Deutsche Caritasverband hat in seiner Befähigungsinitiative für benachteiligte Kinder und Jugendliche in den letzten drei Jahren immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, Kinder zu befähigen. Jedes Kind hat Ressourcen und Fähigkeiten und ein Recht darauf, sich selbst entfalten zu können. Alle Hilfen müssen darauf ausgerichtet sein, Kinder und Jugendliche zu befähigen, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Entscheidend ist, dass stets der Befähigungsansatz im Mittelpunkt steht. Es geht zum Beispiel bei der Forderung nach einem Schulmittagessen für Benachteiligte nicht nur darum, dass die Kinder einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekommen. Vielmehr sind bei allen Hilfen auch die eigene Aktivität und die Potenziale der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Das heißt, dass die Jugendlichen im schulischen Rahmen selbst mitkochen, Kenntnisse über Nahrungsmittel erwerben und die Zubereitung lernen. Auch bei der Forderung, Nachhilfeunterricht anzubieten für Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen mit schlechten Schulleistungen, sollte zuerst überlegt werden, wie Jugendliche selbst, zum Beispiel ältere Schüler diese Aufgabe übernehmen können.
I. Zum derzeitigen Stand der Sachleistungen
Zur Gewährleistung ihrer sozialen Teilhabe werden den Kindern im SGB II und SGB XII über den Regelsatz hinaus einmalige Leistungen (§ 31 SGB XII, § 23 Abs. 3 SGB II) im Wesentlichen nur für die Erstausstattung bei der Geburt und für mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen gewährt. Im Einzelfall kommt auch ein Mehrbedarf für behinderte Kinder ab Vollendung des 15. Lebensjahres sowie wegen kostenaufwendiger Ernährung in Betracht (§ 30 Abs. 4 und 5 SGB XII, § 21 Abs. 4 und 5 SGB II). Die Leistungen erfolgen durch Kostenübernahme beziehungsweise Gewährung von pauschalen Geldbeträgen. Weitere Leistungen sehen SGB II und SGB XII nicht vor.
Freiwillige Sachleistungen von Kommunen für bedürftige Familien (zum Beispiel Schwimmbadkarten, Ermäßigungen im öffentlichen Nahverkehr etc.) sind in den letzten Jahren in vielen Städten eingeschränkt worden. Erst nachdem Kinderarmut in vielen Städten öffentlich geworden ist, beginnen erste Kommunen, wieder freiwillige Leistungen für bedürftige Familien anzubieten.46
Im Hinblick auf Schulbücher und schulbuchersetzende Medien besteht in den meisten Ländern faktisch keine Lehrmittelfreiheit mehr. Immer mehr Bundesländer haben in den letzten Jahren Eigenbeteiligungen47 oder Leihgebühren48 eingeführt, von denen überwiegend nur Sozialhilfeempfänger, Wohngeldempfänger und Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz befreit werden. Sogar Empfänger von SGB-II-Leistungen müssen teilweise die Eigenanteile selbst zahlen.49 Auch Familien mit Einkommen nur knapp oberhalb der Schwelle zum Transferbezug müssen daher die Gebühren beziehungsweise Eigenanteile, die länderübergreifend zwischen zwölf und 100 Euro je Jahrgangsstufe variieren, selbst tragen.50
II. Kritik an der derzeitigen Praxis
Der Deutsche Caritasverband erlebt in seinen Beratungsstellen und Diensten, dass die soziale Teilhabe von bedürftigen Kindern und Jugendlichen sowie ihre Bildungschancen nicht ausreichend gewährleistet sind: Familien suchen vermehrt die Tafeln, Kleiderkammern und Möbellager auf und fragen gezielt nach finanzieller Unterstützung für die Lernmittel (zum Beispiel Bücher, Hefte, Stifte) zu Beginn des Schuljahres. In fast allen Caritasverbänden in den Diözesen wurden sogenannte Schulmaterialkammern eingerichtet oder Spenden für die Ausstattung zu Schuljahresbeginn gesammelt. Kinder nehmen in Ganztagsschulen nicht am Mittagessen teil, weil sie dieses nicht bezahlen können.
Angebote im Bereich Bildung, Kultur und Freizeit sind überwiegend nicht kostenfrei zugänglich. Vereinsbeiträge, Kursgebühren, Kosten für Nachhilfeunterricht etc. müssen aus der Pauschale des Regelsatzes finanziert werden. Wie hoch der dafür vorgesehene Betrag in den aktuellen Kinderregelsätzen ausfällt, lässt sich wegen ihrer pauschalen Ableitung vom Eckregelsatz eines alleinstehenden Erwachsenen nicht konkret bestimmen. Bei der vom Deutschen Caritasverband durchgeführten Untersuchung des Ausgabeverhaltens von Paaren mit einem Kind im Niedrigeinkommensbereich zeigt sich jedoch, dass deren durchschnittliche Ausgaben zum Beispiel im Bereich Nachhilfeunterricht von vier Euro bei den 6- bis 13-Jährigen und drei Euro bei den 14- bis 17-Jährigen nicht ausreichend sind, um einen regelmäßigen Nachhilfeunterricht zu finanzieren.51 Auch Kinder im Niedrigeinkommensbereich sind in dieser Hinsicht gegenüber Kindern aus einkommensstärkeren Familien erheblich benachteiligt. So zeigt die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003, dass bei Paaren mit einem Kind mit einem Einkommen im untersten Quintil52 nur sieben Prozent der Familien mit Kindern unter sechs Jahren, 21,4 Prozent der Familien mit Kindern von sechs bis 13 Jahren und nur 17,7 Prozent der Familien mit Kindern zwischen 14 und 18 Jahren an außerschulischem Unterricht in Sport oder musischen Fächern teilnehmen. Demgegenüber liegt die Beteiligungsquote bei Familien im vierten Quintil bis zu doppelt so hoch bei 14,3 Prozent, 42,9 Prozent und 22,3 Prozent.53 Die unzureichende finanzielle Ausstattung für diese Bereiche setzt sich heutzutage bei den Empfängern von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II beziehungsweise Sozialgeld fort.
Die Abdeckung dieser Bedarfe durch einen pauschalen Ausgabenansatz im Regelsatz ist dabei nicht zielführend. Vielmehr haben Kinder individuell unterschiedliche Bedarfe an Bildungsangeboten (zum Beispiel Nachhilfe), Talente und Interessen (zum Beispiel an sportlichen oder musischen Aktivitäten).
III. Forderungen nach befähigenden Sachleistungen
Kinder brauchen insbesondere gute strukturelle Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung. Hierzu gehört ein flächendeckendes Angebot von Betreuungs-, Bildungs- und kulturellen sowie sportlichen Angeboten. Der Deutsche Caritasverband hält es daher für erforderlich, dass Bund, Länder und Kommunen befähigende Sachleistungen kostenfrei für Kinder in einkommensschwachen Familien bereitstellen.
- Kinder müssen Lehr- und Lernmittel haben
Dazu gehört im Bereich Bildung die Wiedereinführung der Lehrmittelfreiheit in allen Bundesländern, zumindest für alle Kinder aus Familien mit geringen Einkommen. Um Anschaffungen von Lernmitteln zu Schuljahresanfang bundesweit zu unterstützen, sollten im SGB II und SGB XII eine Beihilfe zum Schulanfang sowie zum Schuljahresbeginn als einmalige Leistung eingeführt werden. - Soziale Teilhabe und Gesundheit im schulischen Umfeld
Wichtig ist darüber hinaus, dass Kinder und Jugendliche auch im schulischen Umfeld sozial eingebunden sind. Es ist nicht tragbar, dass sie aus finanziellen Gründen bei eintägigen Schulausflügen nicht teilnehmen können. Dies könnte sowohl über das SGB II als auch als Sachleistung über die Kommune finanziert werden. Notwendig ist, dass für alle Schüler in Ganztagsschulen kostengünstig ein Mittagessen bereitgestellt wird. Empfohlen wird ein Preis von einem Euro. - Ausbau der Gesundheitsprävention für Kinder und Jugendliche
Angesichts der Tatsache, dass die Herkunft aus sozial benachteiligten Familien ein Gesundheitsrisiko für Kinder und Jugendliche darstellt, ist eine früh einsetzende zielgruppenspezifische Prävention zwingend notwendig. Entsprechend müssen die Angebote für die Gesundheitsförderung und Prävention insbesondere für diese Gruppe ausgebaut werden. Es muss gewährleistet sein, dass gezielte Leistungen der Gesundheitsförderung zum Beispiel in Kindertagesstätten und Schulen angeboten werden und für Kinder aus Familien mit Transferbezug und niedrigem Einkommen kostenfrei sind. - Individuelle Förderung auch für einkommensschwache Schüler
Nachhilfe
5,5 Prozent der 14- bis 17-Jährigen aus dem untersten Einkommensquintil nehmen Nachhilfeunterricht gegenüber 20,3 Prozent aus dem obersten Quintil. Es ist nicht sinnvoll, im Regelsatz einen geringen Betrag für Nachhilfeunterricht einzustellen, der im Bedarfsfall nicht reicht. Demgegenüber ist es angebracht, Nachhilfe als Sachleistung für diejenigen bereitzustellen, die sie brauchen. Ein geeigneter Ort dafür ist die Schule, möglicherweise auch im Rahmen eines befähigenden Schulkonzepts.
Sprachförderung
Besonders benachteiligt sind Schüler mit Migrationshintergrund, die sprachliche Defizite haben. Ihnen muss - möglichst schon in der Kindertagesstätte - Sprachförderung gewährt werden.
Musische und sportliche Bildung, Mobilität
Die Beteiligungsquoten an außerschulischem Unterricht in Sport oder musischen Fächern sind bei Familien im Niedrigeinkommensbereich besonders gering. Auch Kinder aus einkommensschwachen Familien sollten die Möglichkeit haben, ein Musikinstrument zu lernen oder in den Musik- oder Sportverein zu gehen. Sinnvoll wäre ein kostenloses Angebot für diese Kinder in öffentlichen Musikschulen oder anderen Einrichtungen. Theater-, Zoo- und Museumsbesuche sollten für Kinder aus armen Familien überall kostenlos sein. Bewährt hat sich darüber hinaus auch die Ausgabe von Schwimmbadkarten für einen kostenlosen Zugang. Für Kinder aus armen Familien muss es eine kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs im notwendigen Umfang geben. Zur Umsetzung der befähigenden Sachleistungen sind vor Ort unterschiedliche Modelle denkbar - Gutscheine, Kostenübernahme auf Antrag oder Familien-Karten.
Anmerkungen
1. Die folgende Grundlegung der Position des Deutschen Caritasverbandes zur Bekämpfung der Kinderarmut ist von einer Arbeitsgruppe beim Deutschen Caritasverband (Verena Liessem, Clarita Schwengers, Birgit Fix, Thomas Becker, Georg Cremer, Markus Günter) erarbeitet worden. Die wissenschaftliche Beratung zu Fragen einer eigenständigen Berechnung des Kinderregelsatzes erfolgte durch die Armutsforscherin Irene Becker. Die zu dieser Berechnung notwendige Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003 wurde durch das Statistische Bundesamt durchgeführt. Die Berechnung zu den Kosten des Vorschlags zur Neugestaltung des Kinderzuschlages erfolgte durch die Prognos AG und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (Ansprechpartner: Michael Böhmer, Prognos AG Basel).
2. BVerfGE 83, 60, 85; 40, 121, 131.
3. BVerwGE 36, 256, 258; 102, 366, 369.
4. BVerwGE 94, 326, 333.
5. BVerwGE 92, 6, 8.
6. BVerwGE 97, 376, 378.
7. BVerwGE 69, 46, 154.
8. § 28 SGB XII,§ 2 Regelsatzverordnung (RSVO).
9. Ob diese Annahme bei allen Vergleichshaushalten erfüllt ist, ist indes fraglich. Viele Niedrigverdiener sind verschuldet und schränken sich deshalb bei ihren Ausgaben ein (Rothkegel, Ralf in: Gagel, Alexander: SGB II § 20 Rn. 42).
10. Nach Becker, Irene: Was kaufen Familien mit niedrigem Einkommen? In: neue caritas, Heft 1/2008, S. 22ff., hier S. 23, handelt es sich bei den Alleinstehenden "um eine Teilgruppe mit hohem Altenanteil. ". Vgl. dies.: Konsumausgaben von Familien im unteren Einkommensbereich. Arbeitspapier Nr. 4 des Projekts "Soziale Gerechtigkeit", Frankfurt/Main, Nov. 2007, S. 2.
11. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschuss-Drs. 16(11)286.
12. Vgl. § 3 Abs. 3 RSVO, § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II.
13. Vgl. hierzu Begründung zu § 3 Abs. 2 RegelsatzVO, BR-Drs. 206/04 S. 10f. unter Bezugnahme auf Münnich; Margot/Krebs, Thomas: "Ausgaben für Kinder in Deutschland - Berechnungen auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998", Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik 12/2003, S. 1080ff.
14. § 1 Abs. 3 der Verordnung zur Durchführung des § 22 des Bundessozialhilfegesetzes (Regelsatzverordnung).
15. Begründung zu § 3 Abs. 2 RegelsatzVO, BR-Drs. 206/04, S. 10f.
16. Begründung zu § 3 Abs. 2 RegelsatzVO, a.a.O.
17. § 4 RSVO.
18. Außerdem werden hier nicht die Ausgaben der Familien der Referenzgruppe für Kinder zugrunde gelegt, sondern die der Familien des ersten Dezils, des zehnten Dezils beziehungsweise aller Haushalte in der EVS.
19. Becker, Irene: Was kaufen Familien mit niedrigem Einkommen? In: neue caritas, Heft 1/2008, S. 22ff., hier S. 26; vgl. dies.: Konsumausgaben von Familien im unteren Einkommensbereich. Arbeitspapier Nr. 4 des Projekts "Soziale Gerechtigkeit" , Frankfurt/Main, Nov. 2007, S. 7.
20. Vgl. § 34 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 SGB V. Eine Ausnahme besteht gemäß § 34 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 SGB V nur für versicherte Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr.
21. Becker, Irene: Armut in Deutschland: Bevölkerungsgruppen unterhalb der ALG-II-Grenze. Arbeitspapier Nr. 3 des Projekts "Soziale Gerechtigkeit". Frankfurt/Main, Oktober 2006.
22. Münnich, Margot; Krebs, Thomas: Ausgaben für Kinder in Deutschland - Berechnungen auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998. Wirtschaft und Statistik 12/2002.
23. BAGFW: Freie Wohlfahrtspflege fordert neue Kinderregelsätze plus Förderung. In: neue caritas, Heft 12/2008, S. 31ff.
24. Wird diesem Vorschlag gefolgt, wäre es vorstellbar, den Anteil der Ausgaben für den öffentlichen Nahverkehr an den Verkehrsausgaben im Kinderregelsatz zu streichen. Ausgaben für Fahrräder etc. müssen dagegen im Regelsatz enthalten bleiben.
25. Bei den Zwei- und Drei-Kind-Familien lagen nach den Auswertungen des Statistischen Bundesamtes nur die durchschnittlichen Konsumausgaben der Kinder dieser Familientypen vor, auf eine Differenzierung der Konsumausgaben nach Altersgruppen wurde hier verzichtet. Ausgehend von der Konsumstruktur der Kinder der Ein-Kind-Familien der verschiedenen Altersgruppen im Vergleich zum durchschnittlichen Kinderkonsum in der Ein-Kind-Familie wurden die Konsumausgaben der Kinder der Zwei- und Drei-Kind-Familien in den einzelnen Altersgruppen hochgerechnet.
26. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende, August 2008, Daten für April 2008.
27. Die Gewichtung der Erhöhung erfolgt danach, wie lange ein Kind in den jeweiligen Altersstufen verbleibt. Das Vorgehen ist äquivalent zu dem im Existenzminimumsbericht (siehe dort für genauere Informationen).
28. Rechtslage ab 1.10.2008.
29. Alleinerziehende und andere Mehrbedarfsberechtigte können bei dieser Prüfung beantragen, dass ihr Mehrbedarf nach SGB II nicht in die Bemessung des Arbeitslosengeld-II-Anspruchs einbezogen wird.
30. Das maßgebliche Nettoeinkommen ist dabei das Gesamtnettoeinkommen abzüglich der durch Erwerbstätigkeit erreichbaren Freibeträge und der Werbungskosten. Bei der Ermittlung des Wohnkostenanteils der Eltern im Arbeitslosengeld II werden die Wohnkosten abweichend vom SGB II nicht pro Kopf auf die Familienmitglieder verteilt, sondern nach den Quoten, die im Existenzminimumsbericht festgesetzt werden. Danach werden bei Paaren mit einem Kind den Eltern 83,2 Prozent der Kosten für Unterkunft und Heizung zugerechnet. Bei Paaren mit zwei Kindern entfallen auf die Eltern 71,23 Prozent der Wohnkosten.
31. Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes, BT-Drs. 16/9615 und BT-Drs. 16/9792.
32. Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes, BT-Drs. 16/9615, S. 9.
33. Annahme: Wohnung liegt in einer Gemeinde der Mietstufe IV und war ab 1992 bezugsfertig.
34. Jeweils immer nach Abzug von Werbungskosten und Freibeträgen bei Erwerbstätigkeit.
35. S.o. vor I.1.
36. Stellungnahme der Bundesregierung zur Gegenäußerung des Bundesrats zum Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes, BT-Dr. 16/9615, S. 9; Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt, BR-Drs. 558/03, S. 201.
37. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt, BR-Drs. 558/03, S. 201.
38. Bis 1.1.2009.
39. Höchstbeträge nach § 8 WoGG.
40. Dabei muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass der ALG-II-Anspruch der Familie sowohl von der Zahl und dem Alter der Kinder als auch von der Miethöhe in ihrer Gemeinde abhängt. Weil der Kinderzuschlag - wie oben beschrieben - an den ALG-II-Anspruch der Familie gekoppelt ist, ergeben sich auch hier Unterschiede für verschiedene Familientypen. Das Beispiel ist also individuell und kann nicht auf andere Familien übertragen werden.
41. Genaue Annahmen für die Berechnung: Paar mit zwei Kindern (eines unter und eines über 14 Jahre), keine Unterhaltszahlungen, keine Einkünfte außer Arbeitseinkommen, abhängig beschäftigt, Wohnung ab 1992 bezugsfertig, Wohnort in Gemeinde mit Mietstufe IV, Miete 545 Euro (nach Wohngeld maximal zu berücksichtigender Mietbetrag), Heizkosten 60 Euro, falls krankenversichert: AOK Baden-Württemberg. Werbungskosten unterhalb oder gleich der Pauschale von 920 Euro im Jahr. Berechnung nach dem derzeitigen Wohngeldgesetz (dies wird zum 1.1.2009 reformiert - daraus folgt eine gewisse Erhöhung des Wohngelds). Annahme, dass Warmmiete (also inklusive Heizkosten) im Rahmen des Arbeitslosengeldes II voll übernommen würde, das heißt als angemessen anerkannt wird. Zur Berechnung des Nettoerwerbseinkommens wurde der Brutto-Netto-Rechner der AOK verwendet.
42. Nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II werden vom Einkommen 100 Euro monatlich pauschal nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet, um Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen, geförderte Altersvorsorgebeiträge oder die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben zu decken. Zusätzlich besteht nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6, 30 SGB II für Erwerbstätige ein Freibetrag in Höhe von 20 Prozent der Einkommensanteile zwischen 101 und 800 Euro und in Höhe von zehn Prozent für Einkommensbestandteile zwischen 801 und 1200 Euro. Bei Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern gilt Letzteres für Einkommensanteile bis 1500 Euro.
43. Das ergänzende Arbeitslosengeld II wurde eingeführt, damit es sich für Empfänger von Grundsicherungsleistungen "lohnt", Arbeit aufzunehmen: Im Niedrigeinkommensbereich reichen die Gehälter oftmals nicht aus, um den Bedarf der Familie abzudecken. Damit der Bedarf der Familie gedeckt ist und sie von der Arbeitsaufnahme trotzdem profitiert, gibt es die oben beschriebenen Freibeträge.
44. Zu einer Abschätzung der verdeckten Armut siehe Becker, Irene: Armut in Deutschland : Bevölkerungsgruppen unterhalb der ALG-II-Grenze. Arbeitspapier Nr. 3 des Projekts "Soziale Gerechtigkeit". Frankfurt/Main, Oktober 2006. Ein weiteres Indiz der verdeckten Armut ist die Tatsache, dass von 993787 Anträgen auf Kinderzuschlag (in den Jahren 2005 bis 2007) mehr als die Hälfte der Anträge wegen zu niedrigen Einkommens abgelehnt wurden (siehe Dossier Kinderzuschlag - Gesetzliche Regelung und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2008).
45. Vgl. auch Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Kindergeldgesetzes, BT-Drs. 16/9615, S. 7.
46. So hat zum Beispiel die Stadt Stuttgart am 30.5.2008 eine Strategiekonferenz Kinderarmut mit ausgerichtet und viele Handlungsmöglichkeiten erarbeitet, vgl. www.stuttgart.de/sde/menu/frame/top_11021.htm; www.stuttgart.de/sde/presse/detail/273550.
47. Zum Beispiel Art. 21 Abs. 2 BaySchFG; § 50 Abs. 2 Satz 2 BerlSchulG; § 70 SchulG RP; § 96 SchulG NW; § 43 ThürSchulG.
48. Zum Beispiel Runderlass des Kultusministeriums Niedersachsen vom 11.3.2005.
49. So besteht in Nordrhein-Westfalen die Befreiung nur für die Empfänger von Leistungen nach dem SGB XII, vgl. § 96 Abs. 3 Satz 4 SchulG NW. Über weitere Entlastungen entscheidet der Schulträger in freier Verantwortung. Dagegen gilt nach Art. 21 Abs. 4 BaySchFG in Bayern eine Befreiung vom Eigenanteil für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II, SGB XII oder WohngeldG; ähnlich § 50 Abs. 4 Berl-SchulG; Runderlass des Kultusministeriums Niedersachsen vom 11.3.2005: Ausleihentgelt entfällt für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II, SGB XII und erzieherischen Hilfen außerhalb des Elternhauses nach dem SGB VIII.
50. Quelle: www.gew.de/tarifrunde_2.htmlprint6/Situation_in_den_Bundeslaendern.html
51. Becker, Irene: Was kaufen Familien mit niedrigem Einkommen? In: neue caritas, Heft 1/2008, S. 22ff., hier Tabelle 1. Zugrunde gelegt wurden die durchschnittlichen Konsumausgaben von Paarhaushalten mit einem Kind im untersten Quintil nach dem Alter des Kindes - begrenzt auf Haushalte mit einem Einkommen von mindestens zwei Dritteln der Quintilsgrenze (Herausnahme der verdeckt Armen).
52. Quintilsbildung nach der Höhe des Haushaltsnettoeinkommens für die Gesamtgruppe der Paarhaushalte mit einem Kind nach Ausschluss der Haushalte mit Sozialhilfebezug.
53. Becker, Irene: Was kaufen Familien mit niedrigem Einkommen? In: neue caritas, Heft 1/2008, S. 22ff., hier S. 29.