Paragraf 218 auf dem Prüfstand
Seit die Bundesregierung im Koalitionsvertrag 2021-2025 ihr Vorhaben zur Prüfung der "Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches" (StGB) vereinbart hat, nehmen die Aktivitäten zur Streichung des § 218 StGB zu. In den Medien finden sich zahlreiche Berichte, dass Frauen nun endlich auch beim Schwangerschaftsabbruch Selbstbestimmung zugestanden werden müsse. Es könne nicht sein, dass immer noch längst überkommene Vorstellungen - vornehmlich von Männern bestimmt - die gesetzlichen Regelungen prägten, Frauen im Konflikt eine Beratung aufgezwungen werde. Und all dies führe dazu, dass Frauen in Not immer weniger Möglichkeiten zu einem Schwangerschaftsabbruch vorfänden. Viele dieser Narrative scheinen auf den ersten Blick überzeugend. Sie sind es aber nicht.
Im März 2023 wurde die "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" von der Bundesregierung eingesetzt. Diese wird im April 2024 ihre Ergebnisse vorlegen. Aufgabe der Arbeitsgruppe 1 ist die Überprüfung, ob und unter welchen Voraussetzungen außerstrafrechtliche Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch möglich sind.
Der Deutsche Caritasverband und der Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein (SkF) mit der Zentralen Fachstelle Katholische Schwangerschaftsberatung haben sich auf allen verbandlichen Ebenen mit einer möglichen außerstrafrechtlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen befasst. Im Vorfeld einer nicht öffentlichen Anhörung der Kommission haben die beiden Verbände im Oktober 2023 eine Stellungnahme verfasst (siehe Seite 31 ff. dieser Ausgabe). Die Zentrale Fachstelle wurde daraufhin zur Anhörung eingeladen, um der Kommission ihre Argumente zu einzelnen Fragestellungen vorzutragen.
Beratung erreicht Frauen in prekären Lebenslagen
Der Fachbereich Katholische Schwangerschaftsberatung hat sich seit der Ankündigung der Überprüfung des § 218 StGB intensiv mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und auch mit den neuen Argumentationslinien auseinandergesetzt.
Die Beratungsstellen von Caritas und SkF stellen seit 2001 auf Anordnung des Papstes und der deutschen Bischöfe keine Beratungsnachweise nach § 7 Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) mehr aus. Entsprechend beraten sie nicht mehr in der staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatung. Dennoch bieten sie Beratung im existenziellen Schwangerschaftskonflikt an, und dies nicht nur in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen, sondern auch darüber hinaus.1 Nicht selten haben Frauen, die in die katholische Schwangerschaftsberatung kommen, den Beratungsnachweis schon in der Tasche, manche sind ambivalent.
Die Klientel der Katholischen Schwangerschaftsberatung ist in besonderem Maß von prekären Lebenslagen betroffen: So bezogen 2022 von den rund 100.000 Ratsuchenden 36 Prozent SGB-II-Leistungen (Bürgergeld), 58 Prozent hatten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Der Anteil der Ratsuchenden mit ausländischer Herkunft lag deutlich über 50 Prozent. Die Hälfte davon hat eine befristete Aufenthaltserlaubnis.
Die katholischen Beratungsstellen erreichen viele Frauen in vulnerablen Lebenslagen, bei denen es immer auch um schutzwürdige Belange der Frauen selber geht, wenn sie beispielsweise von Gewalt bedroht oder Gewalt ausgesetzt sind. In die Beratung kommen Frauen mit Traumatisierungen, mit Beeinträchtigungen, mit Suchterkrankung oder psychischer Erkrankung - auch der Partner:innen.
Angesichts der zu erwartenden Ergebnisse der Kommission und der sich - hoffentlich - anschließenden angemessenen gesellschaftlichen und politischen Debatte hat eine überdiözesane Arbeitsgruppe der Zentralen Fachstelle Schwangerschaftsberatung Leitsätze als Bewertungs- und Argumentationsgrundlage für etwaige Vorschläge für eine außerstrafrechtliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen erarbeitet, die auch in die oben genannte Stellungnahme eingeflossen sind. Die Leitsätze sind kurz und prägnant formuliert:
◆ Katholische Schwangerschaftsberatung steht für Frauenrechte und übernimmt ein frauenpolitisches Mandat in politischen und kirchlichen Diskursen.
◆ Die unantastbare Würde menschlichen Lebens lässt keinen abgestuften Lebensschutz zu.
◆ Lebensschutz ist nicht nur eine individuelle, sondern eine gesellschaftliche und staatliche Aufgabe.
◆ Eine verpflichtende Beratung ist eine Chance in der Zumutung des Schwangerschaftskonflikts.
◆ Die Entscheidung und ihre Konsequenzen sind nicht delegierbar.
Grundrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden
Die Herausforderungen für eine mögliche außerstrafrechtliche Regelung bestehen darin, dass bei einem Schwangerschaftskonflikt die Grundrechte der schwangeren Frau und das Grundrecht des ungeborenen Lebens betroffen sind. Diese dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, gerade auch, weil die Dilemmata sich nie ganz auflösen lassen. Letztendlich wird sich jede (Neu-)Regelung daran messen lassen müssen, ob das Selbstbestimmungsrecht der Frau und das Lebensrecht des Ungeborenen gleichermaßen berücksichtigt sind.
Die menschenrechtsbasierte Perspektive auf die reproduktiven Rechte von Frauen als Antwort auf fundamentale Menschenrechtsverletzungen sowie die entsprechenden Dokumente der UN und der WHO finden die Zustimmung von Caritas und SkF. Sie dienen der Abwehr von Menschenrechtsverletzungen und betonen deshalb die Rechte der Frau. In der Beratung findet diese Perspektive aber eine Erweiterung in dem Sinn, dass der Fokus nicht auf der Bedrohung der Rechte der Frau liegt, sondern auf dem Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und dem Lebensrecht des Ungeborenen. Die unantastbare Würde menschlichen Lebens gilt für Caritas und SkF von Anfang an und lässt keinen abgestuften Lebensschutz zu.
Viele Hilfen sind den Schwangeren gar nicht bekannt
Wegen der Tragweite der Entscheidung halten Caritas und SkF eine verpflichtende Beratung nach wie vor für zumutbar und gerechtfertigt. Aus beraterisch-fachlicher Sicht ist die Forderung nach einer ausschließlich freiwilligen Beratung zwar nachvollziehbar, die Haltung von Caritas und SkF ist jedoch ethisch begründet. Dabei ist ihnen bewusst, dass die Katholische Schwangerschaftsberatung eine staatlich anerkannte Pflichtberatung unter den derzeitigen Bedingungen nicht durchführen kann.
Caritas und SkF sehen die Zumutung der Konfliktberatung aber auch als eine Chance für die schwangere Frau. Beratung kann solidarische Zuwendung
und Unterstützung erfahrbar werden lassen. Sie dient immer der Perspektivbildung und setzt an den Ressourcen der Klientin an. Vieles, was es an Unterstützungsmöglichkeiten gibt, ist überhaupt nicht bekannt, angefangen bei den Rechtsansprüchen, die die Frau hat. Und nicht zuletzt schützt sie Frauen, die von ihrem sozialen Umfeld unter Druck gesetzt werden, sich für oder gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden. Sie unterstützt Frauen, eine selbstbestimmte und informierte Entscheidung im Schwangerschaftskonflikt zu treffen, beispielsweise wenn die Schwangere minderjährig oder sehr jung ist, bei bestehender oder drohender Gewalt, bei psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen.
Die trägerübergreifenden Erfahrungen in Zusammenhang mit Pränataldiagnostik und medizinisch auffälligem Befund gemäß § 2 a Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) zeigen, dass der Rechtsanspruch auf eine (freiwillige) psychosoziale Beratung nicht zu einer gehäuften Inanspruchnahme dieses Beratungsangebots geführt hat. Insofern würde sich auch bei einer außerstrafrechtlichen Regelung die Frage der Erreichbarkeit von Frauen im Schwangerschaftskonflikt stellen.
Die Selbstbestimmung der Frau ist auch in der aktuellen gesetzlichen Verortung gegeben. Bereits jetzt entscheidet sich immer die Frau eigenverantwortlich für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft. Selbstbestimmung ist immer relational. Das bedeutet: Die eigene Autonomie ist stets eingebettet in Beziehungen und das soziale Umfeld, die eigene Freiheit wird begrenzt durch die Freiheit des oder der anderen. Bei einem Schwangerschaftskonflikt berührt die Selbstbestimmung unmittelbar auch das Verhältnis zum ungeborenen Leben. Für die individuelle Entscheidung ist zudem relevant, welche förderlichen Lebens- und Rahmenbedingungen für Frauen, Familien und Kinder gegeben sind.
Es braucht die Solidarität der Gesellschaft
Die Konsequenzen der Entscheidung für ein Kind dürfen nicht ausschließlich individualisiert werden und zulasten der Frau gehen. Es bedarf der Solidarität der Gesellschaft und nachhaltiger frauen- und familienpolitischer Rahmenbedingungen, die eine annehmbare Perspektive für ein Leben mit (einem weiteren) Kind oft erst eröffnen.
Für ihre fachlichen, ethischen und verbandlichen Überzeugungen setzen sich die katholischen Träger entschieden ein. Es geht bei allen existenziellen Fragen im Kern darum, in welcher Gesellschaft die Menschen (zukünftig) leben wollen. Katholischen Trägern ist es wichtig, mit ihrer Wertehaltung die Gesellschaft, Politik und Kirche mitzugestalten.
Daher bleibt es ein großes Ärgernis und ein Schmerz, dass katholische Träger seit 2001 nicht mehr mit der staatlichen Anerkennung im Schwangerschaftskonflikt beraten dürfen und viele Frauen so nicht mehr erreichen. Katholische Träger sind auch nach mehr als zwanzig Jahren eindeutig der Auffassung, dass diese Entscheidung falsch war und revidiert werden muss. In der aktuellen politischen Debatte schwächt diese Situation zudem ihre Argumentationskraft als katholische Verbände … und nicht zuletzt auch die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche.
1. Für eine vertiefende Befassung sei verwiesen auf das 2017 verschriftlichte Lebensschutzkonzept der Katholischen Schwangerschaftsberatung: www.caritas.de/lebensschutz