Die vermeintliche Lösung
Nahezu zehn Prozent aller Beschäftigten in Deutschland arbeiten im sozialen Sektor. In den letzten Jahren ist diese Anzahl auf über drei Millionen angewachsen. Das zeigen Daten des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), die wir für unser Buch "Vor dem Kollaps!?"1 ausgewertet haben. Die Daten ließen sich dabei so auf den sozialen Sektor abgrenzen, dass alle Berufsfelder und Bereiche erfasst sind, die die Wohlfahrtsverbände anbieten.
Allerdings ist fraglich, ob sich diese Entwicklung so fortsetzen wird. Denn die Statistiken zeigen auch eine enorme Verschiebung der betrieblichen Altersstruktur im sozialen Sektor. Im Jahr 2008 lag der Anteil der 50- bis 64-Jährigen bei 27 Prozent, im Jahr 2021 bereits bei 37 Prozent. In Pflegeeinrichtungen sind bereits jetzt 40 Prozent der Beschäftigten älter als 50. Ein Viertel der Betriebe gibt Überalterung und - damit zusammenhängend - krankheitsbedingte Fehlzeiten als zunehmendes Problem an. Zugleich zeigen sich in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der offenen Stellen und zunehmende Personalprobleme der Einrichtungen - sowohl bei der Rekrutierung als auch bei steigenden Lohnkosten. Auch wenn die Wechselbereitschaft der Beschäftigten im sozialen Sektor im Vergleich zu den übrigen Branchen nicht stärker ausgeprägt ist, gewinnen Kündigungen durch die Beschäftigten an Relevanz. Es gibt also zunehmend auch ein Bindungsproblem.
Attraktive Arbeitsbedingungen stehen im Fokus
Vor diesem Hintergrund wurden die Betriebe in der aktuellen Befragung des IAB-Betriebspanels 2023 gefragt, welche Strategien der Fachkräftesicherung für sie Priorität haben (siehe Abbildung). An oberster Stelle steht die Schaffung attraktiver Arbeitsbedingungen: Für 84 Prozent der Einrichtungen im sozialen Sektor und 64 Prozent der Betriebe in der übrigen Wirtschaft ist diese Strategie von großer Bedeutung.
In der Debatte um attraktive Arbeitsbedingungen fällt des Öfteren die sogenannte Viertagewoche auf, die zum Teil als personalpolitisches "Wundermittel"2 angepriesen und mit zahlreichen positiven Effekten in Verbindung gebracht wird3: Neben einer besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, einer höheren Lebensqualität und geringeren Stressbelastungen könnte eine kürzere Arbeitswoche die Arbeitsproduktivität erhöhen, weil Beschäftigte motivierter und konzentrierter sind und die Arbeitszeit effizienter nutzen können. Eine kürzere Arbeitswoche könnte Überlastungen und damit einhergehend Krankheitsausfälle reduzieren. Beschäftigte bekämen mehr Zeit zur Erholung, was sich positiv auf ihre psychische Gesundheit auswirken könnte. Die höhere Zufriedenheit der Belegschaft könnte zu weniger Kündigungen und einer besseren Bindung zwischen Einrichtung und Beschäftigten führen. Selbst im Schichtdienst könnte die Viertagewoche Vorteile bieten, für mehr Zufriedenheit und bessere Arbeitsabläufe sorgen und letztlich sogar zu einer besseren pflegerischen Versorgungsqualität führen, so die Hoffnung. Zusätzlich werden der Viertagewoche positive Auswirkungen auf die Umwelt zugeschrieben, denn weniger Pendelverkehr und geringerer Energieverbrauch in Büros könnten zu einer Verringerung des ökologischen Fußabdrucks führen. Schließlich wird die Viertagewoche als Wettbewerbsinstrument ins Spiel gebracht. Sie kann die Attraktivität als Arbeitgeber steigern.
Ob sich diese Hoffnungen tatsächlich erfüllen werden, hängt wesentlich davon ab, was genau unter einer Viertagewoche zu verstehen ist. In der Regel ist der Ausgangspunkt eine 40-Stunden-Woche, wobei den Beschäftigten ein weiterer freier Tag und bestenfalls ein verlängertes Wochenende von Freitag bis Sonntag eingeräumt werden soll.4 An diesem Punkt stellt sich bereits die Frage der konkreten Umsetzung. Einerseits kann darunter das Ableisten der vollen Arbeitszeit an vier Tagen mit einer Verlängerung der täglichen Arbeitszeit verstanden werden. Eine solche komprimierte Arbeitswoche wäre aus arbeitszeitrechtlicher Sicht im Rahmen der maximalen täglichen Arbeitszeit von zehn Stunden gerade so zulässig, allerdings wären die Arbeitstage aufgrund der gesetzlichen Mindestpausen von zusätzlich 45 Minuten und Pendelzeiten sehr lang (Backhaus 2024). Dieses Modell ist für Tätigkeiten, die sehr fordernd sind, nur dann denkbar, wenn die Zusammensetzung der Aufgaben angepasst wird, so dass emotional und physisch anstrengende Tätigkeiten mit weniger belastenden Tätigkeiten kombiniert werden. Andernfalls würden sich aus der Perspektive des Arbeitsschutzes nur die Belastung und das Unfallrisiko erhöhen, nicht aber die Produktivität. In der Tat berichten Beschäftigte in der Pflege, dass die Mehrbelastung nicht immer durch die zusätzlichen freien Tage ausgeglichen wird und die längeren Arbeitszeiten für die Work-Life-Balance zum Teil als herausfordernd und belastend empfunden werden.5
Andererseits könnte man unter der Viertagewoche eine Reduzierung der regulären Wochenarbeitszeit um 20 Prozent verstehen, mit oder ohne vollen Lohnausgleich. Eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich bringt massive Lohnverluste für die Vollzeitbeschäftigten. Weniger Stunden beziehungsweise in Teilzeit zu arbeiten, muss man sich letztlich leisten können.
Eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich ist umgekehrt nichts anderes als eine Lohnerhöhung. Im Lohnwettbewerb gegenüber anderen Branchen und Berufen wäre die Einführung einer Viertagewoche im sozialen Sektor ein Wettbewerbsvorteil und würde nebenbei dazu beitragen, den Gender Pay Gap, also den Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern, zu reduzieren, da etwa 80 Prozent der Beschäftigten im sozialen Sektor Frauen sind.
Die Viertagewoche macht Teilzeit zum Standard
Der Diskurs um die Viertagewoche orientiert sich allerdings stark an der Vollzeitbeschäftigung als Ausgangspunkt. Eine Besonderheit des sozialen Sektors ist der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigten. Bereits jetzt arbeitet über die Hälfte der Beschäftigten im sozialen Sektor in Teilzeit (gegenüber 29 Prozent in anderen Branchen). Zehn Prozent der Beschäftigten sind nur geringfügig beschäftigt. Zum Vergleich: In den übrigen Branchen sind es etwa elf Prozent.
Für Teilzeitbeschäftigte könnte die Viertagewoche mit einer Erhöhung von Verdienstmöglichkeiten einhergehen, da sie ihre Arbeitszeit erhöhen können, ohne mehr Tage in der Woche arbeiten zu müssen. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Viertagewoche eine geeignete Antwort auf die Lebensbedingungen von Teilzeitbeschäftigten mit Betreuungspflichten darstellt. Eltern, vor allem Mütter, verteilen ihre (Teilzeit-)Arbeit häufig auf fünf Tage, um diesen Betreuungspflichten nachkommen zu können. Inwieweit eine Konzentration der Arbeitszeit auf vier Tage tatsächlich die geeignete Antwort auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie darstellt, ist angesichts der Mehrbelastung an vier Tagen eine offene Frage.
Im sozialen Sektor haben einige Betriebe entsprechende Modelle bereits testweise umgesetzt, meistens mit erheblichem Kraftaufwand und unter Verwendung eigener Mittel, weil die Zusatzkosten nicht refinanziert werden. Die Strategie passt insofern zu den bisher hier ausgeführten Analysen, als die Gefahr besteht, dass der soziale Sektor von anderen Branchen abgehängt wird, in denen derartige Modelle eingeführt werden. Andererseits: Gesamtgesellschaftlich ist wenig gewonnen, wenn einzelne, besser ausgestattete Betriebe den Weg der Viertagewoche gehen und andere dies nicht können. Die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität einzelner Einrichtungen schadet letztlich dem Ziel, annähernd gleichwertige Lebensbedingungen in Deutschland sicherzustellen. Es kommt lediglich zu einer Verschiebung von Arbeitskräften, weitere Strukturen brechen möglicherweise weg.
Unklar ist zudem, wie das Arbeitsvolumen erhöht werden kann - einer der entscheidenden Hebel auf betrieblicher Ebene -, etwa indem versucht wird, unfreiwillige Teilzeit in Richtung Vollzeit zu verschieben und durch gutes Gesundheitsmanagement Vollzeitarbeit auch bei älteren Beschäftigten zu ermöglichen. Denn: Gerade teilzeitbeschäftigte Frauen über 30 Jahre wünschen sich häufiger eine Verlängerung der Arbeitszeit als eine weitere Verkürzung.
Flexible Arbeitsmodelle als Alternative
In der Gesamtsicht ist die Viertagewoche nur eine Option, wenn sie über den gesamten sozialen Sektor für alle Betriebe ermöglicht wird. Doch das ist wiederum schwer vorstellbar. Die Mehrkosten müssten von den Sozialversicherungen und Kommunen abgedeckt werden. Und selbst dann bleibt die Skepsis, ob die Attraktivität dadurch so gesteigert würde, dass sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern würden. Wahrscheinlicher scheint, dass die Abwärtsdynamik aus Arbeitskräftemangel, zunehmenden Ausfällen und immer mehr Druck und Stress eher zunehmen könnte, wenn das insgesamt zur Verfügung stehende Arbeitszeitvolumen zumindest kurzfristig noch einmal um bis zu 20 Prozent sinkt. Gesellschaftlich kann die Viertagewoche zwar dann eine sinnvolle Option sein, wenn Familien durch den Abbau sozialer Leistungen Betreuungs- und Pflegetätigkeiten noch stärker selbst übernehmen müssen. Denn dafür werden zwangsläufig die entsprechenden Zeitkontingente gebraucht, die durch eine reduzierte Arbeitszeit erreicht würden.
Daher passt die Viertagewoche am ehesten in die Kategorie "vermeintlich einfache Lösung" für ein komplexes Problem. Anstelle einer allgemeinen, über alle Einrichtungen und Berufe gestülpten Viertagewoche braucht es ausdifferenzierte, flexible Arbeitszeitmodelle. Diese können an Bedeutung gewinnen, wenn sie den Wünschen der Beschäftigten und den Anforderungen der Betriebe in ihrem jeweiligen Umfeld gerecht werden. Nicht jedes Arbeitszeitmodell ist für jede:n Beschäftigte:n, in jeder Lebensphase und in jedem Betrieb gleich gut geeignet. Flexible Arbeitszeitmodelle können wichtige Hebel darstellen, um für Beschäftigte wie Betriebe Arbeitsbedingungen und Produktivität zu erhöhen. Teilzeit ist in Deutschland mit schlechteren Karriere-, Verdienst- und Weiterbildungsmöglichkeiten verbunden. Eine höhere Arbeitszeitflexibilität könnte auch eine stärkere Durchlässigkeit zwischen Teilzeit und Vollzeit fördern und verhindern, dass Teilzeitarbeit zur Falle wird.6
Andere Ansätze: weniger Bürokratie, Dokumentation und Kontrolle
Zum Glück gibt es weitere Ansätze, um dem demografischen Wandel und dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Die Viertagewoche oder, allgemeiner, flexible Arbeitszeitmodelle sind ein Ansatzpunkt von vielen. Steuerungsmechanismen neu zu denken, Bürokratie und Dokumentation abzubauen und die Nachweis- und Kontrollkultur zu überwinden - das sind weitere wichtige Schritte, um die Jobs im sozialen Sektor besser zu machen und die Kompetenz der Arbeitskräfte wertzuschätzen. Doch diese Rahmenbedingungen werden politisch entschieden und immer wieder neu perpetuiert. Nichts davon erscheint kurzfristig umsetzbar, aber das liegt auch daran, dass wir Verbände dies nicht mit Klarheit und Vehemenz einfordern.
Das ließe sich ändern.
eine hohe Bedeutung zuschreiben. Wortlaut der Frage: Welche Bedeutung haben die folgenden Strategien zur Sicherung des betrieblichen Fachkräftebestands und zur Deckung des zukünftigen Fachkräftebedarfs für Ihren Betrieb/Ihre Dienststelle?“ Antwortmöglichkeiten: „hoch“, „gering“, „keine“.
IAB-Betriebspanel 2023
1. Hohendanner, C.; Rocha, J.; Steinke, J.: Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor. Berlin, 2024.
2. Zander, G.: Wundermittel 4-Tage-Woche? Chancen, Grenzen und flexible Alternativen. Freiburg, 2023.
3. Vgl. Klammer, U.: Vier-Tage-Woche oder lebensphasenbezogene Zeitoptionen? Arbeitszeitpolitik zwischen kollektivem "new normal" und individueller Arbeitszeitflexibilität. In: Sozialer Fortschritt 1/2024, S. 37-46; und Backhaus, N.: Verkürzung von Arbeitszeit und "4-Tage-Woche": Chancen und Herausforderungen für die Arbeits(zeit)gestaltung aus Sicht der Arbeitswissenschaft. In: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik (ZfWP) 2/2024, S. 136-146.
4. Altun, U.: 4-Tage-Woche - Modell für die Arbeitswelt der Zukunft? In: ZfWP 2/2024, S. 114-124.
5. Jost, T.; van Gellekom, H.: Im Test: Vier-Tage-Woche für Pflegekräfte. In: Pflegezeitschrift 12/2023, S. 16-17.
6. Wanger, S.; Weber, E.: Arbeitszeit: Trends, Wunsch und Wirklichkeit. IAB-Forschungsbericht 16/2023.