Den „Europäischen Grünen Deal“ mutig umsetzen
Die Klimakrise mit ihren dramatischen Auswirkungen weltweit, auch in Deutschland, ist immer stärker zu spüren. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen ist daher mit der Absicht angetreten, die Europäische Union für deren Eindämmung fit zu machen. Mit diesem Versprechen wurde sie 2019 vom Europaparlament gewählt. Fünf Jahre später, am Ende der Legislaturperiode, ist es an der Zeit, eine erste Bilanz aus Sicht der Caritas zu ziehen. Bereits im Dezember 2019, also wenige Monate nach ihrer Wahl, stellte Kommissionspräsidentin von der Leyen den "Europäischen Grünen Deal" vor.
Ziel: klimaneutral bis 2050
Dahinter verbirgt sich eine ganze Reihe an Ankündigungen von Gesetzen, Strategien, Leitlinien und Investitionen, mit denen viele Lebensbereiche klimafreundlich gestaltet werden sollen. Verschiedene Politikfelder werden mit Blick auf das umfassende Thema Klima- und Umweltschutz miteinander verknüpft. In diesem Rahmen hat sich die EU mit dem Europäischen Klimagesetz das verbindliche Ziel gesetzt, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen (zum Europäischen Grünen Deal siehe auch neue caritas Heft 16/2020, S. 9 ff.). Das umfangreiche, aus verschiedenen Richtlinien und Verordnungen bestehende Paket "Fit for 55" unterlegt die verabschiedeten Treibhausgasemissionsziele mit konkreten gesetzgeberischen Maßnahmen für die Europäische Union für die Jahre bis 2050.
Die bereits beschlossenen Maßnahmen werden aufgrund konkreter Vorgaben die nationalen Klimapolitiken der EU-Mitgliedstaaten entscheidend beeinflussen und zudem wichtige Auswirkungen auf die globale Klimapolitik haben (siehe auch neue caritas Heft 17/2022, S. 21 ff.).
Kirchliche Wohlfahrt für gerechten Klimaschutz
Der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland begrüßen in einer gemeinsamen Stellungnahme1 die klimapolitischen Vorhaben der EU-Kommission. Wichtig ist den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, dass alle Maßnahmen Klimaschutz substanziell voranbringen, Treibhausgas reduzieren und zugleich soziale Gerechtigkeit befördern. Laut dem Bericht des Europäischen Wissenschaftlichen Beirats2 reichen die bisher auf EU-Ebene beschlossenen Maßnahmen jedoch nicht aus, um die Emissionen bis 2030 tatsächlich um 55 Prozent zu senken. Besonders in den Bereichen Gebäude und Verkehr sowie Land- und Forstwirtschaft müssen die Anstrengungen verschärft werden.
Klimaschonen lohnt - aber Arme sind stärker belastet
Aus Sicht der Caritas ist die Einführung eines Emissionshandelssystems für den Gebäudesektor und den Straßenverkehr, das von der EU in dieser Legislaturperiode beschlossen wurde, eine wichtige klimapolitische Maßnahme. Durch eine Verteuerung des Ausstoßes von Treibhausgasen sollen Konsument:innen dazu bewegt werden, CO2 einzusparen und zu klimafreundlicheren Alternativen zu wechseln. Allerdings hat dieses Emissionshandelssystem eine stark regressive Wirkung: Einkommensärmere Haushalte müssen trotz ihres geringeren Verbrauchs einen höheren - und noch steigenden - Prozentsatz ihres Einkommens für Energie aufwenden. Dadurch werden einkommensschwächere Haushalte relativ betrachtet stärker belastet als einkommensstarke Haushalte. Dies, obwohl einkommensschwächere weniger und einkommensstarke Haushalte überproportional mehr zur Klimakrise beitragen.
Einnahmen müssen an Bürger:innen zurückfließen
Aus sozialer Sicht ist das Emissionshandelssystem für die Sektoren Straßenverkehr und Gebäude daher nur tragbar, wenn die Einnahmen als sozialer Ausgleich an die Bevölkerung zurückfließen und die für die Transformation nötigen Finanzmittel aus progressiv erhobenen Steuern finanziert werden.
Die EU hat zur sozialen Flankierung den Klima-Sozialfonds eingeführt, mit dem von 2026 bis 2032 finanziell schwächere Haushalte, Kleinstunternehmen und Verkehrsnutzer:innen durch Investitionen oder durch befristete, direkte Einkommensbeihilfen unterstützt werden. 65 Milliarden Euro aus den Einnahmen des neuen Emissionshandelssystems werden hierfür bereitgestellt.
Für Deutschland beläuft sich die Summe auf weniger als eine Milliarde Euro pro Jahr. Der Deutsche Caritasverband begrüßt die Einführung des Fonds, auch wenn dieser finanziell nicht ausreichend ausgestattet ist und man eine direkte Rückzahlung aller Einnahmen an die Bürger:innen der EU bevorzugt hätte.
Derzeit entfallen in der EU etwa 40 Prozent des Energieverbrauchs auf Gebäude. Neben der Bepreisung des CO2-Ausstoßes sind ambitionierte Vorgaben zur Energieeffizienz von Gebäuden notwendig, um die Klimaziele der EU zu erreichen. In dieser Legislaturperiode hat die EU daher die Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden (EPBD) überarbeitet. Diese enthält nun eine Reihe von Maßnahmen, die die EU-Mitgliedstaaten dabei unterstützen, die Energieeffizienz von Gebäuden strukturell zu verbessern. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere Gebäude mit der geringsten Energieeffizienz. Ziel ist es, den durchschnittlichen Primärenergieverbrauch von Wohngebäuden bis 2030 um 16 Prozent und bis 2035 um 20 bis 22 Prozent zu senken.
Für Nichtwohngebäude werden Mindeststandards für die Gesamtenergieeffizienz schrittweise verbessert. So sollen bis 2030 16 Prozent der Gebäude mit der geringsten Energieeffizienz und bis 2033 26 Prozent von ihnen renoviert werden. Gemeinsam mit anderen Sozial- und Umweltverbänden forderte die Caritas die Bundesregierung auf, sich für ambitionierte Mindesteffizienzstandards von Gebäuden in der EU einzusetzen.3
Mieter:innen sollen vor Mehrkosten geschützt sein
Die Menschen, die von Energiearmut sowie von Hitze und Kälte in schlecht sanierten Wohnungen und Häusern besonders betroffen oder bedroht sind, profitieren von ambitionierten Vorgaben und der zielgenauen sowie einkommensorientierten Förderung für Hauseigentümer:innen und Schutzmaßnahmen für Mieter:innen vor Mehrkosten. Die Bundesregierung hat jetzt die Chance, bei der Umsetzung in nationales Recht die soziale Abfederung im Gebäudesektor von Anfang an mitzudenken: Voraussetzung für den sozialen Frieden und für das Gelingen der Wärmewende ist, dass alle Menschen unabhängig von ihrer ökonomischen oder sozialen Situation am ökologischen Fortschritt teilhaben können. Wer zur Miete wohnt, muss vor Mehrkosten durch Sanierungen geschützt sein.
Die Liebe zum Klima steht auf der Probe
Die Klimapolitik erfährt momentan sehr unterschiedliche Reaktionen in Deutschland. Befragt man Wähler:innen aller politischer Parteien, ist die positive Rückmeldung überwältigend, wie eine Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung vom November 2023 unterstreicht.4 Bis zu 99 Prozent der Grünen-Wähler:innen, aber auch 60 Prozent der AfD-Wähler:innen antworteten auf die Frage, wie wichtig ihnen Klimaschutz sei, mit "wichtig" oder "sehr wichtig". Die grundlegende Akzeptanz ist so hoch wie in kaum einem anderen Politikfeld. Gleichzeitig werden in den Medien Debatten um konkrete Klimaschutzmaßnahmen emotional bis ablehnend geführt, wie die Reform des Gebäudeenergiegesetzes gezeigt hat. Ein häufig geäußertes Kriterium für die Akzeptanz von Klimapolitik ist die soziale Gerechtigkeit. So steht mittlerweile eine Mehrheit der Bevölkerung einer CO2-Bepreisung negativ gegenüber, wenn sie ohne soziale Kompensation erfolgt. Wird diese jedoch klar erkennbar mitgedacht und kommuniziert, erfährt die Bepreisung eine nach wie vor eine hohe Zustimmung.5
Abwehrreaktionen durch gute Ausgestaltung vermeiden
Für den weiteren Erfolg der Klimapolitik ist die soziale Ausgestaltung ambitionierter Maßnahmen entscheidend. Der Wohnkomfort steigt deutlich durch eine energetische Sanierung, Balkonsolarmodule lassen die Stromrechnung sinken und der Ausbau des ÖPNV sowie eine günstige Preisgestaltung erhöhen die Teilhabechancen vieler Menschen. Abwehr entsteht dann, wenn Angst vor finanzieller Überforderung und unklaren Rahmenbedingungen die Oberhand gewinnt. Daher sind sozial gestaffelte und ausreichende Förderprogramme, ein Klimageld sowie der Ausbau der klimaschonenden Infrastruktur (ÖPNV, Radwegenetz, Wärmenetze) elementar und werden darüber entscheiden, ob die Transformation Rückenwind erhält oder gebremst wird.
In anderen europäischen Ländern wird die Einführung des Zertifikatehandels vermutlich nicht ohne Proteste vonstattengehen. Auch hier gilt: Einkommensärmere Menschen in weniger reichen Staaten sind proportional deutlich stärker belastet als Bessergestellte in reicheren Ländern. Wird der Klimaschutz jedoch gut umgesetzt, können sie stark davon profitieren. Daher ist es wichtig, die soziale Flankierung stets auch europäisch umzusetzen.
Was nach den Wahlen geschehen muss
Am 9. Juni 2024 wird das EU-Parlament neu gewählt und die EU-Kommission formiert sich neu. Der Deutsche Caritasverband möchte eine sozial gerecht gestaltete ökologische Wende und die weitere Umsetzung des Europäischen Grünen Deals vorantreiben und unterstützen. Dabei müssen soziale Implikationen bei den Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele stärker als bisher Berücksichtigung finden. Ambitionierter und sozial gerecht gestalteter Klimaschutz sollte zur Leitlinie der Daseinsvorsorge werden. Sozial- und Umweltstandards sollen in allen EU-Freihandelsabkommen durchgesetzt werden. EU-Vorgaben zur Energieeffizienz sind von entscheidender Bedeutung für einen gerechten Übergang, und Wärmedämmung muss in erhöhtem Tempo umgesetzt werden.
Bus und Bahn europaweit ausbauen, ÖPNV verbilligen
Auch die Veränderung der Mobilität trägt in erheblichem Maße dazu bei, dass die EU ihre Klimaziele erreicht. Bus- und Bahnverbindungen müssen europaweit ausgebaut und die Taktung erhöht werden. Gleichzeitig muss der öffentliche Personennahverkehr günstiger gestaltet werden. Die Europäische Union muss gezielt Finanzmittel für die Mobilitätswende bereitstellen und klimaschädliche Subventionen von Mitgliedstaaten beanstanden. Die Wende in der Sanierungs- und Verkehrspolitik muss spürbar sein, bevor 2027 das Emissionshandelssystem für den Gebäudesektor und den Straßenverkehr eingeführt wird. Dafür müssen EU-Finanzmittel für gefährdete Haushalte bereitgestellt und das EU-Beihilfenrecht angepasst werden, zum Beispiel durch höhere Schwellenwerte und Beihilfeintensitäten. Gleichzeitig gilt es, gerade in sozialen Arbeitsfeldern Klimaanpassungen zum Schutz der Klient:innen und Patient:innen, aber auch der Mitarbeitenden vorzunehmen. Auch hierfür braucht es Unterstützung durch die Europäische Union, sowohl finanziell als auch durch europäischen Austausch. Der Ausgang der Wahlen zum EU-Parlament wird darüber bestimmen, ob die EU weiterhin einen ambitionierten und sozial gerechten Klimaschutz vorantreibt.
1. www.caritas.de/1ZL66
2. https://bit.ly/48zUslZ
3. https://bit.ly/3TgZShu
4. https://bit.ly/3wAwcTB
5. www.greenpeace.de/klimaschutz/finanzwende/wann-klimageld