Europäische Werte müssen Maßstab bleiben
Der Rat der EU und das Europäische Parlament haben nach jahrelangen Verhandlungen in den frühen Morgenstunden des 20. Dezember 2023 eine politische Einigung über das EU-Migrations- und Asylpaket erzielt, die von vielen als historisch bezeichnet wird. Doch ist die Einigung als solche bereits historisch, nur weil sie gelungen ist?
Es kann die Auffassung vertreten werden, dass für die Bewertung einer Einigung auch die politischen Möglichkeiten entscheidend sind, innerhalb derer sie getroffen werden konnte. Das politische Klima hat sich in den Mitgliedstaaten der EU in der letzten Dekade deutlich verändert. Populistische und extremistische Strömungen haben sich EU-weit das Thema Asyl und Migration zu eigen gemacht und die Spaltung der europäischen Gesellschaften vorangetrieben. Sogar Politiker der gesellschaftlichen Mitte haben sich deren Erzählweise teilweise zunutze gemacht. "Wir müssen froh sein, dass die Einigung überhaupt noch zustande gekommen ist", berichten Abgeordnete in Hintergrundgesprächen. Denn im Juni 2024 werden die Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden und es wird befürchtet, dass sich dann die politischen Kräfteverhältnisse in der EU weiter verschieben werden - zum Nachteil der Geflüchteten und Migrant:innen.
Aber: Die Deutungshoheit beim Thema Asyl und Migration darf nicht denjenigen Kräften zu überlassen werden, die durch menschenverachtendes Gedankengut das Thema zur Erreichung europa- und demokratiefeindlicher Ziele instrumentalisieren. Im Zentrum aller politischen Einigungen im Bereich Asyl- und Migration müssen immer der Mensch und die Menschlichkeit stehen.
Menschenwürde und Menschenrechte dürfen nicht zu bloßen Floskeln verkommen. Sie stellen den Kern der EU-Werteordnung dar und müssen daher auch Ausgangspunkt jeglicher asyl- und migrationspolitischen Überlegungen sein. Die Asyl- und Migrationspolitik der EU muss Ausdruck dieser grundlegenden Überzeugungen sein und sich an den Schutzsuchenden und Migrant:innen ausrichten.
Hoher Preis, nicht nur für Schutzbedürftige
Zwar wurden die Menschen und ihre Rechte bei den Verhandlungen über das gemeinsame europäische Asylsystem nicht gänzlich außer Acht gelassen, doch der Preis für die erzielte Einigung ist hoch. Der operative Mehrwert für ein faires und solidarisches Asylsystem bleibt fraglich, denn wirklich nachhaltige Lösungen sind nicht in Sicht. Vieles deutet darauf hin, dass die eigentlichen Probleme trotz neuer Regelungen bestehen bleiben werden:
Auch nach dem neuen System werden die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen weiterhin einen hohen Anteil der Verantwortung tragen müssen. Denn nach wie vor wird das sogenannte Ersteinreisekriterium aufrechterhalten. Demnach ist derjenige EU-Mitgliedstaat für die Durchführung der Asylverfahren zuständig, in den die Schutzsuchenden zuerst eingereist sind. Zwar gibt es auch andere vorrangige Kriterien, nach denen ein Mitgliedstaat zuständig sein soll. Für die Mehrheit der Einreisenden werden diese allerdings nicht zutreffen.
An den EU-Außengrenzen soll ein neu eingeführtes verpflichtendes Screening-Verfahren durchgeführt werden, bei dem die ankommenden Menschen registriert werden, ihre Identität festgestellt und eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt wird. Um eine schnelle Zurückweisung und Rückführung zu erleichtern, gilt für das Screening-Verfahren die sogenannte "rechtliche Fiktion der Nichteinreise". Obwohl die Menschen faktisch bereits EU-Territorium betreten haben, wird angenommen, sie seien noch nicht eingereist. Das Ergebnis des Screenings ist ausschlaggebend dafür, welches Verfahren die Betroffenen anschließend durchlaufen werden. In Betracht kommen Grenzasylverfahren, Grenzrückkehrverfahren, beschleunigte Verfahren und reguläre Asylverfahren.
Für bestimmte Personengruppen, insbesondere Personen, die aus Herkunftsländern stammen, bei denen die Anerkennungsquoten für internationalen Schutz unter 20 Prozent liegen, müssen nun verpflichtend Asylverfahren an der EU-Außengrenze durchgeführt werden. Auch hier gilt die Fiktion der Nichteinreise. In Krisensituationen oder auch im Falle der Instrumentalisierung von Migrant:innen durch Drittstaaten sollen sogar Personen aus Staaten mit höheren Anerkennungsquoten die Grenzverfahren durchlaufen. In diesen Ausnahmesituationen soll auch die vorgesehene Verfahrensdauer verlängert werden können. Und dies, obwohl die Verfahren an der Grenze in der Regel mit Haft oder haftähnlichen Bedingungen für die Betroffenen einhergehen werden.
Unbegleitete Minderjährige sind von den Grenzverfahren zwar ausgenommen. Familien mit minderjährigen Kindern sollen die Grenzverfahren jedoch durchlaufen, was vollkommen unangemessen ist. Kinder, die ihre Heimat verlassen mussten und mit ihren Eltern auf der Flucht waren, sollen nun für die Dauer der Verfahren haftähnlich untergebracht werden. Es liegt auf der Hand, dass Kindeswohlgefährdungen hier nicht ausgeschlossen werden können.
Mehrwert der neuen Regelungen ist fraglich
Bei den Rückkehrverfahren von abgelehnten Asylantragstellenden, die ebenfalls als Grenzverfahren unter der Fiktion der Nichteinreise durchgeführt werden, bleibt ungeklärt, wie die Betroffenen tatsächlich rückgeführt werden sollen. Nach wie vor nehmen zahlreiche Staaten ihre Staatsangehörigen nicht zurück, insbesondere dann, wenn die Staatsangehörigkeit nicht eindeutig geklärt ist.
Wie all diese Verfahren an der EU-Außengrenze durchgeführt und gleichzeitig EU-Asyl- und Menschenrechtsstandards in der Praxis eingehalten werden sollen, bleibt weitgehend offen. Insbesondere die Einhaltung von geltenden Verfahrensgarantien wirft Fragen auf. Es ist zu befürchten, dass die Standards bei der Prüfung von Schutzgesuchen in der EU so stark abgesenkt werden, dass faire Verfahren nicht sichergestellt werden können. Es kann bereits jetzt davon ausgegangen werden, dass der Zugang zu rechtlicher Beratung und Vertretung in abgelegenen Gebieten deutlich erschwert sein dürfte.
Überdies bleibt unklar, wie angemessene Aufnahmestandards gewährleistet werden. Die menschenrechtlichen Herausforderungen in Aufnahmelagern an den EU-Außengrenzen sind immens. Das haben zahlreiche Beispiele in der Vergangenheit gezeigt. Je mehr Menschen ankommen und je länger sie sich in den Aufnahmezentren aufhalten müssen, desto prekärer werden die Lebensumstände. Ein verpflichtender Solidaritätsmechanismus soll das verhindern. Doch dieser ist flexibel ausgestaltet, so dass die Mitgliedstaaten wählen können, ob sie bei sogenanntem Migrationsdruck ihre Solidarität durch die Aufnahme von geflüchteten Menschen oder durch finanzielle Beiträge zeigen wollen. Einige Staaten haben bereits angekündigt, dass sie keine Personen übernehmen werden.
Abschiebung in vermeintlich sichere Drittstaaten wird möglich
Eine der gravierendsten Neuregelungen ist, dass die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auch über die EU-Grenze hinaus verlagert werden kann. Dies war zwar bislang auch schon möglich, doch Art und Ausmaß haben sich drastisch verändert. Schutzsuchende sollen ohne inhaltliche Prüfung ihrer Fluchtgründe in als sicher deklarierte Staaten außerhalb der EU abgeschoben werden können. Hierbei kann es sich um Drittstaaten handeln, in denen Schutzsuchende nicht in allen Landesteilen sicher sind oder in denen bestimmte Personengruppen nicht sicher sein können. Dies umfasst potenziell auch solche Staaten, die autokratisch regiert werden, und die den Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vollumfänglich sicherstellen.
Eine der Voraussetzungen ist, dass die Betroffenen über eine Verbindung zu einem Drittstaat verfügen, die es annehmbar erscheinen lässt, dass sie dorthin überstellt werden können. Selbst wenn Schutzsuchende aus einem Herkunftsstaat kommen, bei dem in der Regel die höchsten Schutzquoten verzeichnet werden, wie Syrien oder Afghanistan, soll es so möglich werden, in Drittstaaten abzuschieben. Künftig soll sogar ein Abkommen mit einem Drittstaat genügen, dem der Rat der EU mehrheitlich zustimmt, um diesen Staat als sicher zu erklären. Sogenannter effektiver Schutz wird als ausreichend erachtet.
Neue Erzählweise notwendig
Es ist klar, dass in der Politik Kompromisse notwendig sind. Allerdings nicht um jeden Preis. Menschenrechte bilden das Fundament des menschlichen Umgangs miteinander. Wenn begonnen wird, sie aufzuweichen, wird dies gravierende Folgen für das Zusammenleben aller Menschen haben, in Deutschland, Europa und der Welt. Bei allen Meinungsverschiedenheiten müssen sich jeder Einzelne und die Gesellschaft klar darüber werden, dass Migration kein Phänomen ist, dessen man sich einfach mit immer mehr Abwehrmaßnahmen, seien sie nur brutal genug, erwehren oder entledigen könnte.
Europa benötigt dringend eine neue Erzählweise, die Potenzial und Chancen von Migration wieder in den Vordergrund rückt. Nur so kann eine humane und menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik letztlich ihren Ausdruck auch in rechtlichen Regelungen finden. Grundverständnis und Werte in der Europäischen Union drücken sich auch und gerade im Umgang mit Migrant:innen und Geflüchteten aus. Sie zu entmenschlichen bedeutet, sich selbst zu entmenschlichen.