Lässt sich Nächstenliebe anordnen?
Im Sommer 2022 hatte Bundespräsident Steinmeier eine Debatte über eine soziale Pflichtzeit ins Rollen gebracht. Seit Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht und damit des Zivildienstes im Jahr 2011 gibt es zwar ein freiwilliges soziales Engagement für die Gesellschaft in Form von Bundesfreiwilligendienst (BFD) und Freiwilligem Sozialen Jahr (FSJ). Dennoch klagt der Sozialsektor über die fehlenden Hände, die durch den früheren Pflichtdienst vorhanden waren. "Freiwillig" ist in dieser Diskussion für die Caritas ein Kernbegriff, aber was bedeutet dies aus unterschiedlichen Perspektiven?
"Wir müssen uns fragen, was das eigentliche Ziel dieser Debatte ist", sagte Diözesan-Caritasdirektorin Esther van Bebber bei einem Digitaldialog des Diözesan-Caritasverbandes Paderborn mit Vertreterinnen und Vertretern aus Caritas, Politik und Freiwilligendiensten. Ein verpflichtendes Modell könne zwar die gesellschaftliche Anerkennung stärken und einer diverseren Gruppe von jungen Menschen soziale Berufe zugänglich machen. Trotzdem müsse man aber "das mildeste und geeignetste Mittel finden, um mehr Menschen für soziales Engagement und einen Beitrag zur Gesellschaft zu bewegen".
Aus politischer Sicht standen sich die Positionen von Dagmar Hanses MdL (Bündnis 90/ Die Grünen) und Carsten Linnemann MdB (CDU) gegenüber. Hanses befürchtet, dass mit einem Pflichtmodell eine "Sünde an der Zukunft der jungen Generation" begangen werde. Ein soziales Pflichtjahr wäre wohl schwer mit dem Recht auf freie Berufswahl zu vereinbaren und bedeute ein mögliches Belastungspotential für soziale Einrichtungen, die dann auch mit unmotivierten Menschen arbeiten müssten. Linnemann hingegen setzt klar auf ein Pflichtjahr, das er im Angebot ausweiten und auch in Vereinen, Katastrophenschutz oder Stiftungswesen ermöglichen würde. Auch die Möglichkeit zu berufsbegleitenden Lösungen über mehrere Jahre müsse mitgedacht werden, so dass die Einzelnen dies nicht als Pflicht, sondern als sinnstiftende Aufgabe wahrnehmen würden.
Attraktives Engagement
"Ein grundständiges Problem ist die fehlende Attraktivität in den Pflege- und Betreuungsberufen", sagte Andrea Asshauer vom Josefsheim in Olsberg für die Träger sozialer Angebote. Nur wenn die Möglichkeiten für soziales Engagement bunt, vielfältig und frei wählbar seien, seien sie auch attraktiv. Die oft beschriebenen "Klebeeffekte" junger Menschen, die durch ein FSJ oder den BFD im sozialen Bereich verblieben, beschreibt Patrick Wilk, Vorstand des Caritasverbandes Paderborn, dagegen als lediglich "kollateralen Nutzen". Wenn in einer Gesellschaft keine Bereitschaft für Solidarität da sei, würden einige Menschen nicht mehr klarkommen. Deswegen plädiere er für einen Pflichtdienst, der aber finanziell fair, gesellschaftlich akzeptiert und mit klarer Haltung zu generationenübergreifender Solidarität gestaltet werden müsse.
Gegen einen Pflichtdienst positionierten sich in der Diskussion durchweg die Freiwilligendienstleistenden selbst. Eine Pflicht wirke sich demotivierend auf die eigene Haltung aus, sagte Marie Jolie Gossing, zurzeit als Bundesfreiwillige im Krankenhaus tätig. "Jeden zu seinem Glück zwingen" ist auch für Jonas Niemczyk (FSJ) keine Option. "Soziales Engagement, das sind für mich schöne Erfahrungen mit einer guten qualitativen Begleitung." Beides sei mit Zwang und mangelnder personeller Ausstattung der Einrichtungen im Pflichtfall nicht möglich.