Digitalisierung trifft Wohnungslose
Leipzig an einem sonnigen Märztag. In der Bahnhofsmission stehen schon morgens um die 20 Menschen Schlange, um sich einen Kaffee oder Tee zu holen. Etwas außer Atem kommt David Huber ins Büro von Leiterin Sophie Wischnewski. "Die haben mich wieder weggeschickt", sagt der 33-Jährige, der in Wirklichkeit anders heißt, und lässt sich auf einen Stuhl sinken. Mit "die" meint er das Jobcenter, wo er mit seiner zuständigen Sachbearbeiterin sprechen wollte.
Für manche sind die Hürden im Alltag jetzt noch größer
Seit 2020 ist es schwer geworden, einfach ohne Termin aufs Bürgeramt, zum Jobcenter oder zu anderen Institutionen zu gehen. Die Pandemie hat die Digitalisierung stark vorangetrieben - was früher persönlich ging, ist heute nur noch online möglich. Die Digitalisierung bringt viele Vorteile für Menschen, die Zugang zur Technik haben. Für Menschen wie David Huber, die in prekären Verhältnissen leben und weder die technische Ausstattung noch die nötige Kompetenz besitzen, um sich in der digitalen Welt zurechtzufinden, sind die Hürden im Alltag jedoch noch größer geworden. Diese digitale Spaltung stellt auch Sophie Wischnewski fest. Gemeinsam mit drei weiteren hauptamtlichen Sozialarbeiter:innen und 62 Ehrenamtlichen kümmert sich die 31-Jährige täglich um etwa 100 Menschen. Neben Reisehilfen nimmt auch die Wohnungsnothilfe einen Großteil der Arbeit ein. Seit der Coronapandemie hat sich die Tätigkeit in der Bahnhofsmission noch einmal grundlegend verändert: Die Besucherzahlen haben sich verfünffacht, Reisehilfen sind weniger geworden. Dafür kommen nun viel mehr wohnungslose Menschen als früher. Viele Gäste benötigen Hilfe bei Angelegenheiten, die sie online regeln müssen. Da sie selbst aber oft keinen oder nur eingeschränkten Zugang zum Internet haben, keinen Computer besitzen, suchen sie Hilfe in der Bahnhofsmission. "Wir helfen bei Anträgen beim Jobcenter, vereinbaren Termine beim Bürgeramt, helfen bei der Wohnungssuche, beim Online-Banking oder schreiben Bewerbungen mit den Klienten. Die meisten unserer Gäste haben auch keine E-Mail-Adresse, also versenden wir die Anträge über unsere E-Mail-Konten", erzählt Sophie Wischnewski.
Während die Sozialarbeiter:innen in der Bahnhofsmission sich um Anträge und andere Belange von wohnungslosen Menschen kümmern, sind viele Ehrenamtliche dort im Einsatz, die sich mit den Gästen unterhalten, ihnen Getränke ausschenken oder Kleidung ausgeben. Karola Geßner, 74 Jahre, ist eine von ihnen. Seit vier Jahren kommt sie jeden Donnerstag, hilft Menschen am Bahnhof beim Umsteigen und hat immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Gäste. "Ohne unsere Ehrenamtlichen würde die Arbeit hier nicht funktionieren", sagt Sophie Wischnewski.
Immer mehr junge Ehrenamtliche
Die Coronapandemie hat nicht nur die tägliche Arbeit verändert, sondern auch zu einem Generationswechsel in der Bahnhofsmission Leipzig geführt. Während sich zuvor vor allem Rentnerinnen und Rentner ehrenamtlich engagiert haben, sind nun die meisten Engagierten um die 20 Jahre alt. Viele Ältere sind aus Gesundheitsgründen während der Pandemie zu Hause geblieben und nicht mehr in ihr Ehrenamt zurückgekehrt. Ein herber Einschnitt für die Bahnhofsmission, die auch in der Coronazeit täglich geöffnet war. "Doch plötzlich haben sich ganz viele junge Menschen bei uns gemeldet, die keine Freizeitmöglichkeiten mehr hatten und bei uns arbeiten wollten. Viele von ihnen haben Freunde oder Studienkollegen mitgebracht. Das war wie ein Lauffeuer", sagt Wischnewski.
Einer, der auch während der Coronazeit geblieben ist, ist Harald Sieber. Der 80-Jährige ist seit 20 Jahren ehrenamtlich in der Bahnhofsmission tätig und damit auch der Dienstälteste. Morgens ist er oft der Erste: "Dann lüfte ich die Räume und schreibe die Aufträge für Reisehilfen", sagt der ehemalige Elektriker. Heute hat er einer blinden Frau beim Umsteigen in den Zug nach Dresden geholfen. Aber auch die Ausgabe von Kleidung, Kaffee und Essen gehört dazu. Mit der Digitalisierung kann Harald Sieber nicht viel anfangen. "Ich vermeide das Internet. Das machen hier unsere jungen Leute."
Ein geschützter Ort, um online zu sein
David Huber wischt mit seinem Zeigefinger über das zersplitterte Display seines Smartphones. Den Rucksack und sein Handy hat er immer dabei. "Da habe ich alles drauf. Meine Passwörter und Telefonnummern. Aber es wurde mir auch schon ein paar Mal geklaut", erzählt der Thüringer, der am liebsten Spiele auf dem Smartphone spielt. Seit seinem zwölften Lebensjahr konsumiert er Crystal Meth, seit acht Jahren lebt er auf der Straße. Sein aktuelles Zuhause ist derzeit ein Zelt unter einer Brücke, das er sich mit einem Kumpel teilt. Für seine Zukunft wünscht er sich einen Job und eine Wohnung. Bei der Suche unterstützen ihn die Sozialarbeiter:innen der Bahnhofsmission, die mit ihm auch Online-Bewerbungen schreiben. Von der zunehmenden Digitalisierung hält David nicht viel: "Ich find’s kontraproduktiv, weil wir nicht online gehen können. Wir bräuchten Möglichkeiten, wo wir auch im Winter im Warmen ins Internet gehen können."
David hat wie viele andere wohnungslose Menschen zwar ein Smartphone mit mobilem Internet, aber das Datenvolumen ist schnell aufgebraucht. Dann geht er an Orte in Leipzig, wo er kostenlos WLAN nutzen kann, allerdings unter erschwerten Bedingungen: "Am Marktplatz gibt es WLAN, aber dort ist es im Winter zu kalt, und im Bahnhof vertreibt mich die Polizei." Auch das Laden seines Smartphones muss er planen: "Ich habe eine Powerbank, die ich immer hier in der Bahnhofsmission anstecke. Jeden Abend hole ich mir diese ab und lade damit mein Handy."
Auch Senioren holen sich bei der Bahnhofsmission Hilfe
Doch nicht nur wohnungslose Menschen wie David Huber sind offline, sondern auch viele Ältere. Immer wieder kommen Seniorinnen und Senioren in die Bahnhofsmission, die zum Beispiel Hilfe bei der Stromkostenabrechnung benötigen oder online einen Antrag auf Wohngeld stellen möchten. Sie können mit der Digitalisierung nicht Schritt halten. Dann vermitteln die Mitarbeitenden sie weiter an die Caritas-Seniorenberatung oder das Caritas-Seniorenbüro mit Treff, wo sich Ältere digital weiterbilden können. Wischnewski befürchtet, dass die digitale Spaltung in der Gesellschaft noch größer werden wird: "Ich glaube, wir stehen erst am Anfang. Es bräuchte auch viel mehr niedrigschwellige Angebote für wohnungslose Menschen, damit sie ebenfalls von der Digitalisierung profitieren können."
Es ist bereits früher Nachmittag in der Bahnhofsmission. David sitzt bei Sophie Wischnewski am Schreibtisch, die nun mit der zuständigen Sachbearbeiterin beim Leipziger Jobcenter telefoniert. Gute Nachrichten für David - sein Antrag ist bereits genehmigt. In ein paar Tagen bekommt er seinen Bescheid per Post zugeschickt.