Das Leben geht weiter
Im Park sonnen sich hübsche Mädchen, Kinder planschen am Brunnen, höchste Zeit für ein Eis. Chuck T. (33) möchte auch eins. Einfach zum Kiosk schlendern, den Geldbörse zücken, wählen und "Waldbeersahne" bestellen - das wollte Chuck gerne, aber das geht jetzt nicht mehr. Student der Geschichte, E-Gitarren-Spieler, leidenschaftlicher Mountainbikefan, wild und jung: Chuck stand die Welt offen als ihn vor vier Jahren eine Autofahrerin zu spät sah. Mit schweren Schädelverletzungen kam er in die Klinik, lag monatelang im Koma. Er ist immer noch Gitarrenfan, kann aber nicht mehr spielen. Kein Gedanke mehr ans Mountainbike: Seine linke Körperhälfte ist gelähmt, der rechte Arm gehorcht ihm, aber wegen seinen Spasmen kann er nicht viel damit tun. Nicht einmal das Eis auspacken. Voll Verzweiflung trat er seinen Rollstuhl kaputt, als er vor drei Jahren wieder wach war: Kraft und Wut stecken immer noch in ihm.
Die unbekannte Realität entdecken
"Mister T., hier kommt Ihr Eis. Waldbeersahne. It’s ok?" Es kommt in der Hand von Kai Schafhausen (39). Schafhausen, als Dozent in der Erwachsenenbildung tätig, verbringt seit drei Jahren einmal in der Woche ein, zwei Stunden mit Chuck T. Jede Woche. Er hat unterschiedliche Arbeitszeiten und hatte "einfach etwas Zeit übrig. Ich wollte etwas tun, egal was." So lernte er eine ganz unbekannte Realität direkt neben der gewöhnlichen kennen. Es war nicht leicht für Kai Schafhausen, sich in Chucks Welt hineinzufinden: Eine Welt, in der man 22 Stunden am Tag liegt und wechselweise die Decke, die Wand oder die gegenüberliegende Wand anschaut. Die Pflegekräfte des St. Carolushauses, wo Chuck lebt, betten ihn pünktlich wie die Uhr um, damit er sich nicht wundliegt. In dieser Welt ist Verschlucken lebensgefährlich und Trinken oder Essen hochkompliziert. Denn Chucks Nachbarn haben Trachealkanülen, Schlauchzugänge in die Luftröhre zur Beatmung und zum Absaugen: Sie können nicht einmal alleine abhusten. Auch Chuck hatte so einen Apparat am Hals - bis er ihn herausriss, der wieder erwachte ungeduldige junge Mann.
Ausgiebig und geduldig Zeit schenken
Gisela Allert leitet seit fünf Jahren die Wachkomastation des St. Carolushauses. Das ist eigentlich ein Altenpflegeheim. Aber wo kann man junge Menschen, die schwere Kopfverletzungen überlebt haben, unterbringen? In Spielfilmen wie "Während Du schliefst" wachen Komapatienten einfach nach Monaten oder Jahren wieder auf, erkennen alle und alles sofort wieder, stehen auf und leben weiter, als wäre nichts gewesen. Das sind leider romantisch-naive Märchen: "In der Realität sind Komapatienten oft dauernd schwerst pflegebedürftig, nicht ansprechbar, nicht alleine lebensfähig." Im Krankenhaus sind sie dennoch fehl am Platz, weil von ärztlicher Seite aus alles für sie versucht und geleistet wurde. Also nach Hause oder ins Pflegeheim, wo neben der physischen Pflege Musik- oder Kunsttherapie eingesetzt wird: "alles, was Sinne wie hören, sehen, riechen oder tasten fördert." Nötig ist aber auch der kontinuierliche menschliche Kontakt, das Sprechen auch mit jemandem, der nicht antworten oder auch nur zeigen kann, dass er versteht und wahrnimmt, der Händedruck. Auch die Angehörigen der Komapatienten sind damit oft rein zeitlich überfordert. "Dafür brauchen wir auch freiwillige Mitarbeiter," erklärt Gisela Allert, "denn unsere Pflegekräfte können einzelnen Hausbewohnern nicht so ausgiebig und geduldig Zeit schenken." So ausdrucks- und willensstark trotz aller Einschränkungen wie Chuck T. ist kaum ein anderer Bewohner der Wachkomastation im St. Carolushaus.
Wie ein Abenteuer zwischen Kanülen und Schläuchen
Trotzdem war es für den Freiwilligen Kai Schafhausen anfangs abenteuerlich: "Als studierter Betriebswirt würde ich sagen: Mein Engagement hier ist ein ‚sehr erklärungsbedürftiges Produkt’", scherzt Schafhausen. In der Welt der Kanülen, Schläuche, Patientenakten "wusste man anfangs nie, was los war, wenn’s gepiept hat." Inzwischen kennt er sich aus und sieht es gelassener, auch dank der Fortbildung, die ihm wie den anderen Ehrenamtlichen ebenso angeboten wird wie ein Gartenfest oder die Neujahrsfeier. So sagt das St. Carolushaus Danke für den Dienst, der Kai mit Chuck verbindet. "Jetzt haben wir eine Freundschaft und Vertrautheit, die auch hält." Dem Pflegeteam ist die Einschätzung von Kai Schafhausen inzwischen so wichtig, dass er zu Teamsitzungen miteingeladen wird.
Kommunikation auch ohne Worte
Das Eis ist kalt, Chuck verzieht das Gesicht. "Mann oder Memme?" fragt Kai. "Mann", erwidert Chuck. Auch dieser Dialog gehört zum rituellen Eisessen. "Am Anfang habe ich mal nach dem Eisessen die Waffel weggeworfen, da ist Chuck ausgeflippt", berichtet Kai: Ohne Waffel kein Genuss.
Was machen wir heute noch? Gemeinsam schielen? Ja, klappt prima. Jetzt werden noch die Mützen getauscht. Gar nicht einfach, die Basecap dem Kai über den Kopf zu stülpen, obwohl der ganz ruhig hält. Für Chuck ist das Leben seit dem Aufwachen mühsam und anstrengend. Auch die freundliche Aufforderung, den Kopf geradezuhalten, ist nach einer halben Stunde nicht mehr einfach so zu erfüllen. Im Rollstuhl geht es vom Park zurück in den Garten des Pflegeheims. "Zur Stärkung noch ein Stück Kuchen?" Wer genau hört, kann Chucks "Yeah" verstehen. Danach wartet der Aufzug und dann im Zimmer Stings Musik. Wenn Kai Schafhausen die CD einlegt und den Startknopf drückt.