30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention
Kürzlich, im Zug, fragte ich den siebenjährigen Max, der mit seiner Mutter und seinem Bruder zugestiegen war, welche Rechte Kinder denn haben müssten, damit es gerecht in der Welt zugehe. "Ich will selbst bestimmen können!", war die Antwort.
Max wächst in einer Welt auf, die man landläufig als "heil" bezeichnet. Er hat zwei Geschwister, Eltern, die beide berufstätig sind und ihm vorlesen, Freunde, mit denen er Fußball spielt. Er besucht eine Gemeinschaftsschule, in der er individuell gefördert wird und die Schulkultur mitprägen kann. Er wird ermuntert, seine Meinung zu sagen, und ernst genommen. Er berichtet, dass er in der Projektwoche, in der die Kinder für eine Woche die Schulsitten von Anfang des 19. Jahrhunderts nachstellten, eine Uniform tragen musste, kleinste Fehler sanktioniert wurden und er als "Esel" vor dem Rest der Klasse bloßgestellt wurde. An Max’ Geschichte lässt sich der lange Weg ablesen, den wir im Hinblick auf Menschen- und Kinderrechte in den letzten hundert Jahren gegangen sind, doch auch der Weg, der noch vor uns liegt.
Einer der größten Meilensteine, die wir erreicht haben, ist die vor 30 Jahren von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK). Ihre Vorläufer jedoch sind wesentlich älter. Dabei waren es vor allem Haltungen und Einsichten, die es ermöglichten, Rechte zu formulieren, wie zum Beispiel jenes, Kinder bei allen Entscheidungen zu beteiligen, die sie betreffen.1
Kinder haben Rechte und Würde
Hierzu bedurfte es erst einmal der Einsicht, dass die Kindheit einen eigenen Lebensabschnitt mit besonderen Bedürfnissen darstellt. Diese hat sich in unserem Kulturkreis während der Aufklärung herausgebildet.2 Und noch viel grundlegender: Damals wurde langsam(!) das Bewusstsein dafür geweckt, dass Kinder nicht der Besitz ihrer Eltern, sondern Menschen mit eigener Würde sind. Die rechtebasierte Untermauerung dieser Einsicht hatte allerdings eine längere Reifezeit.
Zunächst war es vor allem der Schutzgedanke, der bei den Forderungen zur Schaffung konkreter Kinderrechte im Vordergrund stand. Am 20. November 1959 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Erklärung der Rechte des Kindes, in der über den Kinderschutz hinausreichende Rechte benannt wurden. Dabei handelte es sich um eine unverbindliche Empfehlung. Mitbestimmung oder Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sowie einklagbare Rechte kannte sie noch nicht.3 Von dieser Erklärung bis zur Verabschiedung verbindlicher und durchsetzbarer Rechte war es noch immer ein steiniger Weg.⁴ Widerstände gegen eine explizite Verankerung von Kinderrechten gab es aus vielen Gründen: Es wurde beispielsweise befürchtet, dass Elternrechte beschnitten würden.⁵
Der Herbst 1989 war für mehrere Wunder gut: Kurz nach dem Mauerfall wurde die UN-KRK mit ihren ausformulierten Rechten von Kindern als völkerrechtlicher Vertrag verabschiedet. Inzwischen haben sie alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen mit Ausnahme der USA ratifiziert, was sie formell zur „erfolgreichsten" aller UN-Konventionen macht.
30 Jahre später wissen wir: Mit der rechtsverbindlichen Verankerung hat sich einiges bewegt in der Umsetzung der Kinderrechte, und es bleibt viel zu tun. Am Recht auf Beteiligung6 lässt sich dies gut aufzeigen. So wurden auf Grundlage der UN-KRK seit Anfang der 90er-Jahre Kinderparlamente und Kinderbüros etabliert.7 In Verfahren nach dem SGB VIII, vor allem in Hilfeplanverfahren, werden Kinder einbezogen und von den Familiengerichten werden sie eher angehört. In Schulen gibt es durchgängig Schüler(innen)-Vertretungen, und Schüler(innen) erhalten mehr Mitspracherechte. In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe werden zahlreiche Entscheidungen im Dialog ausgehandelt. Es werden Leuchtturmprojekte durchgeführt, wie zum Beispiel unter dem Dach des Bundesprogramms „Demokratie leben!"8 oder die jährlichen Caritas-Jugendforen der Diözesanverbände Freiburg und Rottenburg-Stuttgart, die komplett von Jugendlichen geplant und moderiert werden.9 Das Wahlalter bei Kommunalwahlen wurde in vielen Ländern auf 16 Jahre gesenkt.
„Fridays for Future"-Bewegung zeigt: Jugendliche bestimmen mit
Dass die Haltungsänderung Kindern und Jugendlichen gegenüber vieles im gesellschaftlichen Miteinander der Generationen und der Mitbestimmung auf kleiner und auch auf politischer Ebene bewegt hat, zeigt die „Fridays for Future"-Bewegung. Aufgrund der Interventionen der Kinder werden die Reiseziele des nächsten Urlaubs oder die Einkaufszettel verändert. Jugendliche organisieren weltweite Massendemonstrationen und setzen politische Entscheidungsträger unter Druck.
Die Erfolge der Konvention rechtfertigen allerdings keineswegs ein Ausruhen. Herausforderungen wie die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen, Armut und die ungerechte Verteilung der Bildungs- und Teilhabe-Chancen, Krieg und Vertreibung sowie die „digitale Revolution" rufen nach dem Schutz von Kindern und Jugendlichen, vor allem aber nach deren Empowerment. Hierzu bilden die Kinderrechte und insbesondere Beteiligungsrechte eine wesentliche Grundlage.
Der Soziologe Lothar Krappmann merkt an: „[…] Ich glaube, die Radikalität und die Weisheit dieser Rechtskonstruktion ist weithin noch nicht begriffen worden […]"10 In dem am 22. Oktober 2019 veröffentlichten Ergänzenden Bericht der Zivilgesellschaft an den UN-Kinderrechtsausschuss11 und dem Gutachten der Juristin Friederike Wapler zur Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland12 finden sich umfassende Belege für die Defizite bei der Beteiligung von Kindern, aber auch Hinweise für die weitere Arbeit. Um die Umsetzung der Kinderrechte zu fördern, wäre es zu begrüßen, wenn in Präzedenzverfahren Rechte der UN-KRK gerichtlich geltend gemacht würden bis hin zu der seit 2014 möglichen Individualbeschwerde zum UN-Kinderrechtsausschuss. Für die tägliche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen finden sich wertvolle Umsetzungshilfen zum Beispiel in der Leitlinie zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in den Einrichtungen und Diensten der Caritas13 und in den Leitsätzen der Anerkennung auf Basis der UN-KRK von Sascha Wenzel14.
Anmerkungen
1. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien. Berlin, 2018.
2. Maywald, J.: UN-Kinderrechtskonvention: Bilanz und Ausblick. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. 2010. Kinderrechte, Seiten 8–15.
3. Text: siehe Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: a. a. O. (2019, Seiten 35 ff.).
4. Krappmann, L.: 25 Jahre UN-Kinderrechtskonvention – Rückblick und Ausblick. Karlsruhe, 2014.
5. Ebd.
6. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: a. a. O.
7. Hohmann-Dennhardt, C.: Die Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention für die deutsche Rechtsprechung. Karlsruhe, 2014, Seite 9 ff.
8. Vgl. www.ktk-bundesverband.de/unserangebotunserearbeit/projekt-demokratie-in-kinderschuhen/das-projekt
9. Siehe www.dicvfreiburg.caritas.de/aktuelles/caritas-jugendforum-2019
10. Krappmann, L.: a. a. O.
11. www.umsetzung-der-kinderrechtskonvention.de
12. Wapler, F.: Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland. Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Mainz, 2017.
13. Referat Kinder- und Jugendhilfe der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes e.V.: Leitlinie zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in den Einrichtungen und Diensten der Caritas.
14. Reinfrank, T.: Kinderrechte als Instrument zur Prävention von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. In: Krappmann, L.; Petry, C. (Hrsg.): Reihe Kinderrechte und Bildung. Band 2: Worauf Kinder und Jugendliche ein Recht haben. Kinderrechte, Demokratie und Schule: ein Manifest. Schwalbach/Taunus: debus Pädagogik, 2016, Seiten 101–115.
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