An der Verfassung liegt es nicht!
„Kinderrechte müssen endlich im Grundgesetz verankert werden!" Dieser Ruf ist jüngst wieder zu hören. Doch bevor man am Grundgesetz herumdoktert, sollte man innehalten und noch mal nachdenken. Die Grundrechte von Kindern sind im Grundgesetz verankert – seit 1949. Wie für alle Menschen gelten auch für Kinder die Garantie der Menschenwürde, das Recht auf Leben, auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Meinungsfreiheit und der Gleichheitsgrundsatz, um nur einige zu nennen.
Moniert wird, dass der Begriff des Kindeswohls nicht im Grundgesetz steht. Vordergründig trifft dies zwar zu. In Artikel 6 heißt es: "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." Aber niemand kann ernsthaft bestreiten, dass das Kindeswohl die entscheidende Maxime ist, um diese Verfassungsnorm auszulegen. Das Elternrecht ist im Verhältnis zum Recht der Kinder ein "dienendes Recht", es ist ihrem Wohl verpflichtet.
Vermutlich würden die Mütter und Väter des Grundgesetzes Artikel 6 heute anders formulieren. Aber das gilt für viele andere Passagen auch. Aus guten Gründen schreiben wir unsere Verfassung nicht ständig um, damit sie stets die neuesten Denk- und Sprachgewohnheiten unmittelbar zum Ausdruck bringt. Haltlos ist auch die Behauptung, erst nach einer Grundgesetzänderung könne die UN-Kinderrechtskonvention bei uns Wirkung entfalten. Sie ist in Deutschland geltendes Recht, zudem ist die Verfassung im Lichte unserer internationalen Verpflichtungen auszulegen.
Es besteht die Gefahr, dass unser Grundgesetz diskreditiert wird
Nun ja, könnte man sagen: Vielleicht ändert sich nicht so viel, aber schaden würde es ja auch nichts. Doch. Eine Grundgesetzänderung, die keine rechtliche Wirkung entfaltet, entwertet die Verfassung. Zudem besteht die Gefahr, dass unser Grundgesetz diskreditiert wird. Es schützt die Rechte von Kindern umfassend, und nur wer dies zumindest subtil leugnet, kann wirksam für eine Änderung mobilisieren.
Schädlich ist auch, wenn Illusionen verbreitet werden. Zweifelsohne gibt es Defizite: Zu viele Kinder verlassen die Schule ohne Abschluss. Hilfen greifen häufig erst dann, wenn Notlagen sich verfestigt haben. Frühe Hilfen scheitern vielerorts an ungelösten Konflikten zwischen den Kostenträgern. Nur: Was ändert daran ein ausdrücklicher Hinweis in der Verfassung auf Kinderrechte, die ohnehin schon in ihr enthalten sind? Das Grundgesetz kann Bildungspolitik oder Sozialpolitik nicht ersetzen. Es ist unsere oberste rechtliche Norm und kein Spielfeld für symbolische Aktionen. Das gebietet der Respekt vor unserer Verfassung.