Zwischen Ruhestandswelle und Ausbildungsoffensive
Kaum scheinen die größten Herausforderungen der Covid-19-Pandemie überwunden, ist auch das Sozial- und Gesundheitswesen mehr denn je mit dem Schlüsselthema des Fachkräftemangels konfrontiert.1 Für dessen Bewältigung gelten zwei Faktoren als mitentscheidend: die nachhaltig erfolgreiche Gewinnung von neuen Auszubildenden und Beschäftigten sowie die Entwicklung von Personalabgängen. Bei Letzterer spielt insbesondere der Ruhestand der geburtenstarken sogenannten Babyboomer-Generation eine wichtige Rolle. So lässt sich von einer "riesigen Ruhestandswelle" des Menschen helfenden Personals sprechen. Gleichzeitig wachsen professionelle Pflege- und Unterstützungsbedarfe in einer alternden Gesellschaft weiter an, was sich in einer "doppelten demografischen Herausforderung" zuspitzt.2 Befragungsdaten des Caritaspanels 2022 zeigen das personaldynamische Geschehen in den Betrieben der Caritas. Hiermit werden aktuelle organisationsweite Problemfelder und Lösungsansätze aus den Angaben von 262 Rechtsträgern mit insgesamt 2300 Betrieben und 94.000 Beschäftigten herausgearbeitet. Das Teilnahmefeld verteilt sich dabei repräsentativ auf sämtliche Hilfebereiche und Regionen der Caritas.
Stellenbesetzung verkompliziert sich
Neun von zehn (91 Prozent) Rechtsträgern bewerten eine erschwerte Fachkräftegewinnung auf dem Arbeitsmarkt als zentrales Personalproblem. Dieser Anteil ist seit der letzten Erhebung aus dem Jahr 2020 um über zehn Prozentpunkte angestiegen. Mehr als drei Viertel (77 Prozent) der Rechtsträger melden zurück, dass sie sich von Personalmangel herausgefordert sehen. Dies bedeutet einen erheblichen Anstieg um 32 Prozentpunkte seit 2020. Auch hohe Vertretungsbedarfe und Fehlzeiten (genannt von 58 Prozent; plus 18 Prozentpunkte) sowie Personalfluktuation (genannt von 37 Prozent; plus 17 Prozentpunkte) gewinnen in der Problemeinschätzung der Caritas-Rechtsträger an Bedeutung.
Analog dazu kann eine Verdoppelung der Nichtbesetzungsquote angebotener Stellen (ohne Ausbildungsplätze) beobachtet werden (siehe Abbildung 1).
Demnach bleibt derzeit ein Viertel (24 Prozent) der ausgeschriebenen Tätigkeiten unbesetzt. Der Wert ist gegenüber 2020 um zwölf Prozentpunkte und gegenüber 2016 sogar um 16 Prozentpunkte angewachsen. Danach befragt, weshalb Arbeitsstellen nicht besetzt werden konnten, geben 80 Prozent der Rechtsträger an, dass keine geeigneten Bewerbungen eingegangen sind. Der Anteil zeigt sich gegenüber 2020 nahezu unverändert. Zwei Drittel (68 Prozent) melden zurück, dass zumindest für manche der offenen Stellen gar keine Bewerbungen eingegangen sind. Für diese Kategorie ist ein Anstieg um 38 Prozentpunkte festzustellen, so dass sich der Anteil mehr als verdoppelt hat. 36 Prozent der Rechtsträger geben als Nichtbesetzungsgrund an, dass Bewerber:innen die ihnen angebotene Stelle abgelehnt haben. Der Anteil hat sich mit einem Plus von 28 Prozentpunkten fast verfünffacht. Passend dazu betonen 88 Prozent der Befragten, dass sich die Bewerbungssituation in den letzten beiden Jahren verschlechtert hat. Zwölf Prozent nehmen keine Veränderung wahr, während kein einziger Rechtsträger eine Verbesserung feststellen konnte. Somit kann durchaus von einer alarmierenden Entwicklung bei der Stellenbesetzung die Rede sein.
200.000 Abgänge durch Ruhestand stehen bevor
Flankiert wird die verkomplizierte Personalgewinnung durch die weiterhin recht hohe Altersstruktur der Belegschaft (siehe Abbildung 2).
Lediglich acht Prozent der Caritas-Mitarbeitenden sind jünger als 25 Jahre. Insgesamt sind 35 Prozent der Mitarbeitenden unter 40 Jahre, 65 Prozent hingegen mindestens 40 Jahre alt. Der Anteil Beschäftigter ab 55 Jahren erreicht mit 30 Prozent einen neuen Höchstwert seit Erhebungsbeginn im Jahr 2016. Der damalige Anteil wird um sieben Prozentpunkte überschritten.
Überträgt man den aktuellen Anteil an älteren Mitarbeitenden auf die insgesamt fast 700.000 Beschäftigten der Caritas, werden hiervon rund 200.000 in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand wechseln. Mit dieser empirischen Prognose kann die unmittelbar bevorstehende Ruhestandswelle im Sozial-, Gesundheits- und Erziehungswesen untermauert werden. Es ist davon auszugehen, dass der Faktor Ruhestand in der Verteilung der Personalabgangsgründe an Gewicht gewinnen wird. So sind gegenwärtig sieben Prozent der Abgänge mit regulärem sowie zwei Prozent mit vorzeitigem Eintritt in den Ruhestand zu verbinden. Die Werte sind seit 2020 nicht angestiegen und liegen (noch) deutlich unter jenen der Hauptgründe für ein Ausscheiden von Mitarbeitenden. In zwei von fünf Fällen (39 Prozent) geht eine arbeitnehmerseitige Kündigung
voraus. Gegenüber 2020 hat sich der Anteil um zwei Prozentpunkte leicht erhöht. 18 Prozent der Personalabgänge hängen mit dem Ablauf befristeter Beschäftigungsverhältnisse zusammen. Dieser Wert zeigt sich in Relation zur letzten Befragungsrunde konstant, unterschreitet den 2016 gemessenen Anteil allerdings um drei Prozentpunkte. Jedes zehnte (zehn Prozent; minus drei Prozentpunkte) Ausscheiden geht aus einvernehmlicher Auflösung hervor, während acht Prozent (gegenüber 2020 unverändert) mit arbeitgeberseitiger Kündigung zusammenhängen. Zur Fachkräftesicherung könnte folglich insbesondere an jenen Abgangsmotiven angesetzt werden, die im Gegensatz zum regulären Ruhestand eher nicht als unvermeidbar gelten.
Ausbildungsangebot und Übernahmequote steigen
Dass Betriebe der Caritas den Bedarf zur (pro-)aktiven Gewinnung neuer Fachkräfte vielerorts erkennen, wird in der positiven Entwicklung der Ausbildungsbeteiligung deutlich. Bei der Ausbildungsberechtigungs-Quote zeigt sich, dass circa neun von zehn (87 Prozent) Rechtsträgern die gesetzlichen Voraussetzungen zur praktischen Berufsausbildung allein oder im Verbund erfüllen (siehe Abbildung 3). Dies bedeutet einen neuen Höchstwert sowie einen Anstieg um sieben Prozentpunkte gegenüber 2020.
Für die Ausbildungsaktivitäts-Quote ist zu berichten, dass sich der Anteil tatsächlich ausbildender an allen berechtigten Rechtsträgern um zwei Prozentpunkte auf 75 Prozent erhöht hat. Auch dieser Indikator war in keiner vorherigen Befragungswelle höher als derzeit ausgeprägt. Der Anteil Auszubildender an allen Beschäftigten beträgt sechs Prozent und verhält sich damit über den Zeitverlauf konstant.
Zudem lässt ein Vergleich der Datenlagen darauf schließen, dass teilnehmende Rechtsträger der Caritas im Ausbildungsjahr 2021/2022 um über 50 Prozent mehr Ausbildungsplätze als noch 2019/2020 angeboten haben. Insgesamt konnten 88 Prozent der angebotenen Ausbildungsstellen erfolgreich vergeben werden. Trotz Rückgang der Besetzungsquote um fünf Prozentpunkte bedeutet dies, dass von zehn angebotenen Plätzen nur einer unbesetzt bleibt. Nachdem sich die Aussichten auf eine Übernahme nach erfolgreichem Ausbildungsende bereits in den vergangenen Jahren kontinuierlich verbessert haben, ist für 2022 ein neuer Rekordwert zu verzeichnen. So wurden drei von vier (73 Prozent) Ausgebildeten direkt vom ausbildenden Rechtsträger eingestellt. Gegenüber 2020 ist die Übernahmequote damit um zwölf Prozentpunkte, seit 2016 sogar um 17 Prozentpunkte angewachsen. Zwei Drittel (65 Prozent) der ausbildenden Rechtsträger bieten darüber hinaus Sach- oder Geldleistungen neben der Ausbildungsvergütung an, um die Attraktivität ihrer Ausbildungsplätze zu steigern. Am häufigsten wird dabei auf mobilitätsförderliche Leistungen, zum Beispiel Kostenübernahmen für Führerschein und Fahrten (31 Prozent der Rechtsträger mit Zusatzangeboten; plus zwölf Prozentpunkte), Zuschüsse für Ernährung, Gesundheit und Sport (29 Prozent; plus fünf Prozentpunkte) sowie Sachleistungen wie Smartphones oder Gutscheine (19 Prozent; plus sieben Prozentpunkte) gesetzt.
Auch wenn der sich intensivierende Fachkräftemangel nicht allein über den Ausbildungsweg zu kompensieren ist, kann das Engagement zur hauseigenen Qualifizierung neuer Beschäftigter als eine der wichtigsten Bewältigungsstrategien in der Caritas eingeschätzt werden. Daneben gilt es weitere Optionen zu nutzen, um die Personalgewinnung zu sichern und als zentraler sozialer Arbeitgeber leistungsstark zu bleiben. Schwerpunkte liegen in diesem Zusammenhang vor allem auf qualifizierter Zuwanderung sowie strukturellen Verbesserungen der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie.3
Anmerkungen
1. Hickmann, H.; Koneberg, F.: Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken. In: IW-Kurzbericht 67/2022
2. Strube, J.: Sorge vor Verschärfung des Fachkräftemangels: Ärzteverbände warnen vor "riesiger Ruhestandswelle" (1.12.2022). In:Redaktionsnetzwerk Deutschland
3. Hickmann, H.; Koneberg, F., a. a. O.
Künstliche Intelligenz? Einfach mal tun!
Diesseits und jenseits der Rationierung
Im Wettbewerb um Fachkräfte zählt die Identität des Arbeitgebers
Zwischen Freizeit mit der Familie und extremer Arbeitsbelastung
Eine Anpassung von Standards darf kein Tabu sein
Zwischen Ruhestandswelle und Ausbildungsoffensive
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}