Mit Volldampf in die Verkehrswende: Mobil sein heißt dabei sein
Andreas, 59 Jahre. Vor zwei Jahren hatte er einen Schlaganfall, ist seitdem halbseitig gelähmt und arbeitsunfähig. Er ist froh, dass er inzwischen im Alltag wieder einigermaßen zurechtkommt. Das Geld ist knapp. Freunde hat er kaum mehr. Und die Kinder wohnen über 100 Kilometer entfernt. Autofahren ist keine Option - zu teuer und zu unsicher. Dank Bahnhofsmission Mobil, dem Begleitdienst der Bahnhofsmissionen im Regionalverkehr, kann er alle zwei Monate seine Kinder besuchen. Ein wichtiger Anker in seinem Leben.
Tanja, 33 Jahre, und Alex, 35 Jahre. Abwechselnd besuchen sie mit ihrem Baby und der vierjährigen Tochter mit dem Zug ihre Eltern. Eigentlich kein Problem. Aber bei Unregelmäßigkeiten und Verspätungen wird es alleine mit Kinderwagen, Gepäck und Kindern ganz schön anstrengend. Gut, dass sie beim Ein-, Aus- und Umstieg die freundliche Hilfe von Bahnhofsmissionsmitarbeitenden in Anspruch nehmen können. Und wenn der Anschluss weg ist, können sie mit ihren Kindern in der Bahnhofsmission warten - Spielecke, Wickel- und Stillmöglichkeit inklusive.
Immer mehr Menschen brauchen Unterstützung, wenn sie den Schienenverkehr nutzen wollen. Denn die demografische Welle rollt: Bereits 2030 werden fast 30 Prozent der Menschen in Deutschland über 60 Jahre sein. Mehr als jede dritte private Zugfahrt im Fernverkehr könnte dann von einer Seniorin oder einem Senior unternommen werden. Fast 20 Prozent der Menschen unter 75 Jahre sind aktuell in ihrer Mobilität eingeschränkt. Aber auch jüngere Menschen sind davon betroffen: Von den rund 7,9 Millionen Schwerbehinderten in Deutschland sind rund 40 Prozent im Alter zwischen 15 und 65 Jahren.
Auch für Familien mit Kindern ist eine Bahnfahrt oft eine Herausforderung. Zudem werden immer mehr Kinder allein auf die Reise mit der Bahn geschickt, um den getrennt lebenden Elternteil oder Opa und Oma in einer anderen Stadt zu besuchen. Wer sorgt dann im Falle von Verspätungen oder Unregelmäßigkeiten im Bahnverkehr für ihren Schutz? Konkret bedeutet das: Rund ein Drittel der Bevölkerung benötigt personelle Hilfe bei der Reise im Schienenverkehr. Und ihre Zahl wird in den nächsten Jahren deutlich steigen.
Bahnhöfe werden eine zentrale Rolle spielen
Klimafreundliche Mobilität ist ohne starke Schiene nicht zu haben. Bereits 2019 hat sich die Deutsche Bahn das Ziel gesetzt, die Fahrgastzahlen bis 2030 zu verdoppeln. Für die Bundesregierung ist klar, dass die international vereinbarten Klimaziele ohne Verkehrswende nicht zu realisieren sind. Es braucht also definitiv und kurzfristig ein Umsteuern vom Individual- zum öffentlichen Verkehr. Die Schiene und mit ihr die Bahnhöfe als Knoten modularer Verkehrskonzepte der Zukunft werden hier eine zentrale Rolle spielen.
Aber wie ist es mit der "Barrierefreiheit" im Schienenverkehr bestellt? Schon jetzt haben es Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, Handicaps oder wenig Erfahrung im Umgang mit digitaler Technik schwer, die Bahn zu nutzen. Auch wenn der barrierefreie Umbau der Bahnhöfe fortschreitet, ist für Betroffene eine Fahrt unmöglich, wo Rolltreppen oder Fahrstühle nicht funktionieren. Das bedeutet: Ein Teil der Bahnkunden wird dauerhaft auf personelle Unterstützung angewiesen sein. Und das nicht allein, weil digitale Buchungs- und Bezahlsysteme exkludierend wirken, nicht nur für ältere Menschen. Ohne helfende Hände und konkrete Ansprechpersonen in den Bahnhöfen und auch in den Zügen wird das Ziel einer "Mobilität für alle" nicht erreichbar sein. Mit der Konsequenz: keine Mobilität, keine Teilhabe.
Bahnhöfe haben nicht nur wichtige Funktionen im Verkehr. Sie sind gerade für einsame oder benachteiligte Menschen wichtige Treffpunkte. Denn sie bieten ihnen eine Möglichkeit, sich aufzuhalten, und sind oftmals Fixpunkte in ihrem Tagesablauf. Wie sieht es für sie aus, wenn die Infrastruktur der Bahnhöfe als Knoten modularer Verkehrssysteme mit erhöhtem Raumbedarf in den ohnehin schon beengten Innenstädten und durch den Zuwachs an Reisenden voraussichtlich aus allen Nähten platzt?
Damit Menschen mit Assistenzbedarf sicher unterwegs sein können
In der Konsequenz kann es zu Verdrängungseffekten kommen, die insbesondere Menschen ohne Reise- oder Konsumanliegen und damit besonders vulnerable Gruppen treffen. Deren Teilhabechancen werden dann weiter eingeschränkt. In dieser Situation gilt es sozialverträgliche Lösungen zu entwickeln, die auch ihre Interessen berücksichtigen.
Hier kommen die über 100 Bahnhofsmissionen in Deutschland ins Spiel. Seit ihrer Gründung kümmern sie sich um benachteiligte Menschen an den Bahnhöfen und wollen ihnen Chancen auf Partizipation und gerechte Lebensverhältnisse eröffnen. Ihr Ziel ist es, Menschen in jeglicher Hinsicht Teilhabe zu ermöglichen, sowohl unterwegs auf Reisen als auch im täglichen Leben. Sie bieten nicht nur Rückzugs- und Aufenthaltsräume für Menschen in Notlagen in den Innenstädten und im Bahnhofsquartier. Sie sind auch wichtige Partner, damit Menschen mit Assistenzbedarf sicher auf der Schiene unterwegs sein können. Die Mitarbeitenden helfen beim Ein-, Aus- und Umsteigen, geben Orientierung am Bahnhof, sind da, wenn Reisende in Not geraten. Und mit ihrem Angebot "Bahnhofsmission Mobil" unterstützen zahlreiche Bahnhofsmissionen auch bei Fahrten im Regionalverkehr. Aber auch in Notlagen und Krisen, die sich an Bahnhöfen bemerkbar machen, sind die Bahnhofsmissionen zur Stelle. Dies gilt beispielsweise bei unwetterbedingten Zugausfällen oder jüngst bei der großen Zahl ankommender Geflüchteter aus der Ukraine.
Ein erster wichtiger Schritt zu mehr klimafreundlicher Mobilität und verbesserten Teilhabechancen ist das für 2023 angekündigte Deutschlandticket für den öffentlichen Nahverkehr zum Preis von 49 Euro. Vom Vorgänger, dem Neun-Euro-Ticket, haben im Sommer 2022 bereits viele einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger profitiert, die sich vorher keine Bahnfahrt leisten konnten - mit wesentlichen Effekten für ihre Lebensqualität und Teilhabe. Damit das neue Deutschlandticket auch für Menschen mit wenig Geld erschwinglich wird, sollte ihnen dringend der Zugang über entsprechend gestaltete Sozialtarife und Arbeitgeberzuschüsse analog zum "Jobticket" erleichtert werden.
Mit Volldampf in die Verkehrswende: So überfällig solche Maßnahmen sind und so erfreulich für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen, so hinken doch die (infra)strukturellen Anpassungen den Neuerungen weit hinterher. Zu wenig Personal, zu wenig Züge, zu viele Verspätungen, zu wenig Aufenthaltsmöglichkeiten an Bahnhöfen und vieles mehr. Und dies ist nicht in Kürze zu beheben.
Barrierefreiheit allein reicht nicht
Gelingt es, das bundesweite Ticket zum Erfolg zu führen, so wird dies zunächst zu (über)vollen Zügen und Bahnhöfen führen. Damit werden erneut Menschen mit Assistenzbedarf auf der Strecke bleiben. Denn für sie bedeutet eine solche Situation schnell das Aus für eine Bahnfahrt. Soll die öffentliche Mobilität nicht nur klimafreundlich, sondern auch sozialverträglich gestaltet werden, ist ein gewaltiger Um- und Ausbau nicht nur der Infrastruktur, sondern auch von Serviceleistungen und personellen Hilfen an den Bahnhöfen und in den Zügen notwendig. Dabei gehen die Bedarfe vieler Menschen über eine rein technische Barrierefreiheit weit hinaus. Sie benötigen dringend konkrete persönliche Unterstützung.
Hier sind Bahnhofsmissionen bereits jetzt wichtige Partner nicht nur an den Bahnhöfen, sondern auch unterwegs. Sie machen sich mit ihrem zivilgesellschaftlichen Engagement seit Jahren durch konkrete Angebote für Reisende für mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit stark. Denn mobil sein heißt: dabei sein. Noch 2019 leisteten die Bahnhofsmissionen vor allem dank des Engagements von qualifizierten Ehrenamtlichen rund 350.000 Hilfen im Reiseverkehr.
Bahnhofsmissionen verstehen sich seit jeher als Förderer und Ermöglicherinnen von Partizipation und Teilhabe für a l l e Menschen, die sich an Bahnhöfen aufhalten, sowie als Krisenmanager und Seismographen gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie sind damit d i e Experten sozialer Arbeit an den Bahnhöfen. Ihre Erfahrung und Kompetenz sollte genutzt werden, damit die Verkehrswende vom Individualverkehr hin zur Schiene sozialverträglich gelingt. Dazu gilt es, das weltweit einmalige Netzwerk von diesen Sozialstationen am Bahnhof, das die kirchliche Wohlfahrtspflege unter der starken Marke Bahnhofsmission bereits seit mehr als 125 Jahren vorhält, für die neuen Herausforderungen fit zu machen.
Bahnhofsmissionen stärken das zivilgesellschaftliche Miteinander
Bahnhofsmissionen sollten als feste Sozialpartner bei der Neukonzeption des öffentlichen Verkehrs auf der Schiene mitgedacht werden - möglicherweise auch vernetzt mit anderen Akteuren und Angeboten vor Ort, wie zum Beispiel Fahrradstationen, Räumen der Stille oder Notfall- und Krisendiensten. Damit sie diese wichtige Aufgabe übernehmen können, müssen sie räumlich wie auch personell entsprechend ausgestattet werden. Dies ist nicht nur mit Blick auf die anstehende Verkehrswende und die vorhersehbare demografische Entwicklung notwendig, sondern auch, um der zunehmenden Armut und Exklusion sowie gesellschaftlichen Verwerfungen entgegenzuwirken. Durch das hohe Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement stärken Bahnhofsmissionen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und sind dadurch auch ein wichtiger Faktor zur Stabilisierung der Demokratie.
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