Viel Partizipation bringt viel
Sowohl in der UN-Kinderrechtskonvention als auch im SGB VIII ist die Partizipation der jungen Menschen fest verankert.1 Trotzdem fällt auf, dass Partizipation in den Erziehungshilfen2 sehr unterschiedlich erfolgt: Empirische Studien zeigen, dass jungen Menschen und ihren Familien höhere Stufen der Partizipation3 - also Mitsprache, Mitbestimmung und Selbstbestimmung - oft nicht ermöglicht werden. Selbst eine verständliche und nachvollziehbare Information, die Mindestanforderung für Partizipation, ist offensichtlich nicht immer sichergestellt.4 Dies widerspricht nicht nur den gesetzlichen Vorgaben, sondern hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Hilfeverläufe. Eine aktuelle Auswertung der Evaluation erzieherischer Hilfen5 belegt den erdrückenden Zusammenhang zwischen Partizipation und Effektivität. Für einen Extremgruppenvergleich wurden von insgesamt 22.425 abgeschlossenen Hilfen zwei Gruppen selektiert: zum einen das Viertel mit den höchsten Partizipationswerten über die gesamte Hilfe, zum anderen das Viertel mit den niedrigsten Partizipationswerten. Die nachfolgende Abbildung zeigt, dass mit hoher Partizipation herausragende Effekte erreicht werden. Die Hilfen erzielen hier deutliche positive Entwicklungen, bauen in hohem Maße Ressourcen auf und reduzieren Defizite. In der Gruppe mit niedrig ausgeprägter Partizipation hingegen werden über den gesamten Hilfeverlauf negative Entwicklungen festgestellt, Ressourcen vermindert und Defizite verstärkt. Dieser drastische und durchgängig signifikante Unterschied gilt im Übrigen für sämtliche untersuchten Ressourcen- und Defizitkategorien. Partizipation stellt somit einen zentralen positiven Wirkfaktor dar, niedrige Partizipation ist hingegen als ausgeprägter Risikofaktor zu bewerten.
Partizipation und Zufriedenheit hängen zusammen
Ähnliche Wechselbeziehungen ließen sich auch im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung zum Dialogprozess "Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe" im Rahmen der SGB-VIII-Novellierung identifizieren. Welche zentrale Bedeutung die Befähigung und die Ermöglichung von Partizipation für alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe hat, zeigt sich in drei elementaren Zusammenhängen. Erstens im Zusammenhang von Partizipation und Zufriedenheit: Je besser die Gesamtpartizipation durch die Adressat(inn)en der Kinder- und Jugendhilfe bewertet wird, desto höher fallen alle Zufriedenheitswerte aus (p < 0,05). Zweitens im Zusammenhang von Partizipation und Zusammenarbeit: Je besser die Gesamtpartizipation bewertet wird, desto besser schätzen die Adressat(inn)en die Zusammenarbeit ein (p < 0,01). Und drittens im Zusammenhang von Partizipation und positiven Entwicklungsverläufen von jungen Menschen: Je besser die Gesamtpartizipation erlebt wird, desto positiver sind die Entwicklungsverläufe der jungen Menschen (p < 0,01). Diese Befunde zeigen, dass die Information und Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien ein zentraler Einflussfaktor für wirksame, kooperative und zufriedenstellende Hilfeverläufe sind.6
In Anbetracht dieser empirischen Befunde aus der Wirkungsforschung und der wissenschaftlichen Begleitung des Dialogprozesses "Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe" ist es erfreulich, dass viele Regelungen im neuen KJSG7 (2021) diesen Befunden entsprechen und damit die Beteiligung und Beratung von jungen Menschen und ihren Familien weiter gestärkt werden. Die weitreichendste Veränderung bringt der neue § 4 a über "Selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung" mit sich. Durch ihn soll "die Augenhöhe" zwischen Adressat(inn)en und Professionellen im Hilfesystem maßgeblich gefördert werden.
Darüber hinaus wird das Ziel der Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen betont, beispielsweise in § 1 Abs. 1 sowie Abs. 3 Nr. 2 (neu) und in § 24 Abs. 1 Nr. 1 KJSG. Auch der uneingeschränkte Beratungsanspruch nach § 8 Abs. 3 KJSG trägt zur Stärkung der Stellung von jungen Menschen bei.
Die wissenschaftliche Begleitung des Dialogprozesses ergab außerdem, dass Hilfeadressat(inn)en des Öfteren in einer für sie nicht verständlichen, nicht nachvollziehbaren oder nicht wahrnehmbaren Form informiert werden. Diesem Befund sollen zudem mehrere Regelungen des KJSG entgegenwirken:
◆ § 8: "Beteiligung und Beratung von Kindern und Jugendlichen nach diesem Buch erfolgen in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form."
◆ § 10 a Beratung: "Zur Wahrnehmung ihrer Rechte nach diesem Buch werden junge Menschen, Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigte, die leistungsberechtigt sind oder Leistungen nach § 2 Abs. 2 erhalten sollen, in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form, auf ihren Wunsch auch im Beisein einer Person ihres Vertrauens, beraten."
◆ § 36 Hilfeplan: "Es ist sicherzustellen, dass Beratung und Aufklärung nach Satz 1 in einer für den Personensorgeberechtigten und das Kind oder den Jugendlichen verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen."
◆ § 41 a Nachbetreuung: "Junge Volljährige werden innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Beendigung der Hilfe bei der Verselbständigung im notwendigen Umfang und in einer für sie verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form beraten und unterstützt."
◆ § 42 Inobhutnahme: "In Absatz 2 Satz 1 werden nach den Wörtern ,während der Inobhutnahme‘ die Wörter ,unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen umfassend und in einer verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form über diese Maßnahme aufzuklären,‘ eingefügt."8
Wie kann Beteiligung gelingen?
Mit dem KJSG wurden also die Beteiligungsrechte der Hilfeadressat(inn)en gestärkt. Wie aber kann Partizipation auf dieser Grundlage in Zukunft besser gestaltet werden?9 Einen Ansatzpunkt bietet sicherlich die Hilfeplanung. Wie die Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung des Dialogprozesses zur SGB-VIII-Novellierung zeigen, fühlen sich junge Menschen und ihre Familien im Rahmen der Hilfeplanung oft nicht informiert und beteiligt (s. o.). Es besteht offensichtlich Handlungsbedarf, die Adressat(inn)en stärker zu aktivieren - oder, noch besser, die Hilfeplanung von ihnen und ihren Bedarfen aus zu gestalten. Vor diesem Hintergrund hat das Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Zusammenarbeit mit mehreren Jugendämtern und Leistungserbringern die auch in einfacher Sprache nutzbare Methode "WirkMit!" entwickelt: Auf Basis des Capability Approaches10 (Fähigkeitsansatzes) werden damit die Hilfeadressat(inn)en in einer spielerischen Form befähigt, ihre Lebenssituation und Hilfebedarfe auch nonverbal zu äußeren, indem sie Spielsteine setzen. Dies stellt dann die Grundlage für eine basale multiperspektivische sozialpädagogische Diagnostik und partizipative Hilfeplanung mit der Methode "WirkMit!".
Die Rückmeldungen der betroffenen Menschen wie auch der Fachkräfte hierzu sind sehr ermutigend und legen nahe, diesen Weg zu einer partizipativeren Kinder- und Jugendhilfe weiter zu beschreiten.
Anmerkungen
1. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ]: Übereinkommen über die Rechte des Kindes. VN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien: Berlin: BMFSFJ; 5. Aufl. 2014.
2. Wolff, M.: Partizipation und Beteiligung in den Erziehungshilfen. In: Macsenaere, M.; Esser, K.; Knab, E.; Hiller, S. (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg: Lambertus, 2014, S. 437-443. Wolff, M.: Eigentlich nichts Neues?! Beteiligung als pädagogisches Handlungsprinzip in Zeiten einer Pandemie. In: Unsere Jugend, 73 (1) 2021, S. 3-10.
3. Kühn, M.: Traumapädagogik und Partizipation. In: Bausum, J.; Besser, L. U.; Kühn, M.; Weiß, W. (Hrsg.): Traumapädagogik: Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis. Weinheim: Beltz Juventa, 2013, S. 138-148.
4. Macsenaere, M.: Partizipation. In Weiß, W.; Kessler, T.; Gahleitner, S. B. (Hrsg.): Handbuch Traumapädagogik. Weinheim: Beltz Juventa, 2016, S. 106-114.
5. Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ): EVAS-Auswertung zur Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Mainz: Eigenverlag, 2017.
6. Feist-Ortmanns, M.; Macsenaere, M.: Abschlussbericht "Mitreden - Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe", Berlin, 2020. Verfügbar unter Kurzlink: https://bit.ly/3s8Hh9J; Macsenaere, M.; Feist-Ortmanns, M.: Stimmt es eigentlich, dass Partizipation zu Recht eine solch große Bedeutung zukommt? Newsletter Nachgehakt. Mainz: BVkE & IKJ, 2021.
7. Bundestag: Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz − KJSG), 2021. Verfügbar unter Kurzlink: https://bit.ly/3v88HhS
8. Bundestag: Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz − KJSG), 2021 (siehe Anmerkung 7).
9. Dörnhoff, N.; Hiller, S.; Scheiwe, N. (Hrsg.): Zauberwort Partizipation. Im Alltag von Einrichtungen und Diensten der Erziehungshilfe Partizipation leben. Freiburg: Lambertus, 2013.
10. Sen, A.; Nussbaum, M.: The Quality of Life. Oxford: Clarendon Press,
1993.
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