Jugendsozialarbeit inklusiv gestalten
Um darüber nachzudenken, wie Jugendsozialarbeit inklusiv zu gestalten wäre, ist zunächst der Begriff der Inklusion zu klären. Seitdem Deutschland im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention (folgend UN-BRK) ratifiziert hat, wird Inklusion zumeist auf dieser menschenrechtlichen Basis verstanden und diskutiert.1
Nach der UN-BRK begründet Inklusion ein Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu und eine diskriminierungsfreie Gestaltung von beruflicher Bildung für alle jungen Menschen - also nicht nur für jene mit Behinderung - im Regelsystem. Das an den allgemeinbildenden Schulbesuch anschließende Bildungs- beziehungsweise Regelsystem, das zu Berufs- oder Studienabschlüssen führt, umfasst die drei Sektoren duale und Schulberufsausbildung und (duales) Hochschulstudium. Ohne die jeweiligen schulischen Zugangsvoraussetzungen zu diesen Sektoren infrage zu stellen, sollten diese inklusiv gestaltet werden, so dass kein junger Mensch aufgrund eines ihm zugeschriebenen Merkmals wie Behinderung oder Benachteiligung an der Teilhabe an diesem Bildungssystem ausgeschlossen und in gesonderte Maßnahmen verwiesen wird. Grundsätzlich sollte es möglichst keine besonderen Angebote mehr in dem Sinne geben, dass sie nur für bestimmte, als unterstützungsbedürftig identifizierte Zielgruppen reserviert bleiben.
Für die Jugendsozialarbeit würde dies bedeuten, die ihr im Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch (SGB VIII)) zugeteilte kompensatorische Aufgabe zu überwinden, mit der sie vor allem exklusive Angebote für diejenigen macht, die "in erhöhtem Maße auf Unterstützung angewiesen sind" (§ 13 SGB VIII). Stattdessen wäre sie gefordert, ihre Hilfen in das Regelsystem beruflicher Bildung - vor allem in die duale und Schulberufsausbildung - zu integrieren und so weiterzuentwickeln, dass sie von allen dort lernenden jungen Menschen bei individuellem Bedarf flexibel genutzt werden könnten, ohne dafür das Regelsystem verlassen zu müssen. Eine in dieser Weise inklusiv gestaltete Jugendsozialarbeit setzt jedoch voraus, dass das gesamte Sozialleistungs- und Ausbildungssystem mit einem Recht auf eine Berufsausbildung für alle ausbildungsinteressierten jungen Menschen inklusiv gestaltet wird.
Ein einklagbares Recht auf Ausbildung und Jugendsozialarbeit
Rechtssystematisch sollte es in einem inklusiv gestalteten Ausbildungs- und Sozialleistungssystem ein einklagbares Recht auf Ausbildung und einklagbare individuelle Leistungsansprüche für junge Menschen geben - und so auch auf Hilfen der Jugendsozialarbeit. Damit für Jugendliche ihr Recht auf eine diskriminierungsfreie Teilhabe an beruflicher Bildung sichergestellt wird, sollten unabhängige Beschwerde- und Ombudsstellen eingerichtet werden, an die sie sich wenden können und wo sie unterstützt werden, dieses Recht und ihre Ansprüche geltend zu machen.»
Ausbildungsplatzangebot muss breit gefächert sein
Das für ein inklusives Berufsausbildungssystem notwendige Recht auf Ausbildung ist nur mit einem pluralisierten Ausbildungsplatzangebot realisierbar. Denn aufgrund der marktwirtschaftlichen Ordnung der dualen Berufsausbildung unterliegt das Angebot betrieblicher Ausbildungsplätze regionalen Marktbedingungen und nicht den Interessen der Jugendlichen. Deshalb bedarf es ergänzend öffentlich geförderter Ausbildungsplätze (wie außerbetriebliche duale Berufsausbildung, Schulberufsausbildung), um für alle ausbildungsinteressierten jungen Menschen ein breites Angebot mit Auswahlmöglichkeiten zu gewährleisten. Dies setzt die Gleichstellung verschiedener Ausbildungsträgerschaften (zum Beispiel Betriebe, berufsbildende Schulen, Berufsbildungseinrichtungen, weiterentwickelte Jugendwerkstätten, Berufsbildungswerke und andere) voraus. Die an den einzelnen Lernorten erworbenen Qualifikationen wären wechselseitig anzuerkennen. Dazu wären auch Betriebe gesetzlich zu verpflichten.
Ausbildungswege individueller gestalten
Um allen jungen Menschen mit ihren individuellen Voraussetzungen die Teilhabe an beruflicher Bildung zu ermöglichen, sollten in den Ausbildungsordnungen Individualisierungsansätze geregelt sein. Heute schon sind im Berufsbildungsgesetz solche im Sinne der UN-BRK (Artikel 2 und 24 (Abs. 5)) zu verstehenden "angemessene[n] Vorkehrungen" vorhanden wie die Teilzeitberufs- oder Stufenausbildung, flexible Gestaltung der Prüfungen oder die Möglichkeit zur Verlängerung der Berufsausbildung. Diese gilt es zu einer inklusiven Berufsausbildung weiterzuentwickeln.
Integrierte flexible Hilfen unter Mitwirkung der Jugendsozialarbeit
In Anlehnung an das Konzept der "integrierten Hilfen" in der Kinder- und Jugendhilfe sollten individualisierte Hilfen im Rahmen der jeweiligen dualen oder Schulberufsausbildung wie "aus einer Hand" rechtskreisübergreifend gewährleistet und vonseiten der Sozialpolitik entsprechend institutionalisiert werden. Erste Ansätze dazu werden in den Jugendberufsagenturen entwickelt und umgesetzt. Dort werden jedoch nur das SGB II, III und VIII einbezogen, in denen Angebote für Jugendliche mit Benachteiligungen geregelt sind. Hingegen bleiben jene des SGB IX und XII, die junge Menschen mit Behinderung betreffen, außen vor. Auch diese sozialrechtlichen Regelungen, die sich auf bestimmte, defizitär markierte Zielgruppen beziehen, sind mit Blick auf die UN-BRK kritisch zu überprüfen, um allen jungen Menschen, die aus irgendwelchen Gründen an Ausbildungsanforderungen zu scheitern drohen, an allen Lernorten individuelle und bedarfsgerechte pädagogische Unterstützung anbieten zu können (zum Beispiel (Peer-)Beratung, sozial- und/oder sonderpädagogische Begleitung). Für Träger der Jugendsozialarbeit
würde dies auch bedeuten, ihre Angebote zukünftig mit jenen der Behindertenhilfe zusammenzuführen. Solche Leistungen wären dann im Sinne "angemessene[r] Vorkehrungen" gemäß Artikel 2 und 24 (Abs. 5) der UN-BRK als struktureller Bestandteil im dualen und Schulberufsausbildungssystem fest zu verankern. Zusätzlich spezifische individuelle Assistenzen müssten an den Lernorten geleistet werden. So wären konkrete Hilfen von der individuellen Situation der jungen Menschen her gestaltbar - statt wie bisher als standardisierte Maßnahmen für bestimmte Zielgruppen mit Behinderung oder Benachteiligungen.
Partizipation muss institutionell verankert werden
Individuelle, bedarfsgerechte Unterstützung kann nur gelingen, wenn diese gemeinsam mit den jungen Menschen als Experten(in-
n)en ihrer selbst festgelegt wird. Außerdem dient Berufsausbildung nicht der zukünftigen beruflicher Teilhabe, sondern ist selbst schon gesellschaftliche Teilhabe. Dabei bedeutet Teilhabe beziehungsweise Partizipation - als erklärtes Ziel von Inklusion - die Mitwirkung und Mitbestimmung in allen die Auszubildenden betreffenden Belangen. Neben festen Beteiligungsstrukturen gehört dazu auch, eine lebendige Beteiligungskultur im Alltag der Ausbildungsorte zu etablieren und barrierefrei zu gestalten.
Qualität ist konsequent zu sichern
Um inklusiv gestaltete Ausbildungsprozesse zu gewährleisten, sind an allen Lernorten der Berufsausbildung, also in den Ausbildungsbetrieben, berufsbildenden Schulen sowie außerbetrieblichen Bildungseinrichtungen, strukturelle, kulturelle und personelle Qualitätsstandards einzuführen und zu sichern. Ob dies mit den gegenwärtigen Finanzmitteln der Bundesländer und des Bundes gelingen kann, gilt es kritisch zu prüfen.
Anmerkung
1. Die folgenden Überlegungen stammen im Wesentlichen aus folgender Expertise, die sich auf diese menschenrechtliche Basis der UN-BRK stützt: Enggruber, R.; Neises, F.; Oehme, A.; Palleit, L.; Schröer, W.; Tillmann, F.: Übergang zwischen Schule und Beruf neu denken: Für ein inklusives Ausbildungssystem aus menschenrechtlicher Perspektive. Expertise im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes, 2021. Siehe www.der-paritaetische.de; direkter Kurzlink: https://bit.ly/3JQrXEJ
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