Teilhabe fehlt armen Menschen am meisten
Wer arm ist, sollte eine Stimme bekommen: Zum Internationalen Tag zur Überwindung der Armut am 17. Oktober 2021 und zu den folgenden Armutswochen1 stellten der Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein (SkF) und SKM Bundesverband die Wünsche und Forderungen von Menschen mit Armutserfahrungen in den Mittelpunkt. Die Basis bildete eine Umfrage unter Klient(inn)en und Mitarbeitenden ihrer Ortsvereine. Den Klient(inn)en stellten sie die Fragen: "Was brauchen Sie für ein besseres Leben? Was fehlt Ihnen jeden Tag am meisten? Was hilft Ihnen, sich nicht ausgegrenzt zu fühlen? Was wünschen Sie sich und Ihrer Familie in Zukunft?" - Die Mitarbeitenden wurden gefragt: "Was brauchen Ihre Klient(inn)en für ein besseres Leben? Was fehlt Menschen in Armut am meisten? Was brauchen Betroffene, um sich nicht ausgegrenzt zu fühlen? Was wünschen Sie sich, um Menschen in Armut zu stärken?" Ihre Antworten konnten die Befragten anhand von Fragebögen, aber auch in Bildern, Collagen und Filmen ausdrücken.
Eine einmalige Umfrage ist noch keine institutionelle Verankerung von Partizipation der Menschen mit Armutserfahrungen in sozialen Diensten und Einrichtungen. Das ist ein zentrales, gleichwohl mühsames Querschnittsthema der sozialen Arbeit. Umso mehr war es ein großer Erfolg, dass sich 33 Ortsvereine von SkF und SKM an der Aktion beteiligt haben. Betroffene und Mitarbeitende äußerten sich in Filmen, die am Tag der Armut im Probsteihof in Dortmundgezeigt werden konnten und später auf Youtube eingestellt wurden.2 Es wurden Diskussionsrunden und kreative Workshops mit Erwachsenen und Jugendlichen abgehalten, in denen Collagen und Bilder entstanden, die ebenfalls am Armutstag ausgestellt wurden. Darüber hinaus wurden 400 ausgefüllte Fragebögen (274 von Menschen mit Armutserfahrungen und 126 von Mitarbeitenden) zurückgesandt. Die Rückmeldungen kamen aus der Wohnungslosenhilfe, Migrationsberatung, Arbeit mit Alleinerziehenden, von Frauenhäusern, Mutter-/Vater-Kind-Einrichtungen, aus der allgemeinen Sozialberatung und auch der stationären und ambulanten Kinder- und Jugendhilfe.
Die Auswertung3 dieser qualitativ angelegten, nicht repräsentativen Umfrage bestätigt die These: Nicht der Mangel an Geld, sondern die massiv eingeschränkten Möglichkeiten der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft belasten Menschen in Armut am meisten. Weitere Ergebnisse deuten enge Zusammenhänge zwischen familiären Belastungen, Gesundheit und Armut an. Die Mitarbeitenden wünschen sich mehr Zeit, um Menschen unabhängig von Projektbefristungen und Jobcentervorgaben zu beraten und zu begleiten. Hier entsprechen die Befunde vielem, was in der Begleitstudie zum Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ausgeführt ist, die die subjektive Sicht der Betroffenen untersucht.4
Teilhabe am sozialen Leben
"Würde gerne mal als Familie essen gehen."
Teilhabe am sozialen Leben ist das, was Menschen mit Armutserfahrungen am meisten fehlt beziehungsweise was am besten hilft, um sich nicht ausgegrenzt zu fühlen. Darin sind sich Mitarbeitende und Klient(inn)en einig. Aus den Antworten spricht der geradezu sehnsüchtige Wunsch nach Freundschaften, Gemeinschaft und danach, etwas zu unternehmen. Mütter wünschen sich für ihre Kinder die Teilnahme an Sportvereinen, einen Besuch im Schwimmbad oder die Möglichkeit, Ausflüge zu machen.
Erwachsene möchten Freunde oder Verwandte besuchen oder auch mal in Urlaub fahren. Doch die Kosten für öffentlichen Nahverkehr und Eintrittspreise verhindern vieles. Wichtig ist den Menschen, dass der Zugang zu Vereinen oder dem Schwimmbad nicht mit einer Stigmatisierung verbunden sein soll, weil erst der Sozialpass beantragt werden muss.
An zweiter Stelle der Antworten steht bei den Betroffenen der Wunsch nach Gesundheit. Mitarbeitende fordern eine bessere therapeutische und medizinische Versorgung ("Armut macht krank"); fehlende Gesundheit wiederum verstärkt Armut und trägt zur sozialen Ausgrenzung bei.
Ein weiteres Thema der befragten Klient(inn)en ist die Familie. Die Antworten zeigen, dass das Fehlen enger familiärer Bindungen ein wichtiges Thema ist. Migrant(inn)en vermissen ihre Familie, die weit weg ist; aber auch die, deren Familien durch Konflikte zerbrochen sind, leiden unter der Situation.
Wertschätzung und Sicherheit
"Ich wünsche mir, mich für die Armut nicht zu schämen."
Die Mitarbeitenden von SkF und SKM nennen an zweiter Stelle das Thema Ausgrenzung und Herabsetzung der von Armut Betroffenen. Sie wünschen sich eine "Gesellschaft, die Armut nicht als selbstverschuldet begreift". Gleichzeitig erhoffen sie sich für ihre Klient(inn)en die Erfahrung, dass es Wege aus der Armut heraus geben kann: "Perspektiven und das Gefühl, etwas an ihrer Situation ändern zu können und dieser nicht hilflos ausgeliefert zu sein." Die Betroffenen möchten "sorgenfrei leben" und die Gewissheit haben, dass sie klarkommen. Bei den Geflüchteten sprechen auch die Erfahrungen von Krieg und Vertreibung aus den Wünschen nach Sicherheit.
Geld, Arbeit, Wohnung
"Alles scheitert am Geld: Hobbys, gesundes Essen, mobil sein, gute Kleidung etc.
Natürlich fehlt es Menschen mit Armutserfahrungen an Geld. Es fehlt an Geld für Rücklagen und Unvorhergesehenes. Es fehlt frei verfügbares Geld, um sich ab und an eine kleine Freude zu gönnen. Erschreckend war die Zahl derjenigen, die auch sagten, es fehle Geld für gesundes Essen.
So wünschen sich vor allem die Geflüchteten, aber auch junge Eltern und Klient(inn)en der Wohnungslosenhilfe Arbeit. Und zwar Arbeit, die sinnvoll ist, den Tag strukturiert und so bezahlt wird, dass man davon leben kann. Die Wohnungsnot kommt nicht nur bei den Antworten der Wohnungslosen, sondern auch bei Familien zum Ausdruck, die sich ein besseres Wohnumfeld und größere Wohnungen wünschen.
Unterstützung durch soziale Arbeit
"Feste, nicht projektlaufzeitgebundene offene Türen für Betroffene"
Die Mitarbeitenden von SkF und SKM äußern in ihren Antworten sehr klare Vorstellungen, wie sie Menschen in Armut stärken können. Sie brauchen ausreichend Zeit und finanzielle Mittel, um Menschen mit Armutserfahrungen in eine eigenständige Lebensführung begleiten zu können. Das gelingt nicht mit festgelegten Stundenkontingenten und befristeten Projekten. Ihr Ziel ist es, Empowerment für die Klient(inn)en zu ermöglichen, zum Beispiel im Umgang mit den Behörden, und das Vertrauen in ihre eigenen Ressourcen zu stärken. Hilfreich dafür ist auch eine bessere Vernetzung zwischen Beratungsstellen und Ämtern.
Teilhabe durch bessere Infrastruktur und Begleitung stärken
Die vielen Zitate und O-Töne aus der Umfrage spiegeln die Ausgrenzungen im Alltag der von Armut betroffenen Menschen. Sie zeigen, dass vor allem die Kommunen gefordert sind, die öffentliche Daseinsvorsorge und soziale Infrastruktur so auszubauen, dass alle Bürger(innen) davon profitieren. Egal, ob es um die Zugänglichkeit und den Ausbau von Nahverkehr, Schwimmbädern, die Gestaltung öffentlicher Flächen, Freizeitangebote oder den Wohnungsbau geht, hier profitieren nicht nur die Menschen in Armut, sondern der Zusammenhalt und die Lebensqualität in der Kommune wird allgemein gestärkt. Das deckt sich mit den Befunden der Begleitstudie zum Armuts- und Reichtumsbericht: "Ein dichtes Netz alltagserleichternder Infrastruktur kann erheblich dazu beitragen, die gesellschaftliche Teilhabe von Personen und Haushalten in unteren sozialen Lagen zu fördern."⁵
Öffentliche Daseinsvorsorge hat für die Armutsbekämpfung einen genauso hohen Stellenwert wie die Weiterentwicklung der Transferleistungen.
Neben der öffentlichen Daseinsvorsorge spiegeln die Antworten den Wunsch nach sozialen Beziehungen. Auch dazu bedarf es der öffentlichen Räume, in denen Begegnung möglich wird - gerade für Menschen, die nicht in intakte familiäre Systeme eingebunden sind. Ernst zu nehmen ist aber auch der Wunsch der Mitarbeitenden nach einer Verstetigung ihrer Begleitung und der Möglichkeit, Menschen ganzheitlich zu stärken. Auch das deckt sich mit den Forderungen aus der oben genannten Studie: "Aus der Perspektive der Nutzer*innen wäre ein weniger herausforderndes Leistungssystem beziehungsweise eine prozessbegleitende ganzheitliche sozialpädagogische Begleitung (im Sinne von ,Ankerpersonen‘ (…)) durch die Leistungssysteme wünschenswert."⁶
Insgesamt zeigt die Umfrage von SkF und SKM zum Internationalen Tag zur Überwindung von Armut, wie wichtig und auch richtungsweisend die aktive Einbeziehung und Partizipation der Betroffenen sind. Das sollte bei weiteren Forschungsvorhaben, bei der Erstellung der Armuts- und Reichtumsberichte und in allen Angeboten der Beratung und Begleitung viel stärker als bisher berücksichtigt werden.
Anmerkungen
1. Mit dem Format "Armutswochen" setzt der Deutsche Caritasverband seit mehreren Jahren Impulse, um die verbandliche und öffentliche Aufmerksamkeit auf einen besonderen Aspekt von Armut und Ausgrenzung zu richten. Sie finden im Zeitraum zwischen dem Internationalen Tag zur Überwindung der Armut (17. Oktober) und dem Welttag der Armen der katholischen Kirche (33. Sonntag im Jahreskreis) statt.
2.Vgl. SkF und SKM gegen Armut 2021 - Youtube.
3. Vgl. SkF und SKM (Hrsg.): Was brauchst du für ein besseres Leben? Stimmen von Menschen mit Armutserfahrungen und Mitarbeiter:innen von SkF und SKM. Internationaler
Tag zur Beseitigung von Armut, 17. Oktober 2021. Siehe
dazu www.skf-zentrale.de (direkter Kurzlink: https://bit.ly/3qIckZd).
4. Brettschneider, A. u. a.: Qualitative Untersuchung von subjektiven Ausprägungen und Dynamiken sozialer Lagen. Begleitforschung zum Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Köln, 2020.
5. Ebd., S. 227 f.
6. Ebd., S. 222.
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