Eine neue Art zu lernen
Was habe ich im letzten Jahr gelernt?" -Wie oft stellen wir uns eigentlich bewusst diese Frage? Gelegenheiten zu lernen gibt es mehr als genug, und sie sind immer auch die Chance, die Art, wie wir arbeiten, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern. Allein die Veränderungen in der Coronapandemie: "Videocall" statt Kaffeeküche, Pflege unter strikten Hygienemaßgaben oder Führung ohne direkten Kontakt zu den Mitarbeitenden. Wir alle haben viel Neues gelernt.
Die Corona-Situation ist nur die jüngste von vielen Bewegungen der letzten Jahre, die eines zeigen: Gesellschaft, Wirtschaft und Technik entwickeln sich zunehmend schneller als die Fähigkeit der Menschen, Veränderungen zu verstehen und mitzugehen. Der Bedarf an professioneller Unterstützung und Begleitung steigt, die Arbeit der Caritas-Organisationen wird noch wichtiger.
Dabei liegt die Herausforderung für Führungskräfte darin, die sich für die eigene Organisation ergebenden Veränderungsprozesse zu erkennen und zu gestalten. Veränderungen verlaufen zunehmend exponentiell, und damit beschleunigt sich auch der Veränderungsbedarf. Gleichzeitig handelt es sich nicht um eine einzige Entwicklung, sondern unterschiedliche Personen und Organisationen erleben die Veränderungen unterschiedlich schnell. So entstehen wachsende Abstände im Entwicklungsstand. Hinzu kommt, dass die Anforderungen an das Lernen nicht nur massiv steigen, sondern dass auch die Art, wie wir üblicherweise lernen, nicht mehr in die exponentielle Welt passt. Hier setzt das agile Lernen an.
Was mit agilem Lernen gemeint ist, veranschaulicht die Stacey-Matrix1. Sie gliedert Systeme danach auf, ob die wesentlichen Merkmale bekannt sind und ob die zur Bearbeitung sinnvollen Lösungsansätze klar und beherrschbar sind oder unklar beziehungsweise erst zu entwickeln
Agiles Lernen je nach Kontext
Geeignete Formen von Arbeiten und Lernen unterscheiden sich zwischen den vier Bereichen sehr stark, je nachdem, wie klar beziehungsweise unklar Anforderungen und Vorgehensweisen in einem gegebenen Kontext sind. Bewegen wir uns auf bekanntem
Terrain, können wir Standards definieren und auf die Effizienz der Arbeit fokussieren. Lernen in diesem Umfeld wird sich an der Vermittlung von vorhandenem Wissen orientieren. Sind Anforderungen und Vorgehensweise dagegen unklar, werden agile Arbeitsmethoden, Ausprobieren und kooperatives, ergebnisoffenes Lernen der richtige Weg sein, um sich das Neue zu erschließen. Wir sollten daher stets differenzieren, in welchem Kontext Arbeiten und Lernen stattfinden.
Die wesentlichen Unterschiede im Lernen lassen sich so zusammenfassen:
Lernen in den Bereichen "simpel" und "kompliziert" erfolgt im Sinne von Change Management:
◆ klares (Lern-)Ziel;
◆ Expertenwissen nutzen;
◆ Formate: E-Learnings, Tutorials, Trainings ...
Lernen in den Bereichen "komplex" und "chaotisch" erfolgt im Sinne einer Transformation:
◆ uneindeutiges Ziel: eher Vision;
◆ keine Lehrenden, mehr kooperatives Gruppenlernen;
◆ Vorgehen: Experimente, Iterationen, Kollaboration (soziales Lernen, das Lernen in Teams).
Agiles Lernen, das Lernen in komplexen und chaotischen Kontexten, teilt viele Prinzipien und Ansätze mit dem agilen Arbeiten und zielt auf die lebenslange Anpassungs- und Innovationsfähigkeit von Menschen und Organisation. Agile Lernprozesse zeichnen sich durch kurze, klar strukturierte Abläufe bei gleichzeitiger Individualisierung der Inhalte aus. Kollaboration, Selbststeuerung und Dynamik stehen im Vordergrund. Im weiteren Sinne bedarf agiles Lernen eines passenden Mindsets (Selbstwirksamkeit und Entwicklungsfähigkeit), Fertigkeiten (unter anderem Lernkompetenzen) und einer offenen Fehler- und Lernkultur.
Aus Sicht von Führungskräften, Verantwortlichen für Organisation und Personal, aber auch von eingesetzten Lernbegleiter(inne)n stellt sich die Frage, inwieweit die Veränderungen hin zu mehr Komplexität und höherer Veränderungsgeschwindigkeit wirken. Sind nur wenige Veränderungen wirksam, werden die vorhandenen Lernsysteme und -formate vielleicht ausreichen. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich die Möglichkeiten der IT oder neue Formen der Selbstorganisation in Sozialberufen (beispielsweise Buurtzorg2) verbreiten und der Veränderungsdruck weiter steigt. Wer sich hier früh auf den Weg macht, wird schneller und erfolgreicher sein.
Wie agiles Lernen umgesetzt wird
Spielt agiles Lernen im eigenen Verantwortungsbereich eine Rolle, so ist die Frage, welche Rahmenbedingungen agiles Lernen benötigt und wo am besten anzufangen ist. Der erfolgversprechendste Ansatz ist, die angestrebte Zukunft des agilen Lernens vorwegzunehmen und den Ansatz nach gleichen Prinzipien aufzubauen. Was heißt das genau?
Ein experimentelles und iterativ skalierendes Vorgehen ist das erste Prinzip bei der Einführung agilen Vorgehens. Gestartet wird mit einer ersten Gruppe von Mitarbeiter(inne)n, die sich für das Thema und die eigene Weiterentwicklung interessieren und die gemeinsam entscheiden wird, was und wie gelernt werden soll. Im nächsten Schritt werden Einzelmaßnahmen definiert, die als Piloten zur Gewinnung von Erfahrung dienen. Die darin erkannten Positivfaktoren werden weiterentwickelt; was nicht funktioniert, lässt man zukünftig bleiben.
Für die Pilotmaßnahmen werden passende agile Lernformate ausgesucht, um weitere Erfahrung im agilen Lernen zu gewinnen. Agile Lernformate zeichnen sich durch folgende Punkte aus:
◆ starke Prozesssteuerung; die Struktur und die Abläufe sind vorgegeben und die Moderation achtet auf die Einhaltung;
◆ maximale inhaltliche Flexibilität; die Mitarbeitenden entscheiden nach ihren individuellen Lernbedürfnissen, was wann gelernt wird;
◆ Aufbrechen von klassischen Lehr-/Lernszenarien hin zu gemeinsamer Erarbeitung von Inhalten;
◆ Teilnehmerverständnis als "Prosumenten", das heißt, jede(r) Lernende agiert als Konsument(in), der/die Wissen von anderen aufnimmt, aber gleichzeitig an der Produktion neuen Wissens und neuer Vorgehensweisen mitwirkt;
◆ Eigenverantwortung beim Lernenden, das heißt ein Mentalitätswandel bei den Mitarbeiter(inne)n hin zu Eigeninitiative und Selbstverantwortung.
Der letzte Punkt ist zugegebenermaßen einer, der in der Praxis Herausforderungen mit sich bringt. Gerade die eher lernentwöhnten Mitarbeitenden werden nicht sofort mit dem neuen Ansatz zurechtkommen. Sie benötigen Begleitung und Unterstützung, aber hier sind die Wahl geeigneter Formate und der Gruppenansatz im agilen Lernen gut geeignet, schnell zur nötigen Haltungsänderung zu führen. Ab einem gewissen Punkt verselbstständigt sich das Lernen dann, denn agiles Lernen macht deutlich mehr Spaß und die höhere Wirksamkeit motiviert zu mehr.
"Agiler Werkzeugkasten":
Formate unterstützen das Lernen
In der Lernpraxis hat sich der Aufbau eines "agilen Werkzeugkastens" bewährt. Hier werden Formate und Instrumente zusammengefasst, die dieses Lernen unterstützen können. Es wird zum Beispiel nach Einsatzbereichen, Gruppengröße oder Lernzielen unterschieden und jeweils zwei bis drei Lernformate vorgehalten. Kommen Mitarbeitende mit Lernwünschen oder soll eine Veränderung im größeren Stil angestoßen werden, sind passende Formate verfügbar.
Was gehört in eine solche Toolbox? Bei den in der jüngsten Zeit entwickelten agilen Lernformaten sind beispielsweise "Working out Loud" (WoL), Barcamps, "Lean Coffee" zu nennen: WoL fokussiert auf individuelle Lernziele, die in einer Gruppe bearbeitet werden. Die Unterstützung durch die anderen Lernenden, die andere Lernziele haben können, ist der wichtigste Wirkfaktor (Kollaboration). Barcamps bringen größere Gruppen zusammen, die parallel an frei gewählten Fragestellungen arbeiten. Das "Lean Coffee" wiederum ist ein strukturiertes und konsequent moderiertes Kurzformat zum Austausch über aktuelle beziehungsweise spontan eingebrachte Themen. Alle Beispiele binden die Mitarbeiter(innen) aktiv ein, fördern den Austausch untereinander und sind oft der Ausgangspunkt größerer Initiativen. Neben den genannten Beispielen können auch bewährte Lernformate wie Mentoring in die Toolbox aufgenommen werden, wenn sie das Lernen in einem komplexen Kontext fördern.
Wandel ist immer auch ein Lernprozess. Lernen zu gestalten und sich an die Veränderungen anzupassen lohnt sich, und agiles Lernen kann einen positiven Beitrag leisten. Durch die Einbindung vieler strukturierter Formate bei gleichzeitig viel Freiheit für den Einzelnen und die Kooperation in der Gruppe werden positive Ergebnisse deutlich wahrscheinlicher. Es lohnt sich, mit Experimenten und dem Aufbau einer kleinen Toolbox anzufangen, dann folgt die kontinuierliche Weiterentwicklung und Einbindung von immer mehr Mitarbeiter(inne)n.
Anmerkungen
1. Entwickelt vom britischen Organisationstheoretiker und
Professor für Management Ralph D. Stacey.
2. Buurtzorg (dt. "Nachbarschaftspflege") ist ein niederländisches Unternehmen in der ambulanten Pflege. Nach seinem Modell gibt es keine Hierarchien, sondern selbstständige Teams.
Grundordnung: Korsett lockern
Umsteuern: vom Verbot zum Angebot
Kirchliches Arbeitsrecht braucht positive Perspektiven
AWO-Skandale wirken sich auf Zuwendungspraxis aus
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