Selbstständiges Wohnen bleibt ein Traum
Deutschland hat sich im Jahr 2009 mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen eine unabhängige und selbstbestimmte Lebensführung am Ort der eigenen Wahl zu ermöglichen. Die selbstständige Lebensführung ist allerdings für viele nicht zu verwirklichen, weil ihnen der Zugang zu einer eigenen Wohnung verschlossen ist: Es gibt nicht ausreichend Wohnungen für die fast elf Millionen Menschen mit Behinderung in diesem Land. Selbstständiges Wohnen bleibt oftmals ein Traum, denn im Jahr 2022 fehlen in Deutschland circa 450.000 Wohnungen.1 Durch diesen Mangel an barrierefreiem Wohnraum können Menschen mit Behinderung ihr Recht auf selbstständige Lebensführung gar nicht wahrnehmen.
Die Lage auf dem Wohnungsmarkt ist seit Jahren für viele Menschen in Deutschland dramatisch - und dies gilt ganz besonders für Menschen mit Behinderung. Der Wettlauf um bezahlbare Wohnungen und Sozialwohnungen spitzt sich zu. Gleichzeitig wächst die Gesamtbevölkerung und damit die Anzahl der Menschen, die auf eine bezahlbare beziehungsweise eine Sozialwohnung angewiesen sind.
Dramatischer Mangel an Sozialwohnungen
Fast 13 Millionen Menschen benötigen bundesweit Sozialwohnungen. Die Anzahl von (nicht barrierefreien) Sozialwohnungen wird auf circa eine Million geschätzt und ist rückläufig. Parallel dazu brauchen zehn Millionen Menschen mit Behinderung eine Wohnung. Nicht erfasst sind dabei fast eine Million Menschen mit Behinderung, die Eingliederungshilfe erhalten und häufig weiterhin als Erwachsene in Haushalten ihrer Familienangehörigen leben.
Etwa 200.000 Menschen mit Schwerst- oder Mehrfachbehinderung wohnen in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe. Diese besonderen Wohnformen benötigen regelmäßig Fördermittel für die Renovierung, die landesrechtlich nicht abgesichert sind. Aus diesem Grund ist auch diese Personengruppe auf die neuen Wohnsettings zum Beispiel auf ambulante Wohngemeinschaften oder betreute Appartements angewiesen. Die besonderen Wohnformen werden seit dem 1. Januar 2022 strukturell nicht mehr gefördert und Renovierungen der Bestandsgebäude und Neubauten werden nicht finanziert. Auch andere Wohnformen wie Frauenhäuser werden aufgrund des Wohnungsmangels zu Dauerlösungen.
Der soziale und bezahlbare Wohnungsbau ist gerade in den Ballungsgebieten immer weiter zurückgegangen. Ältere Sozialwohnungen sind aus der Preisbindung gefallen und der Staat hat zu wenig in die Förderung neuer Sozialwohnungen investiert. Für Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen ist die Situation auf diesem ohnehin schon angespannten Wohnungsmarkt besonders prekär. Sie stehen beim Wettbewerb um den knappen bezahlbaren Wohnraum in Konkurrenz zu vielen anderen Gruppen, die ebenfalls ein Anrecht auf Sozialwohnungen haben.
Ziele der Bundesregierung nicht umgesetzt
Die alarmierende Wohnungsnot ist strukturell bedingt. Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung verpflichtet, jährlich 400.000 Wohnungen, davon 100.000 Sozialwohnungen, bauen zu lassen.2 Doch die Umsetzung stockt. Die Anzahl der circa eine Million Sozialwohnungen ist im Jahr 2021 wieder um fast 27.500 zurückgegangen, während nur circa 21.500 neue Sozialwohnungen gebaut wurden. Das heißt, die jährliche Vorgabe ist nur zu circa 20 Prozent erreicht.
Dabei war die Entwicklung auf dem sozialen Wohnungsmarkt voraussehbar. Während im Jahr 2007 noch fast zwei Millionen Sozialwohnungen verfügbar waren, ist der Bestand im Jahr 2022 auf circa eine Million geschrumpft. Die Sozialpolitik hat versagt und der freie Wohnungsmarkt hat gewonnen. Während die armutsgefährdete Bevölkerung auf fast 13 Millionen angestiegen ist, ist die Anzahl der Sozialwohnungen zurückgegangen. Dabei waren besondere Personengruppen wie Menschen mit Behinderungen überhaupt nicht im Blick der Planungen.
Hinzu kommt, dass die Finanzierung der Pläne der Bundesregierung keineswegs gesichert ist. Einerseits sind erhebliche Baupreissteigerungen zu verzeichnen, andererseits hat die Zinswende den Finanzierungsbedarf im sozialen Wohnungsbau erheblich erhöht. Dieser beträgt mindestens 12,5 Milliarden Euro jährlich für 100.000 Wohnungen.
Die bisher vom Bund geplante eine Milliarde Euro pro Jahr bis 2024 reicht bei weitem nicht aus. Eine weitere Milliarde für den Klimaschutz ist ebenfalls nicht ausreichend. Der Bund muss ab sofort sicherstellen, dass mindestens 12,5 Milliarden Euro für den sozialen Mietwohnungsbau bereits ab 2022 bereitgestellt werden.
Es braucht eine echte Wende im sozialen Wohnungsbau
Seit August 2019 beteiligt sich der Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) beim Bündnis "Soziales Wohnen", zusammen mit dem Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel, der Deutschen Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau, dem Deutschen Mieterbund und der IG Bauen-Agrar-Umwelt. Das Bündnis evaluiert jährlich die Lage und macht Vorschläge, die Wohnungssituation zu verbessern. Die beteiligten Akteure sind davon überzeugt, dass der Rückgang von Sozialmietwohnungen endlich gestoppt werden muss. Es braucht eine Wende im Wohnungsbau.
Der Koalitionsvertrag muss in den nächsten vier Jahren umgesetzt werden. Das Bündnis fordert, die Bestände an sozialem und bezahlbarem Wohnraum zu stabilisieren. Neben der jährlichen Schaffung von 100.000 geförderten Sozialmietwohnungen mit 6,50 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter Wohnfläche ist es erforderlich, weitere 60.000 bezahlbare Wohnungen mit 8,50 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter Wohnfläche bereitzustellen. Benötigt werden der Wohnungsneubau, Maßnahmen im Bestand, auch in bestehenden Wohnsettings der Eingliederungshilfe, sowie der Ankauf von Belegungsrechten.
Folgende Schritte sind aus Sicht des Bündnisses "Soziales Wohnen" erforderlich, um die jahrelange Wohnungsnot systematisch zu beheben:
Finanzierung sichern
Um die Finanzierung sicherzustellen, müssen die finanziellen Mittel für sozialen Wohnungsbau auf mindestens 12,5 Milliarden Euro pro Jahr erhöht werden.
Bezahlbare Wohnungen bauen
Zusätzlich zum jährlichen Neubau von 100.000 Sozialmietwohnungen ist der Neubau von 60.000 bezahlbaren Wohnungen in Ballungsgebieten und Wachstumsregionen erforderlich.
Feste Zehn-Prozent-Quote für Menschen mit Behinderung einführen
◆ Um Verdrängungsprozesse auf dem Wohnungsmarkt zu unterbrechen, muss ein Wohnungskontingent von zehn Prozent bei bestehenden Sozialmietwohnungen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen bereitgestellt werden, vor allem für Menschen mit Behinderung und auch für ältere Menschen mit Behinderung.
◆ Mit Blick auf den erwarteten Anstieg der Anzahl der Menschen mit Behinderung sowie gerade der älteren Menschen mit Behinderung und die steigende Anzahl an benachteiligten Personen ist von den neu gebauten Sozialmietwohnungen ab sofort ein Kontingent von mindestens zehn Prozent des jährlich fertiggestellten Wohnraums für diese Bevölkerungsgruppen vorzuhalten. Der Anteil an bezahlbaren und behindertengerechten Mietwohnungen muss erheblich ausgebaut und bedarfsgerecht angeboten werden.
◆ Über den Zuschlag beziehungsweise die Vergabe des Zehn-Prozent-Kontingents von Sozialwohnungen an besonders bedürftige Menschen sollen künftig Härtefallkommissionen entscheiden. In diese von den Städten und Gemeinden eingerichteten Kommissionen sollen auch die Interessenvertretungen der betroffenen Gruppen, vor allem von Menschen mit Behinderung, stimmberechtigt eingebunden werden. Solche Schritte helfen, die Vielfalt und Diversität - gerade in den Ballungsgebieten - zu erhalten und weitere Verdrängungsprozesse zu dämpfen.
Wohnen für Menschen mit Behinderung fördern
Wegen des Bundesteilhabegesetzes ist die Förderung für den Neubau und die Renovierung von bestehenden Wohngebäuden weggefallen. Diese Förderung ist auf der Landesebene weiterhin notwendig, weil 200.000 Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen keine Chance haben, eine eigene Wohnung zu beziehen, aber weiterhin Wohnraum mit Assistenzleistungen benötigen.
Aktuell ist die Förderung von inklusiven Wohnangeboten unzureichend. Die Fördersystematik passt nicht zu den Bauvorhaben, und die Vorgaben zu Mindest- beziehungsweise Höchstanzahl von Bewohner:innen sind weder fachlich noch finanziell umzusetzen. Die Förderung von Wohnangeboten sollte daher angepasst werden. Ferner muss der Zugang zu bezahlbaren Grundstücken für sozialen Wohnungsbau auf kommunaler Ebene für gemeinnützige Träger gesichert werden. Soziale Unternehmen wie die Caritas brauchen zwingend Zugang zu bezahlbaren kommunalen Grundstücken und entsprechende Förderung, um Wohnraum für Menschen mit Behinderung und sozial benachteiligte Menschen schaffen zu können.
Sozialwohnungen sind der Kern des Sozialstaats
Die jahrelange strukturelle Wohnungsnot hat sich durch die Coronakrise und den Ukraine-Krieg noch zusätzlich verschärft. Die daraus resultierende Knappheit schafft vielfach existenzielle Notlagen und betrifft zahlreiche Menschen in unserer Gesellschaft, ganz besonders Menschen mit Behinderung. Die Politik fährt im Wohnungsbau seit Jahren auf Sicht. Nunmehr muss in absehbarer Zeit die richtungsweisende Entscheidung getroffen werden, ob ausreichend Sozialwohnungen gebaut werden sollen oder ob künftig Zwangs-WGs für bedürftige Menschen in bestehenden Sozialwohnungen angeordnet werden müssen. Sozialwohnungen sind der Kern des Sozialstaates. Es braucht eine echte Wende im sozialen Wohnungsbau mit der Förderung von barrierefreien Sozialmietwohnungen und einer festen Sozialquote für Menschen mit Behinderung sowie schließlich die Förderung von allen Wohnangeboten für Menschen mit Behinderung.
Anmerkungen
1. Eduard Pestel Institut im Auftrag des Verbändebündnisses "Soziales Wohnen": Bezahlbarer Wohnraum. Hannover, Januar 2022.
2. Koalitionsvertrag 2021 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (www.bundesregierung.de), Kurzlink: https://bit.ly/3B1IuTu
Bürgergeld nicht ausreichend finanziert
Den Perso immer parat
Es braucht mehr als nur neue Wohnungen
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