Es braucht mehr als nur neue Wohnungen
Die Armutswochen der Caritas 2022 beginnen mit dem Internationalen Tag zur Überwindung von Armut am 17. Oktober und enden mit dem Welttag der Armen am 13. November. Der Schwerpunkt "Wohnraum schaffen für armutsbetroffene Menschen" wurde gewählt, bevor der Krieg in der Ukraine ausbrach. War damals schon klar, dass die Zahl der Wohnungslosen oder von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen in Deutschland steigt, stellt sich die Lage im Herbst 2022 noch problematischer dar. Zu den Schwierigkeiten, überhaupt eine Wohnung zu finden, kommen jetzt für alle Bezieher:innen niedriger Einkommen beziehungsweise von Transferleistungen die Steigerungen der Kosten für Strom, Heizung und Lebensmittel hinzu. So ist zu befürchten, dass sich noch mehr Menschen verschulden müssen und am Ende die Kosten für Miete, Strom und Heizung nicht mehr aufbringen können.
Wohnungen für Menschen mit Armutserfahrungen
Das Thema Wohnungsnot beschäftigt schon lange nicht mehr nur die Fachdienste der Wohnungslosenhilfe, sondern ist in fast allen Beratungskontexten und Maßnahmen der Caritas und ihrer Fachverbände präsent. In der Schwangerenberatung geht es um größere und oftmals angemessene Wohnungen, um wachsenden Familien Raum zu bieten. Frauen, die sich von ihren Partnern trennen
wollen, finden keine Wohnung, ohne selbst ausreichendes Einkommen nachweisen zu können. Bewohner:innen der Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen oder in den Frauenhäusern können nach dem Ende der Maßnahme nicht ausziehen, weil keine passende Wohnung gefunden wird. Wenn in den Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen Trennungen von Eltern und Kindern erfolgen, werden die Mütter sogar regelmäßig in die Wohnungslosigkeit entlassen. Dieses Schicksal trifft auch junge Menschen, die aus der Jugendhilfe im Übergang zu einem selbstständigen Leben sind. Eine weitere von Wohnungslosigkeit bedrohte Gruppe sind anerkannte Asylbewerber:innen. Hier geht es oftmals um ganze Familien mit mehreren Kindern. Besonders schlechte Chancen auf dem Wohnungsmarkt haben Haftentlassene. Ebenfalls von Wohnungsnot betroffen sind Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aber auch viele andere mit geringen Einkommen, ohne im Leistungsbezug zu sein, zum Beispiel Alleinerziehende oder Rentner:innen, haben Schwierigkeiten, bezahlbare Wohnungen zu finden.
Es gibt nach wie vor nur unzureichendes Datenmaterial über das ganze Ausmaß von Wohnungslosigkeit. Im Frühjahr 2022 wurde erstmals eine bundesweite Stichtagserhebung zu den in Notunterkünften untergebrachten Menschen durchgeführt.1 Nicht erfasst wurden jedoch Menschen, die auf der Straße leben oder bei Bekannten oder Verwandten untergeschlüpft sind.
Ebenso fehlen Daten darüber, wie viele Wohnungen es in Deutschland tatsächlich gibt und wie viele potenziell vermietbar wären. Interessant wären auch Daten über die Wohnungen, die leer stehen, weil eine Vermietung gescheut wird oder sie als Ferienwohnungen genutzt werden. Mit dem aktuellen Zensus des Statistischen Bundesamtes von 2022 werden neben Angaben zur Bevölkerung in der Gebäude- und Wohnungszählung auch der Gebäude- und Wohnungsbestand sowie die Wohnsituation der Haushalte ermittelt.2 Hiervon erhofft man sich erstmals seit langem genaue Auskunft über den Bestand an Wohnungen.
Viele brauchen mehr als ein Dach über dem Kopf
Die Bundesregierung hat den Neubau von 400.000 Wohnungen pro Jahr angekündigt, darunter 100.000 Sozialwohnungen. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, ist fraglich. Darüber hinaus muss gefragt werden: Reicht das? Braucht es nicht mehr? Denn für die oben genannten unterschiedlichen armutsbetroffenen Familien und Personen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, ist auch die Qualität des Wohnraums wichtig dafür, ob die vielfach prekäre Lebenslage überwunden werden kann. Unzureichender Wohnraum in einem Umfeld ohne soziale Infrastruktur erhöht das Risiko für Überforderungen und psychische Belastungen und gegebenenfalls erneute Wohnungslosigkeit. Wenn also Sozialwohnungen gebaut werden, muss darauf geachtet werden, dass keine Ghettos entstehen.
Neubauprojekte sind darüber hinaus in der Regel planungs- und energieintensiv, haben eine schlechte CO2-Bilanz und verschärfen das Problem der Flächenversiegelung. Heute entstehen bei Neubauprojekten vor allem teure Miet- oder Eigentumswohnungen, die sich selbst mittlere Einkommensschichten nicht leisten können. Insofern gilt es über die Forderung nach Neubauten hinaus differenzierter auf den Wohnungsmarkt und die Wohnungspolitik zu schauen.
Prävention ist das beste Mittel gegen Wohnungslosigkeit
Der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Ibbenbüren schuf im NRW-Projekt "Endlich ein Zuhause!" 2020 zusammen mit dem Kreis Steinfurt sowie den Caritasverbänden Emsdetten-Greven und Rheine eine Anlaufstelle für Wohnungsnotfälle. Hier werden Betroffene beraten und zeitnah niedrigschwellig unterstützt, zum Beispiel bei der Regulierung von Miet- und Energieschulden sowie dem Beheben von Faktoren, welche das Mietverhältnis gefährden. Die Sorge ist groß, dass in den nächsten Monaten die Zahl der Ratsuchenden mit Miet- und Energieschulden steigen wird. Für Wohngeldbezieher:innen und Haushalte im Leistungsbezug des ALG II sollen die gestiegenen Preise durch Einmalzahlungen und Heizkostenzuschüsse ausgeglichen werden und gegebenenfalls die vollständige Übernahme der Heizkosten beantragt werden können. Hingegen gilt es einkommensarme Haushalte, die bisher keine Leistungen erhalten, auf die Möglichkeiten der Kostenübernahme durch Jobcenter beziehungsweise das Sozialamt hinzuweisen.3 Fachstellen zur Prävention von Wohnungsnotfällen und Vermittlung von Wohnraum sollten flächendeckend gefördert werden.
Die Kirchliche Wohnrauminitiative "Gemeinsam für mehr Wohnraum" des Diözesan-Caritasverbandes Rottenburg-Stuttgart und der Katholische Männerfürsorgeverein München (KMFV) suchen gezielt nach günstigem Wohnraum für armutsbetroffene Menschen. Sie akquirieren in Kooperation mit anderen kirchlichen und regionalen Partnern leerstehenden Wohnraum. Dabei sind zum Beispiel auch Immobilien, die der Kirche gehören, interessant. Sie machen Vermieter:innen ausfindig, vermitteln oder mieten Wohnraum an, der wiederum an Menschen in schwierigen Lebenslagen weitervermietet wird. Die Caritas mietet zum Beispiel für zwei Jahre Wohnungen an und vermietet sie für diesen Zeitraum unter - mit dem Ziel, dass danach zwischen Untermieter:in und Vermieter:in ein direktes Mietverhältnis entsteht. Die Fachstelle des KMFV begleitet die Mietenden und Vermietenden während des gesamten Mietprozesses. Hierzu verfügt die Fachstelle über eine eigene soziale Hausverwaltung, die als Ansprechpartnerin für Mietende wie für Vermieter:innen auch nach Mietvertragsabschluss da ist.
Für Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen ist eine eigene Wohnung erst einmal das Wichtigste. Aber viele brauchen weiterhin Ansprechpartner:innen und Beratung.
Wohnprojekte für unterschiedliche Zielgruppen
Bei "Housing First für Frauen" des SkF Berlin erhalten von Wohnungslosigkeit betroffene Frauen zunächst schnellstmöglich eigenen Wohnraum mit eigenem Mietvertrag; darüber hinaus bietet ihnen der SkF bei Bedarf weitere Beratung und Unterstützung an.
Der SkF Lingen bietet in neun separaten, unterschiedlich großen Wohnungen eine betreute Wohnform an, in der alleinerziehende Frauen mit Kindern, schwangere Frauen und Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen die Möglichkeit haben, ihr Leben in einer geschützten und begleiteten Umgebung zu festigen. Die pädagogische Hilfe im Haus ist als Grundberatung zu verstehen. In offenen Sprechstunden finden die Frauen sofort Hilfe für die verschiedensten Lebensbereiche. Mit gruppenpädagogischen Angeboten können sie ihre Isolation überwinden und einen angemessenen Umgang mit den anderen Bewohnerinnen erlernen.
Im Projekt Florastraße "Wohnen - Begegnung - Beschäftigung" des Sozialdienstes Katholischer Männer (SKM) Köln entstanden Wohnungen für 37 sozial benachteiligte Menschen mit Wohnberechtigungsschein. Je nach Problemlage können die Mieter:innen durch den SKM Hilfeverbund unterstützt werden, etwa beim selbstständigen Wohnen oder durch eine ambulante Begleitung bei sozialen Schwierigkeiten. Diese Projekte zeigen, dass es mehr braucht als nur neue Wohnungen: Wohnungswirtschaft, Staat, Kirche, Wohlfahrtsverbände und Zivilgesellschaft müssen zusammenarbeiten, um neue Lösungen zu finden. Der größte Teil aller Wohnungen in Deutschland wird durch Privatpersonen vermietet. Hier sind Anreize und Sicherheiten nötig, damit diese vermieten.
Neue Wohngemeinnützigkeit und gezielte Förderung
Eine stärkere Förderung und politische Maßnahmen sind erforderlich, damit in Bestandsimmobilien und auf bebaubaren Flächen Wohnprojekte für unterschiedliche Zielgruppen zu bezahlbaren Preisen statt teurer Eigentumswohnungen entstehen. Hierzu bedarf es einer neuen Wohngemeinnützigkeit und gezielter Förderung neuer Wohnformen. Diese könnten zum Beispiel auch eine attraktive bezahlbare Alternative für Menschen nach der Familienphase darstellen, so dass Häuser und große Wohnungen im Bestand frei werden. Für Menschen mit besonderen Belastungen müssen Fördermittel für Wohnungen inklusive Betreuungsleistungen zur Verfügung gestellt werden. Um all diese
Ideen voranzutreiben und angesichts der steigenden Kosten Wohnungsnotfälle zu verhindern, sind flächendeckend Fachstellen erforderlich. Diese könnten interdisziplinär mit Sozialarbeiter:innen und Immobilienkaufleuten besetzt sein, um Wohnungsnotfälle zu verhindern, aber auch bezahlbaren Wohnraum zu akquirieren sowie in Kommunen und Landkreisen neue Projekte und Kooperationen anzustoßen.
Zehn Fakten zur Wohnungspolitik
1. Wohnraum für armutsbetroffene Menschen kann nur gemeinsam geschaffen werden: Es braucht konkrete Maßnahmen von Wohnungswirtschaft, Staat, Kirche, Wohlfahrtsverbänden und Zivilgesellschaft.
2. Wohnungslose und Wohnungssuchende sind Expert:innen in eigener Sache: Sie müssen an der Entwicklung wohnungspolitischer Konzepte beteiligt werden.
3. Prävention ist das beste Mittel gegen Wohnungslosigkeit: Der Verlust der Wohnung kann durch Fachstellen verhindert werden.
4. Mieten, Energie und Lebensmittel werden immer teurer; immer mehr Menschen verschulden sich. Überschuldung führt zum Wohnungsverlust.
5. Sanktionen für Bezieher:innen von SGB-II-Leistungen können zum Wohnungsverlust führen - vor allem, wenn sie Unterkunfts- oder Energiekosten betreffen.
6. Verantwortungsvoller Umgang mit Wohnraum ist erforderlich: Viele Wohnungen stehen leer oder werden als Ferienwohnung genutzt, obwohl sie dringend gebraucht werden.
7. Wo neu gebaut oder saniert wird, entsteht zu wenig Wohnraum für Menschen mit geringen Einkommen: Kommune, Staat und Kirche als Eigentümer müssen sich selbst verpflichten, das zu ändern.
8. Verstärkte Förderung neuer Wohnformen und Wohnprojekte kann Fehlentwicklungen entgegensteuern: Wir brauchen eine neue Wohngemeinnützigkeit, mehr genossenschaftliche Wohnformen und Bauweisen, die den sozialen Zusammenhalt stärken.
9. Wohnungslose brauchen sofort Wohnungen: Aber weitere Hilfen müssen angeboten werden.
10. Besonders belastete Menschen brauchen Wohnungen, die bedarfsgerechte Hilfen einschließen:
Fördermittel für Wohnungen inklusive Betreuungsleistungen sind nötig.
Anmerkungen
1. www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Wohnungslosigkeit/_inhalt.html
www.bagw.de/de/themen/zahl-der-wohnungslosen/uebersicht
2. www.zensus2022.de/DE/Wer-wird-befragt/Gebaeude_und_Wohnungszaehlung.html
3. Vgl. Thomé-Newsletter 30/2022 vom 5. August 2022, Punkt 4.: Kampagnen zum Thema Heizkosten- und Betriebskostenjahresabrechnungen für Leistungsbeziehende und Nicht-Leistungsbeziehende sind jetzt erforderlich.
Bürgergeld nicht ausreichend finanziert
Den Perso immer parat
Angebote für Wohnungslose
Selbstständiges Wohnen bleibt ein Traum
Commitment sichert Qualität
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