Die Wende: „Jetzt geht die Post ab“
Als die Berliner Mauer noch stand, versammelten sich bei jährlichen Plenarkonferenzen meine rund 150 "Fürsorger"-Kolleg(inn)en aus der ganzen DDR. Das waren sie dann schon fast alle, die Sozialprofis der Caritas: die Dekanatsfürsorger(innen) und jene aus der Behindertenarbeit. "Sozialarbeiter" war bis zur Wende ein Unwort, glaubte doch der Arbeiter- und Bauernstaat, das Sozial(istisch)e selbst im Griff zu haben. Caritas ging nur unter dem Dach der Kirche, keine eigene Verbandsstruktur, keine Werbung nach außen.
Das offene Beratungsangebot der Caritas in einem Dekanat war "Wald- und Wiesenfürsorge", also nicht spezialisiert. Ein Trabant, etwa vom Bonifatiuswerk finanziert über die DDR-Handelsfirma Genex - bei der es gegen D-Mark begehrte Ostprodukte gab -, und manchmal ein eigenes Büro waren die Ausstattung, so auch bei mir als Dekanatsfürsorger in Frankfurt an der Oder. Diese offenen Angebote sollten wenigstens symbolischer Ausdruck dafür sein, dass der Kirche die "Armen und Schwachen" nicht egal sind - ganz gleich, ob gerade nur fünf (Ost-)Mark fehlten oder der gesamte Mut zum Leben.
Die Qualifizierung für solch soziale Arbeit geschah in Eigeninitiative. Meine Frau und ich etwa machten eine Ausbildung zum/zur Ehe-, Familien- und Lebensberater(in) und haben dieses Angebot dann mit ökumenischer Unterstützung in Frankfurt/Oder installiert. Zudem nahm ich an einer von der Zentralstelle des Deutschen Caritasverbandes in (Ost-)Berlin organisierten größeren "Weiterbildung für caritative Gemeindearbeit" teil. In der vorherigen Ausbildung im kirchlichen "Seminar für den kirchlich-caritativen Dienst" in Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) waren wir auf zwei Einsatzmöglichkeiten vorbereitet worden - auf den pastoralen Dienst in einer Gemeinde und auf soziale Dienste in der Caritas. Zum Fächerkanon gehörten auch Wirtschaftskunde und Soziologie. Da wurden uns Gedanken nahegebracht, die in der DDR-Volksbildung nicht vorkamen und von denen wir nicht wissen konnten, dass sie für uns einmal wichtig werden sollten - ab 1990. Von den neuen Aufgaben und Strukturen, die durch die Wende die bislang vereinzelten Caritasvertreter(innen) geradezu überfluten würden, hatten wir nur vage Vorstellungen, mussten dies aber Anfang der 1990er rasch bewältigen.
"Jetzt geht die Post ab, jetzt wird der Markt aufgeteilt", hörten wir 1990 von wohlmeinenden Westkolleg(inn)en. Doch woher die Kriterien nehmen für die neuen Arbeitsfelder, woher einheimische Fachleute? Der "Brückenkurs" des Deutschen Caritasverbandes und der Katholischen FH Nordrhein-Westfalen in Köln führte Fürsorger(innen) für ein 240-Stunden-Programm "Rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Sozialarbeit/Sozialpolitik 1990/1991" zusammen. Hinter den Kulissen handelten die Verbandsführungen mit der Kultusministerkonferenz aus, dass wir so die "Gleichstellung" mit Fachhochschulabsolvent(inn)en der Sozialen Arbeit bekamen. Diesen Status hatte in Frankfurt/Oder 1993 außer mir nur die Kollegin von der Diakonie.
Die Zentralstelle des DCV - Klara Ullrich1 - organisierte im Sommer 1990 für die in der Straffälligenhilfe engagierten Fürsorger ein Treffen mit dem SKM in Hannover, um Unterstützungsmöglichkeiten auszuloten. So konnte ich vier Wochen beim SKM in Viersen hospitieren, untergebracht in einem Wohnprojekt für Haftentlassene. Die unkomplizierte Unterstützungsbereitschaft (ohne erst SKM-Filialen gründen zu müssen) tat gut. Als wir im Auftrag des Jugendamts Frankfurt (Oder) soziale Trainingskurse anbieten sollten, wurde ich wegen konzeptioneller Unterstützung an den SKM in Augsburg vermittelt. Die machten so etwas, bekamen es auch bezahlt - sie hatten aber nie eine Konzeption dafür vorlegen müssen: "Wenn ihr in Frankfurt die dann erstellt haben werdet - bitte an uns schicken! Jetzt faxt zusammen, was zusammengehört."
Anmerkung
1. Vgl. Kurzlink: https://bit.ly/3DoCO6L
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