Dabei sein ist alles
Seit geraumer Zeit versuchen Kommunen und freie Träger, Sozialräume inklusiv zu gestalten. Dabei reicht es jedoch nicht mehr aus, lediglich zu fordern, dass bestimmte Orte barrierefrei sein sollen. Vielmehr ist die Idee der "Kommune für alle" entstanden. Teilhabe ist das neue Schlagwort. Nicht selten liest und hört man die Forderung: Jeder soll an allem gleichberechtigt teilhaben können. Damit gehen unweigerlich die Fragen einher: Wie kann das gehen? Was muss getan werden? Wer ist verantwortlich? Bevor diese Fragen bezüglich der Umsetzung geklärt werden, sind jedoch grundlegende Aspekte zu analysieren. Denn so gut "gleichberechtigte Teilhabe für alle" klingt - zuvor ist zu prüfen: Wer ist überhaupt "alle"? Und ist das überhaupt möglich?
Um hier Antworten zu finden, muss zunächst aus analytischer Sicht die Frage gestellt werden, wie so ein Sozialraum funktioniert.
Was ist ein Sozialraum und wie funktioniert dieser?
Räume sind nicht einfach da. Man kann zwar sagen, dass man sich in einem Raum befindet - dieser ist auf ein gewisses Gebiet begrenzt. Nun sind jedoch bei genauer Betrachtung diese Grenzen unscharf.1 Menschen leben zwar in einer Kommune, manche pendeln allerdings zum Beispiel zum Arbeiten hinaus, andere wiederum hinein. Vieles passiert in einer Kommune, was nicht auf diese begrenzt ist. Letztlich reicht es also nicht aus, Raum über physische Grenzen zu definieren.2 Wenn wir von Sozialraum sprechen, rücken wir damit explizit auch das Soziale in den Vordergrund. Was passiert in einem Raum? Wie wird dort gelebt? Wie fühlt es sich an, dort zu leben, Zeit zu verbringen, Dinge zu tun? Es geht also um die soziale Ebene, denn diese bedeutet letztlich Teilhabe. Die Fragen, die sich diesbezüglich ergeben: Was ist Teilhabe? Wer hat teil und wer nicht?
Drei Dimensionen sind bei Teilhabe von Bedeutung
◆ Einmal ist es die Dimension der Zugänge und Zugangsmöglichkeiten zu Räumen. Wer wird zu Räumen zugelassen und wer nicht? Dabei reicht es nicht aus, zu schauen, ob ein Raum physisch barrierefrei ist. So ist beispielsweise das Kino gegebenenfalls zwar für einen Rollstuhl zugänglich, jedoch kann auch der Eintrittspreis eine Barriere darstellen oder das Programm ist an diesem Tag für eine geschlossene Gesellschaft, für die keine Zugangsberechtigung vorliegt. Es geht in dieser Dimension also auch um die Frage: Welche Qualifikationen, bestimmte Zugangsberechtigungen oder (finanzielle) Ressourcen werden benötigt?
◆ Auch die Dimension des "Normalen" kann als Barriere wirken. Welches Verhalten ist im Raum üblich, anerkannt und tolerabel? Dies wird entlang sogenannter Sittlichkeitsnormen festgelegt. Im Restaurant ist es beispielsweise üblich, bestimmte Kleidungsnormen und Tischmanieren einzuhalten (wie mit Messer und Gabel zu essen). Ist zum Beispiel das eigenständige Essen nicht oder nur begrenzt möglich, kann die Sittlichkeitsnorm nicht umfänglich eingehalten werden. Es kommt zur Erfahrung einer Art "Besonderung" (beispielsweise durch mitleidige Blicke, Schamgefühl), das unangenehm sein und zu einem (Selbst-)Ausschluss führen kann, indem Restaurantbesuche vermieden werden. In dieser Dimension geht es auch um die Frage, was im Raum zugelassen ist zu sagen (und was nicht). Welches bestimmte (verbalsprachliche) Ausdrucksvermögen wird gefordert?
◆ Dies verweist unmittelbar auf die Dimension des Sprechenden. Wer darf sich im Diskurs äußern und wird gehört? Dabei geht es auch um die Frage, wie viel Gewicht dem Wort der jeweiligen Person beigemessen wird. So haben beispielsweise Menschen mit geistiger Behinderung seit dem Jahr 2019 uneingeschränktes Wahlrecht, bekleiden jedoch weiterhin keine politischen Ämter. Die Mechanismen der jeweiligen Dimensionen regulieren, wer in welcher Weise an welchem Raum teilhat beziehungsweise teilhaben darf.3 Entlang der damit einhergehenden Exklusionspraxen beziehungsweise Barrieren vollzieht sich Behinderung als Praxis, indem der Zugang zu sowie die Möglichkeit, in diesem Raum zu "sprechen", behindert werden.
Sich den Sozialraum aneignen - oder auch nicht
Bei der Frage nach Teilhabe(-barrieren) geht es vor allem um den Zugang zu Orten im Sozialraum. Wird dieser Zugang für bestimmte Personen erschwert, eignen sich diese den Ort als "Territorium der Anderen"4 an. Eine (Mit-)Gestaltung des Raumes ist nicht möglich, die Teilhabe eingeschränkt und es kommt zu einem Ausschluss vom jeweiligen (Sozial-)Raum. Zugangsbarrieren von Raum zeigen sich in ganz unterschiedlichen Bereichen und in je individuellen Ausprägungen: Wenn der öffentliche Personennahverkehr von Menschen mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf nicht einschränkungslos genutzt werden kann - beispielsweise aufgrund komplexer, einsprachiger Fahrpläne oder fehlender Rampen, Aufzüge, sogenannter Blindenleitsysteme. Wenn Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen nicht einschränkungslos am Arbeitsleben teilnehmen können - beispielsweise aufgrund fehlender Teilhabe an Arbeitsmarkt(-politik), Vorurteile von Arbeitgeber:innen oder Kolleg:innen oder der Eingebundenheit in das Netz der Behindertenhilfe. Wenn der Freizeitbereich nicht einschränkungslos genutzt wird - beispielsweise aufgrund fehlender (inklusiver) Freizeitangebote oder teils ablehnender und pauschalisierender Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung und vielem mehr.
Doch nicht nur in eingeschränkten (physischen) Zugängen gibt es Barrieren.5 Denn Zugang ist nicht gleichbedeutend mit Teilhabe. Erst wenn die Personen, wie oben dargestellt, als "sprechend" im Raum subjektiviert werden, können auch Aneignungspraxen vollzogen, kann dadurch Teilhabe generiert werden. Inklusion bedeutet in diesem Zusammenhang demnach nicht nur, barrierefreie Zugänge zu schaffen, sondern auch die Ermöglichung von Teilhabe durch das Sich-Aneignen des Sozialraums. Zur Dekonstruktion von Barrieren ist eine kritische Infragestellung notwendig; darunter wird Inklusion letztendlich verstanden: Inklusion ist die Dekonstruktion von Diskursteilhabebarrieren.
Soziales Miteinander durch inklusive Sozialraumkonzepte
Um sich Teilhabe-Räume aneignen zu können, braucht es Verbundenheit und Zugehörigkeit, die durch soziales Miteinander entstehen. Teilhabe wird demnach als soziales Moment hervorgebracht. Dies ist sowohl bei der Diskussion als auch der Schaffung von inklusiven Sozialraumkonzepten zu beachten. Erst wenn sich Menschen - unabhängig eines zuvor zugewiesenen Behinderungsstatus - Raum als teilhabend aneignen können, vollzieht sich Inklusion. Dies gilt für die verschiedensten Bereiche (Freizeit, Arbeit und vieles mehr) sowie für unterschiedlichste Begegnungsräume. Im Rekurs auf die oben dargestellten Teilhabedimensionen von Räumen erfordert die Aneignung als teilhabend an einem (Sozial-)Raum demnach
◆ Zugang zum Raum,
◆ ein (implizites) Wissen über innerräumliche Ausgestaltung und deren Regeln,
◆ die Subjektivierung als sprechend.
Sozialraum wird nicht (so sehr) über geografische Grenzen, sondern vor allem über die mögliche Aneignung bestimmter Orte als Handlungsräume definiert. Dies korrespondiert mit einem Verständnis von Inklusion als Praxis. Dabei wird Inklusion als eine Praxis verstanden, die in der Aushandlung und im sozialen Miteinander erfolgt und sich nicht auf einen bestimmten Ort begrenzt. Inklusion vollzieht sich hierbei auch als Kritik, weil sie Diskursteilhabe-Barrieren dekonstruiert und somit letztlich auf eine Veränderung gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Praxen abzielt. In Bezug darauf, Teilhabe im Sozialraum zu ermöglichen, vollzieht sich Inklusion demnach unter anderem darin, dass nicht nur die Frage nach dem Abbau von Teilhabebarrieren gestellt wird, sondern auch, wie sich Personen im Sozialraum einbringen und sich in diesemdadurch als teilhabend erleben können.
Anmerkungen
1. Trescher, H.: Ambivalenzen pädagogischen Handelns. Reflexionen der Betreuung von Menschen mit "geistiger Behinderung". Bielefeld: transcript, 2018. Trescher, H.; Hauck, T.: Raum und Inklusion. Zu einem relationalen Verhältnis. In: Zeitschrift für Inklusion 11 (4), 2017.
2. Trescher, H.; Hauck, T.: Sozialraum und Inklusion - Ethnographische Sozialraumbegehungen zur raumbezogenen Rekonstruktion von Teilhabe und Ausschluss. In: Sozialraum.de 13 (2), online, 2021. Trescher, H.; Hauck, T.: Inklusion im kommunalen Raum. Sozialraumentwicklung im Kontext von Behinderung, Flucht und Demenz. Bielefeld: transcript, 2020 b.
3. Siehe ausführlich Trescher, H.; Hauck, T.: Behindernde Räume. Aneignungs- und Teilhabepraxen im Sozialraum. In: Gemeinsam leben 28 (2) 2020 a., S. 105-113.
4. Trescher, H.; Hauck, T., 2017, a.a.O.
5. Siehe ausführlich Trescher, H.: Barriere. In: Kessl, F.; Reutlinger, C. (Hrsg.): Sozialraum - eine elementare Einführung. Wiesbaden: Springer VS, 2021, S. 451-461.
Literatur
Trescher, H.: Behinderung als Praxis. Biographische Zugänge zu Lebensentwürfen von Menschen mit "geistiger Behinderung". Bielefeld: transcript, 2017.
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