Brauchen wir wirklich jetzt eine neue Grundordnung?
Nach der Missbrauchsdebatte ist vor der Missbrauchsdebatte1, so könnte man aktuell denken. Die Menschen kehren in immer größeren Zahlen den beiden großen christlichen Kirchen den Rücken. Nicht wenige reagieren mittlerweile abwehrend bis wütend auf die Kirche und kirchliche Themen und erleben offenbar schon einfach die Existenz der Kirche als übergriffig und bedrohlich für ihre persönliche Autonomie.
Andererseits suchen Menschen in Zeiten gesellschaftlicher Erschütterungen wie Flüchtlings- und Coronakrise und eines neuen Krieges in Europa intuitiv nach einem Halt, der ihnen hilft, erschreckende Nachrichten zu verkraften. Diesen suchen sie aber ganz offenbar nicht oder zunehmend seltener in kirchlichen Kontexten, sondern in Form individueller Spiritualitäten, die hochgradig pluralisiert und individualisiert sind. Die Kirchen, natürlich auch die katholische Kirche, könnten für die Menschen in der Gegenwart eine sehr positive Rolle spielen, wenn sie ihnen wirklich helfen würden, Halt zu finden und ein gelingendes Leben zu führen. Das glückt den Kirchen aber leider zu selten. Der Missbrauchsskandal, die kirchliche Sprache und ihre Selbstzufriedenheit, ihre Unberührtheit von den Fragen der Zeit tragen zum gewaltigen Glaubwürdigkeitsverlust der christlichen Botschaft bei.2 Hatten die Kirchen lange eine gesellschaftskritische Rolle und konnten der Gesellschaft ein Versagen in Themen wie Umweltschutz, wirtschaftlicher oder sozialer Gerechtigkeit vorhalten, so hat sich das Bild nun umgekehrt. Es scheint so, dass die Gesellschaft der Kirche den Spiegel ihrer eigenen Werte vorhält und sie fragt: Bist und tust du noch das, was deine Botschaft von dir verlangt?
Diskriminierung und Fachkräftemangel drohen
In diese Zeit fällt die aktuelle Diskussion um eine neue Grundordnung für kirchliche Mitarbeitende. Es soll nun, auch in pastoralen Berufen, keine Rolle mehr spielen, welche sexuelle Ausrichtung jemand hat. Fraglich ist derzeit aber, wie mit dem Thema Kirchenaustritt umgegangen werden soll. Geht gar nicht, sagen die einen. Geht schon, wenn jemand zu den christlichen Werten steht, sagen die anderen. Im Hintergrund drohen schon die großen Themen Diskriminierung, Fach- und Arbeitskräftemangel und eine weitere innere Abkehr von der Kirche.
Aber welchen Geist atmet eigentlich die alte Grundordnung, und, mit einigen Abstrichen, auch die neue? Ist das nicht nach wie vor ein Denken, das davon ausgeht, dass die Kirche oder der kirchliche Arbeitgeber sich für berechtigt hält, die innere Haltung von Menschen zu beurteilen und zu unterscheiden zwischen guter und schlechter Haltung? Und ist es nicht immer noch so, dass daraus juridische Konsequenzen folgen sollen, die zwar nicht mehr so drastisch sind wie im Mittelalter, aber immerhin bis zur Kündigung reichen können? Und was soll daraus anderes erwachsen als weiterhin ein Klima der Angst und der Lüge? Kann der kirchliche Arbeitgeber ein solches Klima wirklich wollen? Und genauer gefragt: Steht ihm theologisch betrachtet überhaupt die Rolle zu, in die er sich mit der alten und einer möglichen neuen Grundordnung begibt?
Theologisch nicht sachgerecht
Folgt man der Spiritualität der Menschen, so zeigt sich, dass die Rolle, die sich die Kirche und der kirchliche Arbeitgeber in der Grundordnung zulegen, theologisch nicht sachgerecht ist.
Der Glaubwürdigkeitsverlust der Kirchen führt zu einer gewaltigen Pluralisierung individueller Spiritualitäten nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch unter den Mitarbeiter:innen der Caritas. Empirisch lassen sich sehr unterschiedliche Formen tatsächlich gelebter persönlicher Werthaltungen beschreiben. Das bezieht sich auch darauf, wie sie Menschen individuell Kraft geben und dass sie Teil ihrer Professionalität sind. Das empirisch beobachtbare Spiritualitätsverständnis der Menschen ist immer sehr individuell und wird als etwas erlebt, für das Menschen Autonomieschutz beanspruchen.3 Gefragt ist daher ein Verständnis von Spiritualität, das der Natur des Menschen zu eigen ist und sich nicht durch die Kirche vermittelt.
Folgt man dem Soziologen Hartmut Rosa (*1965) und seiner berühmt gewordenen Resonanztheorie, so leben wir in der Moderne in einer Zeit ständiger Beschleunigung. Rosa gebraucht einmal das Bild von nach unten fahrenden Rolltreppen, auf denen wir nach oben laufen müssen. Sobald wir stehenbleiben, verlieren wir an Höhe. Unser typisches Engagement als Menschen zielt nach Rosa auf die Vergrößerung unserer Reichweite, auf die Vervielfachung unserer Möglichkeiten und auf die Unterwerfung der Welt. Wir übersehen dabei nur allzu leicht, dass wir mit dieser Welt in vielerlei Hinsicht physisch und sozial verbunden sind. Wir würden nach Rosa die Beschleunigung zwar nicht stoppen, aber uns dennoch in ihr stabilisieren können, wenn wir uns dieses Verbundenseins bewusst werden könnten. Eine resonante Beziehung zum Anderen, die das Gegenüber sein lässt, wie es ist, und die eine Begegnung zulässt, die beide dennoch berührt, kurz: Resonanz, wäre der Weg zu einem gelingenderen Leben.
Interessant ist, dass einer der berühmtesten alten spirituellen Lehrer des Christentums, Meister Eckhart (circa 1260-1328), im Kern etwas ganz Ähnliches lehrt wie der Soziologe Rosa: Auch nach Eckhart sind wir Menschen im Grund unserer Seele mit allem verbunden. Nach Eckharts Verständnis wurzelt unser aller Sein in einer Kraft, die uns im Leben hält. Diese Seinskraft trägt den Namen Gott, und indem wir sind, sind wir damit einbezogen in Gottes Wirken.
Die Haltung ist in der Sozialen Arbeit entscheidend
Spiritualität, so könnte man mit Hartmut Rosa und Meister Eckhart daher formulieren, ist unser Verbundensein mit dem Anderen; Christen nennen das "Gott".
Welche Bedeutung hat das aber für die Soziale Arbeit? Sind die Debatten über das richtige Verständnis des Christseins, die Rolle der Kirche in der Gesellschaft und die Ursachen des Missbrauchsskandals nicht Themen, die vielleicht für besonders stark identifizierte Caritas-Kolleg:innen interessant, aber für die tägliche Arbeit eigentlich nebensächlich oder gar irrelevant sind?
Bei genauerem Hinsehen muss man sagen: Nein! Wenn man sich mit dem fachlichen Selbstverständnis professioneller Sozialer Arbeit auseinandersetzt, dann stellt man fest, dass bei allem Methoden- und Erfahrungswissen dennoch die Haltung der einzelnen Sozialarbeiter:innen zu ihrem Gegenüber die alles entscheidende Rolle spielt, ob sie Menschen nur aus einem instrumentellen Denken heraus begegnen oder sich aus einem Wissen fundamentaler Verbundenheit heraus dem Anderen auch immer ganzmenschlich öffnen. Gerade dieses Verbundensein macht den Kern der helfenden Beziehung aus. Ohne diese konkrete Spiritualität könnte der Job auch von einem qualitätsregulierten Administrationsroboter ausgeführt werden. Der Mensch als Mensch wäre dabei verloren.
Gleiches lässt sich für Führung, Organisationsentwicklung, ja sogar für die Rolle der sozialen Organisation innerhalb der Gesellschaft zeigen: Ohne eine innere Haltung, die mehr ist als professionelles Gehabe, ja sogar mehr als eine ehrlich erworbene Wertehaltung, die im Kern ein wirksam erlebtes Verbundensein mit den anderen ist, wird Führung technokratisch, Organisationsentwicklung beliebig den aktuellen Managementtrends unterworfen und eine durchlässige Gemeinschaft sozial Engagierter zur "Sozialwirtschaft"4.
Individuelle Spiritualitäten fördern
Die Chance einer ehrlichen, weil zeitgemäßen Spiritualität für die Caritas (und für alle kirchlichen Berufe, auch für andere Verbände, eigentlich für alle helfenden Berufe, bei Licht besehen: für die Gesellschaft als Ganze) liegt darin, dass sie nicht nur im Leitbild, sondern im Gefühl der für sie Tätigen ihrem Kern treu bleibt. Im Wissen um sein Verbundensein mit dem Anderen wird der Mensch bescheidener, glücklicher, er bekommt eine neue Wahrnehmung für das Gelingen seines Lebens und manch ein Aufreger verliert an Bedeutung. Die institutionalisierte Kirche und auch die Träger der Caritas können und müssen deshalb auch im eigenen Interesse alles dafür tun, die individuellen Spiritualitäten der Mitarbeitenden zu fördern, von Zeit zu Zeit Foren anbieten, die den Mitarbeitenden ermöglichen, über ihre individuellen Spiritualitäten ins Gespräch zu kommen usw. In ihrer Pluralität liegen gewaltige "Ressourcen für eine dienende Kirche"5.
Vermutlich ist das zurzeit eine, vielleicht auch eine der letzten Chancen für die Kirche und kirchliche Organisationen, glaubwürdig zu bleiben oder wieder zu werden: Menschen, die sich ihr (auch im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses) anvertrauen, möglichst wertschätzend und auch in Krisenzeiten treu und ehrlich zu begleiten. Diese Aufgabe wäre die erste, sie müsste mit voller Energie angegangen werden und sie ist wahrlich riesengroß. Bevor sie nicht sehr befriedigend gelöst ist, macht jede neue Form von Grundordnung keinen wirklichen Sinn. Auch eine neue Grundordnung zerstört nur weiter Vertrauen, wenn sie wieder Menschen verdächtigt und in Angst versetzt.
Oder, anders gesagt: Wir haben schon viel zu viel an Regeln, auch im religiösen Bereich. Wir leisten noch viel zu wenig dafür, Menschen in ihren individuellen Spiritualitäten glaubwürdig zu begleiten.
Anmerkungen
1. Jedes neue Missbrauchsgutachten einzelner Diözesen löst erneut bundesweite Reaktionen aus, als wäre es eine vollkommene Neuigkeit.
2. Vgl. etwa Feddersen, J.; Gessler, P.: Mit schönen Vokabeln vertuschen und drohen; Lepping, N.: Zu bleiben bedarf der Rechtfertigung. Beide in: neue caritas Heft 18/2021.
3. Vgl. Ebertz, M. N.; Segler, L.: Spiritualitäten als Ressourcen für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg: Echter, 2016.
4. Vgl. Groß, M.: Spiritualität der Sozialen Arbeit. Resonanz bei Hartmut Rosa und Sein bei Meister Eckhart als Verbundensein mit dem Anderen. Baden-Baden: Nomos, 2022.
5. Vgl. Endnote 3.
Entlastung schmälert humanitäre Hilfe
Ein Test für die Augenhöhe
Nachhaltigkeit wird zum Grundsatz
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