Was Kinder und Jugendliche während und nach Corona brauchen
Seitdem im Januar 2020 der erste Covid-Fall in Deutschland aufgetreten ist, hat sich das Leben aller Menschen in rasender Geschwindigkeit gewandelt. Auch die Kinder- und Jugendhilfe war in einem bis dahin nicht bekannten Umfang und in einer nie da gewesenen Geschwindigkeit gefordert, tradierte Zugänge zu ihren Adressat(inn)en zu verändern, neue digitale Angebote zu entwickeln und im Hinblick auf Schutzkonzepte, Schließungszwänge und Öffnungsperspektiven neu zu denken und zu handeln.1 Nahe zu alle Fachorganisationen haben sich in der Pandemie positioniert und sowohl die Herausforderungen für die Fachkräfte, insbesondere aber die für die Familien und jungen Menschen, öffentlich gemacht.2 Unter anderem auf den Transferdialogen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ3 ist deutlich geworden, wie schnell auch die Forschung Aktivitäten entwickelt hat, um empirische Antworten auf Fragen zu finden, die bislang gar nicht gestellt werden mussten.
Durchgängig zeigt sich, dass durch Corona soziale Ungleichheitsbedingungen noch deutlicher hervorgetreten sind. Unverkennbar ist, dass die Herausforderungen der Pandemie zwar alle Menschen betreffen, manche aber eben ganz besonders. Auch die Möglichkeiten der Bewältigung der Pandemiefolgen sind ungleich verteilt, Zugänge zu sozialen Dienstleistungen für Benachteiligte sind zusätzlich erschwert und die Chancen des Schutzes vor dem Virus sind abhängig von der jeweiligen Lebenssituation.4
Was wir über Familien und junge Menschen in der Pandemie wissen
Insbesondere der Forschungsverbund "Kindheit - Jugend - Familie in der Corona-Zeit" hat einen Einblick in die Lebenswelten und den veränderten Alltag von Familien und jungen Menschen vermittelt.5 Dabei sind die Wahrnehmungen der Familien durchaus unter[1]schiedlich. Äußerungen wie "Ich habe bisher keinerlei Hilfen erhalten. Unverschuldet bin ich so wie andere auch in diese Situation gekommen. Man weiß nicht, wie es weitergehen soll. Nachdem ich bereits unbezahlten und bezahlten Urlaub genommen habe, bin ich am Ende meiner Kräfte, da nicht abzusehen ist, wann die Kindergärten wieder öffnen" stehen Einschätzungen gegenüber, die auf mögliche positive Effekte des Familienlebens im Lockdown verweisen: "Meine Familie profitiert vom Wegfall des Freizeitstresses und der ewigen Hin- und Herfahrerei. Man steht heutzutage mit der ewigen Förderei und dem Hobbymuss so unter Stress. Das kann nur schädlich sein. Für unsere Familie und die Stärkung der Geschwisterbeziehung werde ich Corona ewig dankbar sein. Mal aus dem Hamsterrad auszusteigen ist eine Wahnsinnschance."6
Für rund ein Drittel der befragten Familien haben Geldsorgen in der Pandemie zugenommen, knapp zwei Drittel finden, dass die Sorgen der Familien nicht gehört werden.
Diesen Eindruck teilen sie mit den jungen Menschen. Von ihnen denken fast 65 Prozent, dass sie weder hinsichtlich der Folgen der Pandemie noch in dem, was sie in der Pandemie geleistet haben - sei es im Homeschooling, sei es durch den Verzicht auf soziale Kontakte in der Sorge um die Älteren - wahrgenommen werden.7 Zwar haben 99 Prozent der Jugendlichen ein eigenes internetfähiges Gerät. Die meisten besitzen allerdings ein Smartphone und nicht unbedingt einen Rechner, oder aber die Haushalte verfügen über keine entsprechenden Internetverbindungen und ausreichend Datenvolumen. 72 Prozent der jungen Menschen sind in Sorge, jemanden anstecken zu können. Über 70 Prozent der Befragten haben zu Hause immer oder fast immer jemanden, der ihnen hilft, wenn sie ein Problem haben, was auf den starken familialen Zusammenhalt in der Pandemie verweist. 68 Prozent der Jugendlichen haben Zukunftsängste. 60 Prozent fühlen sich einsam. Ein Drittel der Jugendlichen hat größere finanzielle Sorgen. Das Zitat "Wir Jugendlichen werden doch nur als Schüler gesehen. Wir sollen lernen und lernen und lernen..." bringt am zutreffendsten das Lebensgefühl der jüngeren Generation in der Pandemie zum Ausdruck. Sie wehren sich entschieden dagegen, als sogenannte "Corona-Generation" etikettiert und stigmatisiert zu werden. Vor allem diejenigen jungen Menschen, die sich an "Orten zum Abhängen" sozial austauschen, werden von den Folgen der Pandemie besonders stark belastet.
Die Copsy-Studie kommt in ihrer zweiten Befragungsrunde zu dem Ergebnis, dass diejenigen Kinder und Jugendlichen, die vor der Pandemie gut dastanden, neue Strukturen erlernt haben und sich in ihrer Familie wohlfühlen, auch gut durch die Pandemie kommen. Besondere Konzepte werden demnach für jene jungen Menschen benötigt, die aus Risikofamilien stammen.8
Zusammenfassendes Zwischenfazit
◆ Die Pandemie befindet sich inzwischen im zweiten Jahr - mit erheblichen Ausnahmesituationen für junge Menschen und Familien. Private Ressourcen und Ermöglichungsbedingungen werden entscheidender. Kinder und Jugendliche sind sehr stark auf den familialen Nahraum und ihre Eltern angewiesen. Das hat Auswirkungen auf ihre sozialen Teilhabechancen und ihre Gesundheit.
◆ Anders als im Frühjahr 2020 kann man im zweiten Jahr der Pandemie nicht mehr davon ausgehen, dass die Folgen nur vorübergehender Natur sind oder nur ganz bestimmte Gruppen betreffen. Die Folgen der (sozialen) Kontakteinschränkungen beeinflussen das ganze Leben und die Zukunftschancen der jungen Generation. Übergänge vor allem in den Ausbildungsbereich oder das Hochschulstudium sind unklar, es kommt zu einer schleichen[1]den Entkopplung von Statusübergängen.
◆ Nach wie vor gibt es starke Verunsicherungen bei Eltern und viele besorgte junge Menschen und Kinder. Bei jungen Menschen ist die Frustration aufgrund verpasster Chancen besonders groß (vertane Jugendzeit).
◆ Die Pathologisierung als "Corona-Generation" droht, wenn der Blick einseitig auf gesundheitliche Folgen der Pandemie gelenkt wird. Im Fokus der öffentlichen Debatte stehen "Diagnosen" von Lerndefiziten - Jungsein ist aber viel mehr als Schule. Verkürzte Sichtweisen auf den Alltag der jungen Generation dethematisieren alles das, was Kinder, Jugendliche und Familien in der Pandemie geleistet haben, und blenden wesentliche Aspekte ihrer Lebenssituationen aus.
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesjugendkuratorium, ein Sachverständigengremium der Bundesregierung, im Jahr 2021 eine nachhaltige, inklusive kinder- und jugendgerechte Krisenpolitik auf Basis der Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte junger Menschen gefordert.9
Was die Jugendämter wahrnehmen ...
Wie Jugendämter die Auswirkungen der Corona-Pandemie einschätzen und welchen Handlungsbedarf sie sehen, war Gegenstand einer Befragung der Jugendämter des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism) in Zusammenarbeit mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter.10 Demnach sehen die Jugendämter über alle Lebensbereiche hinweg negative Veränderungen im Leben von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dies allerdings in unterschiedlicher Intensität. Adressatengruppen, die verstärkt in das Blickfeld der Jugendämter rücken, sind junge Menschen mit psychischen Problemen und Suchterkrankungen sowie Familien mit geringen sozialen und materiellen Ressourcen.
Nach Einschätzung von 80 bis 90 Prozent der befragten Jugendämter hat sich die Erreichbarkeit von Jugendlichen zwischen 14 bis unter 18 Jahren, von Familien in prekären Lebenslagen und von psychisch erkrankten Eltern verschlechtert. Insgesamt sehen die Jugendämter einen (starken) Mehrbedarf in allen Leistungsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe sowie in den Teilhabebereichen. Außerdem zeigt sich ein deutlicher Bedarf bei der Kooperation mit der Schule und den Gesundheitsämtern.
Ein Großteil der Jugendämter berichtet, dass neue Gruppen mit Hilfebedarf vermehrt nach Unterstützung und Beratung fragen. Die wesentlichsten Mehrbedarfe werden im Bereich der Schulsozialarbeit, der Jugendsozialarbeit, der sozialen Integration und dem Bereich des Kinderschutzes gesehen.
Rund 90 Prozent der Befragten geben an, dass die Übergänge in das Vereinsleben (zum Beispiel Sport, Kultur, Umwelt, Selbstorganisationen) in einem erheblichen Ausmaß weggebrochen sind. Gerade diese sozialen Orte spielen im Sozialisationsprozess der jungen Menschen eine zentrale Rolle. Dafür steht im Leben junger Menschen oftmals nur ein kurzes Zeitfenster zur Verfügung, das in den letzten beiden Jahren pandemiebedingt fast komplett geschlossen war.
Handlungsbedarfe zeigen sich vor allem im Bereich der niedrigschwelligen Unterstützungsstrukturen sowie alltagsnaher und zugänglicher Bildungsangebote. Zudem wird erwartet, dass der Bedarf intensiver Einzelfallhilfen zunehmen wird.
Insgesamt wird hinsichtlich der finanziellen Ausstattung und der kommunalpolitischen Rahmenbedingungen ein struktureller Handlungsbedarf gesehen. Steigt der Hilfebedarf wie zu erwarten, werden vor allem finanzschwache Kommunen mit hoher Armuts- und Arbeitslosenquote betroffen sein. Gerade in den Kommunen mit dem größten Investitionsbedarf in eine nachteilsausgleichende soziale Infrastruktur werden die wenigsten Ressourcen zur Verfügung stehen.
Für eine erhebliche Anzahl von jungen Menschen und Familien - so die Autor(inn)en der Studie in ihrer zusammenfassenden Ergebniswürdigung - wird sich die Lebenssituation nach der Pandemie verschlechtern. Die sozialen, ökonomischen, schulischen, politischen und gesellschaftlichen Probleme werden erst dann in voller Tragweite sichtbar. Um dramatische Entwicklungen zu verhindern, braucht es in jeder Stadt und in jedem Landkreis neue Konzepte und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe als Post-Corona-Strategie.
Politik muss Konsequenzen ziehen
Auch wenn bisher viel geschafft worden ist und das Ende der Pandemie von allen erhofft wird, gilt es, aus den zurückliegenden Monaten Handlungsbedarfe für eine Kinder- und Jugend(hilfe)politik abzuleiten, die hier nur skizzenhaft angeführt werden können:
◆ Junge Menschen merken den sozialen Unterschied: Der Bedeutungszuwachs regionaler Disparitäten kommt darin zum Aus[1]druck, dass die lokale Infrastruktur und ihre niedrigschwellige Erreichbarkeit den Unterschied im Umgang mit der Pandemie ausmachen.
◆ Kinder- und Jugendpolitik ist nicht krisenfest: Beteiligung ist kein Selbstzweck. Gerade in der Pandemie ist sie als strukturelle Frage der Generationengerechtigkeit über[1]deutlich geworden.
◆ Zugänge der Kinder- und Jugendhilfe sind nicht sekundär: Die Kooperation der Kin[1]der- und Jugendhilfe mit Gesundheitssystem und Schule ist mehr als Schnittstellenmanagement. Gesundheit und Bildung sind ein gemeinsamer fachlicher Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe, der lokalen Gesundheitsämter und der Bildungspolitik.
◆ Kindertagesbetreuung und Ganztagsbetreuung sind mehr als die Ermöglichung von Erwerbstätigkeit: Kitas, Horte und Schulen sind als Orte von und für Kinder und junge Menschen zu stärken.
◆ Kinder- und Jugendarbeit ist mehr als Freizeitbeschäftigung: Angebote der Selbstvergewisserung und Selbstpositionierung junger Menschen müssen gesichert werden
◆ Soziale Entkopplung im jungen Erwachsenenalter: Junge Erwachsene brauchen eine lokale Infrastruktur, die ihre Interessen stärkt, anstatt sie durch konkurrierende Förderstrukturen zu zersplittern.
◆ Ausblendung der Rechte und Belange behinderter junger Menschen: Das Vergessen und das öffentliche Nichtwahrnehmen der Situation behinderter junger Menschen und ihrer Familien in der Pandemie macht deutlich: Inklusion muss jetzt beginnen.
Anmerkungen:
1. Beispiele dafür, wie sie agiert und reagiert hat, finden sich beispielsweise auf den Coronaseiten des Jugendhilfeportals www.jugendhilfeportal.de und auf der Plattform www.forum-transfer.de
2. So hat auch die AGJ mehrere Zwischenrufe und Positionierungen verabschiedet: www.agj.de/positionen/aktuell.html
3. Siehe AGJ, Kurzlink: https://bit.ly/3zdLBEW
4. Böllert, K.: Herausforderungen von und Perspektiven nach Covid-19: Corona geht uns alle an - nur manche ganz besonders! In: neue praxis Heft 2/2020, 50. Jg., S. 181-187
5. Der Forschungsverbund "Kindheit - Jugend - Familie in der Corona-Zeit" setzt sich zusammen aus dem Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Stiftung Universität Hildesheim und dem Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt in Kooperation mit der Universität Bielefeld. Entstanden sind darin bisher die bundesweite Studie JuCo (zweimalige Befragung) sowie die bundesweite Studie KiCo zu den Erfahrungen und Perspektiven von Eltern und ihren Kindern während der Corona-Maßnahmen, siehe dazu Kurzlink: https://bit.ly/3tH6bfS
6. Siehe Universität Hildesheim, Kurzlink: https://bit.ly/3Aej3MQ
7. Siehe Stiftung Universität Hildesheim, Kurzlink: https://bit.ly/3EgpsK1
8. Siehe Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: Copsy-Studie, Kurzlink: https://bit.ly/3tFCjAB
9. www.bundesjugendkuratorium.de/presse/kindheit-und-jugend-in-zeiten-von-corona.html
10. Siehe www.forum-transfer.de , direkter Kurzlink: https://bit.ly/3EkH1bN
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Caritas-Führungspositionen besetzen: sensibel und zukunftsfähig
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