Selbstbestimmt teilhaben heißt auch, mal zum Fußballspiel zu gehen
Bewohner(innen) in Altenpflegeheimen sollen nicht nur gut versorgt werden, sondern auch ein selbstbestimmtes Leben führen können. Aber wie kann das gelingen? Genau das hat sich vor über vier Jahren der Teilhabe-Experte Harry Fuchs auch gefragt und Partner für ein Projekt gesucht. Mit dem Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln (DiCV Köln) und der Hochschule Düsseldorf (HSD) fand er diese. Die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW hat das von Januar 2017 bis Dezember 2019 laufende Projekt "STAP - Selbstbestimmt teilhaben in Altenpflegeeinrichtungen"1 finanziell gefördert.
In dem Projekt wurde ein menschenrechtsbasiertes Verständnis von Teilhabe zugrunde gelegt, wie es auch in der UN-Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck kommt.2 So wurde Teilhabe als der gleichberechtigte Zugang zu und die Mitbestimmung über soziale Umweltbeziehungen verstanden.3 Selbstbestimmung wurde dabei als ein untrennbar mit dem Grundsatz der Teilhabe in Verbindung stehendes Prinzip betrachtet, nach dem die Teilhabe gestaltet wird. Für dieses Verständnis von Teilhabe im Kontext von Altenpflegeeinrichtungen war ferner das Normalitätsprinzip zentral. So ging es hier auch darum, wie Bewohner(innen) Normalität aufrechterhalten können, also die Gestaltung des Alltagslebens innerhalb und außerhalb des Altenheimes mit ihren Lebensgewohnheiten und Interessen selbst bestimmen können. Ganz praktisch heißt das zum Beispiel, ob die Bewohner(innen) über die Tages- und Mahlzeitengestaltung selbst entscheiden können, Kontakte, Freundschaften und Hobbys pflegen, kulturelle Veranstaltungen besuchen und an Festen teilnehmen können. Und wenn der Lieblingsfußballverein gerade in der Nähe spielt, sollte es auch möglich sein, dass der/die Bewohner(in) zu diesem Spiel fahren kann. Oder man möchte vielleicht mit dem Enkel skypen und benötigt dabei Unterstützung.
Im Projekt wurde zuerst untersucht, wie es mit der selbstbestimmten Teilhabe in Altenpflegeheimen derzeit aussieht. Es fanden sich vier Mitgliedseinrichtungen des DiCV Köln, die drei Jahre lang engagiert mitwirkten. Sie gewährten Einblick in die hausinternen Abläufe, Alltags- und Beschäftigungssituationen wurden beobachtet und strukturierte Interviews mit Leitungskräften und Mitarbeitenden sowie Bewohner(inne)n und Angehörigen geführt. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass in der Praxis selbstbestimmter Teilhabe die individuellen Wünsche und Voraussetzungen der Bewohner(innen) sensibel erfasst und berücksichtigt werden sollten und der Erfolg der Teilhabeförderung von vielen Faktoren abhängig ist. Er ist dabei weniger mit besonderen Förderansätzen als vielmehr mit einer bereichsübergreifenden Kultur sowie ihrer regulären Verankerung in Prozessen der Einrichtung verbunden.4
Nach der Erhebungsphase wurde in jeder Projekteinrichtung mit den Verantwortlichen besprochen, was schon gut läuft und welche Ideen es für konkrete Verbesserungen gibt. Zudem erfolgten Gruppendiskussionen mit Leitungskräften und Mitarbeitenden von Einrichtungen anderer Träger sowie eine NRW-weite Online-Befragung von Einrichtungsleitungen.
Arbeitskultur und Arbeitszeitregelungen wichtig
Daraufhin wurde ein Konzept erstellt, das auch andere Einrichtungen nutzen können, die sich für das Thema "selbstbestimmte Teilhabe" interessieren. In diesem sogenannten Musterrahmenkonzept5 (MRK) (s. Abb. 1, links) mit vielen Anforderungen geht es zum einen um notwendige beziehungsweise hilfreiche Strukturen, etwa um "weiche Faktoren" wie die Einrichtungs- und Arbeitskultur oder das Wissen der Mitarbeitenden über Teilhabe. Auch "harte Faktoren" werden angesprochen, wie teilhabefördernde Arbeitszeitregelungen und Abläufe, die notwendige Raum- und Materialausstattung und das Gewinnen und Einbinden von Angehörigen und Ehrenamtlichen.
In den Blick genommen wird etwa auch, wie mit Teilhabewünschen der Bewohner(innen) und deren Selbstbestimmung umgegangen werden sollte, wie Angebote geplant und gestaltet werden sollten, damit sie gewinnbringend sind, Freude bereiten und die Bewohnerinteressen berücksichtigen.
Selbstbestimmte Teilhabe nachhaltig umzusetzen ist nur möglich, wenn die relevanten Konzepte und die konkreten Maßnahmen immer wieder kritisch reflektiert werden und die Zufriedenheit der Bewohner(innen) hinterfragt wird. Das spiegelt sich in der sogenannten Ergebnisqualität wider, zu der ebenfalls Anforderungen formuliert wurden. Es wurden auch alle derzeit in NRW geltenden gesetzlichen Anforderungen zur Teilhabe aus dem Wohn- und Teilhabegesetz und der Durchführungsverordnung berücksichtigt.
"Ein Bewohnerbeirat lädt zum Sektfrühstück ein"
Das Musterrahmenkonzept ist nicht nur ein Anforderungskatalog, sondern enthält auch Gute-Praxis-Beispiele: Im Eingangsbereich einer Einrichtung steht ein Wunschbaum, an den die Bewohner(innen) Wünsche heften können, die dann von den Mitarbeitenden "bearbeitet" werden. Ein Küchenleiter befragt täglich die Bewohner(innen) direkt beim Mittagessen nach ihrer Zufriedenheit mit dem Essen und erhält viel mehr Rückmeldungen als vorher bei der monatlichen Abfrage. Ein Bewohnerbeirat lädt regelmäßig alle Bewohner(innen) zum Sektfrühstück ein, bei dem Anliegen an ihn herangetragen werden können. Die Resonanz ist viel höher als bei der vorherigen klassischen "Sprechstunde".
Die eigene Einrichtung mittels einer Skala einschätzen
Die Anforderungen an selbstbestimmte Teilhabe sowie die Praxis- und Umsetzungsbeispiele sind in der "Leseversion" des MRK zusammengefasst. In einer zweiten "Bearbeitungsversion" besteht zusätzlich die Möglichkeit, den Ist-Zustand für die eigene Einrichtung mittels einer Skala einzuschätzen und zu erläutern. Außerdem können Ideen für Verbesserungsmaßnahmen festgehalten werden. Im dritten Teil des Projektes wurde das MRK in einer Entwurfsversion in einem Altenpflegeheim erprobt. Die Erfahrungen sind in die Endversion eingeflossen.
Mit dem Projekt wurden erstmals in Deutschland Voraussetzungen selbstbestimmter Teilhabe in stationären Altenpflegeeinrichtungen genauer untersucht und mit dem MRK eine praxisnahe Handlungsleitlinie erarbeitet.
Auch wenn sich während der Coronakrise die Rahmenbedingungen in Altenpflegeeinrichtungen für eine Teilhabeförderung gravierend verändert haben beziehungsweise hatten (Abstandsregeln, Besuchseinschränkungen), ist die Ausgangsfrage des Projekts nach der Verwirklichung des Rechts auf selbstbestimmte Teilhabe von Bewohner(inne)n stationärer Altenpflegeeinrichtungen ebenso in Zeiten einer langwierigen Pandemie zu beantworten. Die Studienergebnisse und Anforderungen behalten daher grundsätzlich ihre Gültigkeit.
Anmerkungen
1. Der Abschlussbericht des Projekts "STAP" ist kostenlos abrufbar unter: https://doi.org/10.5771/9783748907664
2. Degener, T.; Diehl, E. (Hrsg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention: Teilhabe als Menschenrecht - Inklusion als gesellschaftliche Teilhabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2015.
3. Fuchs, H.: Zur Reichweite sozialrechtlicher Rahmenbedingungen zur Selbstbestimmung und Teilhabe. In: Garms-Homolová, V.;Kardorff, E. von; Theiss, K.; Meschnig, A.; Fuchs, H. (Hrsg.): Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Pflegebedarf. Konzepte und Methoden. Frankfurt a.M.: Mabuse-Verlag, 2009, S. 19-35.
4. Bleck, C., Schultz, L., Conen, I., Frerk, T., Henke, S., Leiber, S.; Fuchs, H.: Selbstbestimmt teilhaben in Altenpflegeeinrichtungen. Empirische Analysen zu fördernden und hemmenden Faktoren. Baden-Baden: Nomos, 2020.
5. Das Musterrahmenkonzept ist kostenlos abrufbar in der Rubrik "Ergebnisse" unter www.stap-teilhabe.de
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