Soziale Konsequenzen der Pandemie für Schutzsuchende
Gegenwärtig sind circa 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht.1 Mit der Covid-19-Pandemie hat sich die Situation von Geflüchteten weltweit drastisch verändert. Mit ihrem Beginn haben laut UNHCR 167 Länder ihre Grenzen ganz oder teilweise geschlossen, darunter machen 57 für Asylsuchende keine Ausnahme.2 Viele Menschen können ihre Länder nicht verlassen oder in andere einreisen, um Asyl zu beantragen. Faktisch ist damit das Asylgesetz außer Kraft gesetzt.3 Die zivile Seenotrettung ist durch die pandemische Situation zudem stark eingeschränkt, zeitweise sogar gänzlich ausgesetzt.
Häfen wurden mit Verweis auf das Infektionsgeschehen gesperrt und Geflüchtete müssen teilweise wochenlang auf See in Quarantäne verharren - oft werden sie in Länder zurückgeschickt oder überstellt, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit ernsthaft bedroht sind.4
Zweifellos erleben Menschen die Auswirkungen der Pandemie sozial sehr ungleich. Bestimmen Armut, Krieg und Not das Leben, sind die sozialen Konsequenzen verheerender. Die Pandemie ist ein Brandbeschleuniger für soziale Ungleichheit.
Betrachtet man die Situation in den Lagern, dann haben Flüchtende, ob in offiziellen oder inoffiziellen Camps, kaum Möglichkeiten, Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Wasser und Sanitäranlagen sind zudem nur begrenzt vorhanden. Hinzu kommen Platzmangel und unzureichende ärztliche Versorgung.5 Präventionsmaßnahmen können unter diesen Bedingungen kaum effektiv umgesetzt werden.
Infektionsrisiko in Sammelunterkünften deutlich erhöht
Richtet man den Blick auf die gegenwärtige Situation von Geflüchteten in Deutschland, dann lassen sich in mehrfacher Hinsicht Verschlechterungen beobachten. Im Folgenden im Schlaglicht und unvollständig einige zentrale Bereiche:
◆ Infektionsrisiken: Erste empirische Studien belegen, dass Migrant(inn)en und Geflüchtete ein höheres Risiko aufweisen, sich mit Covid-19 zu infizieren als der Rest der Bevölkerung.6 Personen in Unterkünften leben auf engem Raum zusammen, oft ohne Möglichkeit, den erforderlichen Abstand einzuhalten, sie haben keinen angemessenen Zugang zu Masken oder keinen hinreichenden Zugriff zu relevanten Gesundheitsinformationen.7 Das Infektionsrisiko ist in Sammelunterkünften deutlich erhöht, Kollektivquarantänen steigern die Ansteckungsgefahr zusätzlich drastisch. Forscher(innen) raten dazu, andere Maßnahmen zu ergreifen und die Belegung zu entzerren.8 Grundsätzlich gelten für schutzsuchende Menschen die allgemeinen Standards für die Prävention und das Ausbruchsmanagement des Robert-Koch-Instituts.9 Deren Erfüllung ist unter den gegebenen Bedingungen jedoch häufig nicht umsetzbar.
◆ Psychisches Befinden: Die Unterbringung in Sammelunterkünften hat zudem enorme psychische Auswirkungen: (re-)traumatisierende Erfahrungen, Unsicherheiten wegen ausgesetzter Asyl- oder Abschiebeverfahren, Isolation, fehlender Zugang zu Beratung usw. wirken sich belastend auf die Lebensumstände der Menschen aus.10
◆ Arbeitsmarkt- und Bildungsteilhabe: Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Wohnung, Arbeitsmarkt oder im Bildungssektor zeigt sich, dass all diese integrationspolitischen Bereiche von negativen Auswirkungen betroffen sind.11 Bestehende Ungleichheiten haben sich verstärkt. Der Zugang zu Bildungsangeboten und -einrichtungen ist durch die Pandemie deutlich erschwert oder schlicht nicht vorhanden. Insbesondere Kindern und Jugendlichen, die in Sammelunterkünften leben, mangelt es an der Ausstattung, geeigneten Räumlichkeiten und Unterstützungsstrukturen. Strukturelle Benachteiligungen verschärfen sich durch pandemiebedingte politische Regelungen.12 Für junge Menschen mit Fluchtgeschichte ist auch der Zugang zu Praktika oder Ausbildungsstellen eine Herausforderung, ihnen fehlt es häufig an Netzwerken und Informationen.13 Daneben birgt die pandemiebedingte wirtschaftliche Situation für Geflüchtete weitere Unsicherheiten, zum Beispiel aufgrund höherer Arbeitslosigkeitsraten und erschwerter Stellensuche.14
Studien zu den alltäglichen Erfahrungen von Geflüchteten, vor und während der Pandemie, liegen bislang kaum vor.15 Interviews mit betroffenen Personen zeigen die vielfältigen Auswirkungen der Pandemie auf ihre Lebenssituation und ihre Alltagsstrategien im Umgang damit: Es gibt zum Beispiel Berichte über Proteste gegen die Zustände in den Unterkünften und gegen Benachteiligungen und Gewalterfahrungen. Geflüchtete setzen sich so für bessere Bedingungen und Schutzmaßnahmen ein.16 In immer mehr Einrichtungen wird die Unterbringung von Schutzsuchenden seit einiger Zeit verstärkt dezentral organisiert und infizierte Personen werden isoliert, statt ganze Unterkünfte in Quarantäne abzuriegeln.17 Unterstützungsstrukturen sind in dieser Situation wichtiger denn je, jedoch waren viele pandemiebedingt ausgesetzt oder stark eingeschränkt. Gerade im Bereich ehrenamtlicher Helfer(innen) gehören zudem viele zur Risikogruppe, was die Unterstützung zusätzlich erschwerte.18, 19 Dies wirkt sich in vielen Lebensbereichen negativ für Schutzsuchende und deren Teilhabemöglichkeiten aus.
Gesellschaftliche Verunsicherung als Nährboden für Rassismus
Krisensituationen führen zu gesellschaftlichen Verunsicherungen, diese wiederum sind ein Nährboden für Rassismus. Im Frühjahr 2020 mehrten sich beispielsweise rassistische Stigmatisierungen und Anfeindungen von als asiatisch markierten Menschen. Ihnen wurde die Pandemie angelastet.20,21 Rassismus hat viele Gesichter: Auch Geflüchtete und als muslimisch markierte Menschen sind in der Pandemie vermehrt Diskriminierung und Abwehr ausgesetzt. Die Suche nach "Schuldigen" bestärkt auch hier Stereotype und Ressentiments.22 Stigmatisierungen und Isolation trugen auch hierzulande zu einer verstärkten Ausgrenzung bei.
Solidarität darf jedoch nicht exklusiv sein. Die benachteiligte Situation der Geflüchteten muss zur Sprache gebracht werden, um gesellschaftlichen Anfeindungen entgegenzutreten. Es muss alles dafür getan werden, dass geltende Schutzmechanismen effektiv umgesetzt werden und die Rechte der Flüchtenden gewahrt bleiben.
Anmerkungen
1. www.unhcr.org/flagship-reports/globaltrends
2. www.unhcr.org/dach/de/aktuelles/coronavirus
3. Bendel, P.; Bekyol, Y.; Leisenheimer, M.: Auswirkungen und Szenarien der Pandemie auf Integration und Migration in Deutschland. Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2021, www.covid-integration.fau.de
4. Laube, L.; Eisleb, J.: Ausgebremst trotz wachsender zivilgesellschaftlicher Unterstützung. Die zivile Seenotrettung im ersten Jahr der Coronapandemie. FluchtforschungsBlog, 2021; https://blog.fluchtforschung.net/ausgebremst-trotz-wachsen-der-zivilgesellschaftlicher-unterstutzung
5. Pro Asyl: Nach Moria ist vor Moria: Wie die EU ihre Versprechen bricht. 10.11.2020; www.proasyl.de/news/nach-moria-ist-vor-moria-wie-die-eu-ihre-versprechen-brich
6. Hintermeier, M.; Jahn, R.; Biddle, L.; Gencer, H.; Höve[1]ner, C.; Kajikhina, K.; Mohsenpour, A.; Oertelt-Prigione, S.; Razum, O.; Spallek, J.; Tallarek, M.; Bozorg mehr, K.: SARS-CoV-2 bei Migrant*innen und geflüchteten Menschen. Kompetenznetz Public Health COVID‐19: Bremen, 2021; www.public-health-covid19.de/images/2021/Ergebnisse/SARS_COV_2_bei_MigrantInnen_Policybrief_v10.pdf
7. Bendel, P. et al., 2021, S. 32 ff.
8. Hintermeier, M. et al., 2021
9. RKI: Empfehlungen für Gesundheitsämter zu Prävention und Management von COVID-19-Erkrankungen in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Schutzsuchende. 2021; www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/AE-GU/Aufnahmeeinrichtungen.html
10. Bendel, P. et al., 2021.
11. Bendel, P. et al., 2021, S. 3.
12. Fuji, M.; Hüttmann, J.; Kutscher, N.: Bildungsbezogene Herausforderungen für geflüchtete Jugendliche unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie. FluchtforschungsBlog, 2020; https://blog.fluchtforschung.net/bildungsbezogene-herausforderungen-fur-gefluchtete-jugendliche-unter-den-bedingungen-der-covid-19-pandemie
13. Schreyer, F.; Bauer, A.: Ausbildung während der Pandemie: Junge Geflüchtete brauchen mehr denn je professionelle Unterstützung. IAB-Forum 28, 2021; www.iab-forum.de/ausbildung-waehrend-der-pandemie-junge-gefluechtete-brauchen-mehr-denn-je-professionelle-unterstuetzung
14. Janke, C.; Bauer, J.: Corona-Pandemie: Geflüchtete fürchten um ihre Jobs. Mediendienst Integration, 2020; https://mediendienst-integration.de/artikel/gefluechtete-fuerchten-um-ihre-jobs.html
15. Bormann, D.; Huke, N.: Alltag und Protest in Flüchtlingsunterkünften wäh[1]rend der Corona-Pandemie, 2021, www.freitag.de/autoren/gefaehrdetes-leben
16. Bormann, D.; Huke, N, 2021.
17. Bendel, P. et al., 2021: S. 35 f
18. Lauble, A.: Ehrenamt: Wie Corona die Flüchtlingsinitiativen beeinflusst. Mediendienst Integration, 2020; https://mediendienst-integration.de/artikel/ wie-corona-die-fluechtlingsinitiativen-beeinflusst.html
19. van den Berg, C.; Grande, E.; Hutter, S.: Was wird aus dem harten Kern? Auswirkungen der Corona-Krise auf das Engagement für Geflüchtete. Voluntaris, 8 (2) 2020, S. 226-242.
20. Mediendienst Integration: Factsheet "Anti-asiatischer Rassismus in der Corona-Zeit", 2021; https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Factsheet_Anti_Asiatischer_Rassismus_Final.pdf
21. Kooperationsprojekt "Soziale Kohäsion in Krisenzeiten - Die Corona-Pandemie und anti-asiatischer Rassismus in Deutschland". www.dezim-institut.de/das-dezim-institut/die-corona-pandemie-und-anti-asiatischer-rassismus-in-deutschland
22. Bendel, P. et al., 2021: S. 43 f
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